Max Adler

Kausalität und Teleologie

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XIX. Die besondere Dignität
des Naturerkennens


Die Beantwortung der eben gestellten Frage hat nur an das anzuknüpfen, was sich uns zuletzt als Resultat der Erörterung ergeben hatte. Es fand sich ein tiefer Wesensunterschied zwischen der theoretischen und der teleologischen Betrachtung, der nicht bloss die Auffassungsart, sondern direkt die Erkenntnisart betrifft, indem sich streng zwei Gebiete schieden: erstens das der wertfreien denknotwendigen Beziehungen, die gegenüber jedem Widerspruch, gegen jedes skeptische Anfeinden geradeso wie gegen jedes Ignorieren oder Nicht-denken-Sollen unberührt bestehen bleiben, weil sie nur die konsequente Weiterbildung der Denkformen sind, durch welche die ganze Welt um uns her aufgebaut ist, die selbst durch kein Leugnen und keine Böswilligkeit mehr wegzuschaffen ist; und zweitens das der Wertbeziehungen, in welchen eben diese Welt in eine willkürliche bewusste Beziehung zum Ich gesetzt wird und welche daher kein So-urteilen-Müssen, sondern bloss ein So-beurteilen-Sollen ist, sich also stets an den Norm anerkennenden Willen richtet. Wer ein Sollen nicht will, der scheidet sich nur aus aller sittlichen Gemeinschaft und dadurch mittelbar vielleicht auch aus aller menschlichen Gesellschaft überhaupt, da diese ihn entweder wie ein boshaftes schädliches Insekt zertreten oder als einen Wahnsinnigen einsperren wird, falls sie nicht, ist er inkonsequent und harmlos genug, aus seinem Standpunkt eine Lehre zu machen, geneigt ist, ihn als interessanten und anregenden Denker zu schätzen. Nie aber wird demjenigen, der das Sollen leugnet, ein solches aufgezwungen werden können, weder von aussen noch von innen. Ja, gesetzt den Fall, dass die Propaganda der Leugnung des sittlichen Sollens überhaupt biologisch und sozial möglich wäre, so verliert die moralische Gesetzmässigkeit in eben dem Masse nicht nur Geltung, sondern sogar Bestand, als mit den sie nicht mehr anerkennenden, ja sogar nicht mehr kennenden Menschen die moralische Welt selbst in Gedanken wegfällt.

Eine gleiche Aufhebung der Gesetzmässigkeit auch nur für das Denken ist aber gegenüber der Welt als Natur unmöglich. Wenn man oft gemeint hat, dass die Naturgesetzmässigkeit geradeso von ihrem Bekenntnis durch ein denkendes Wesen abhängig sei als die sittliche und dass man so wenig zum Betreiben der Wissenschaft zwingen könne als zum Anerkennen des moralischen Gesetzes, so hat man nicht darauf acht gehabt, das Tertium comparationis dieses Vergleiches festzuhalten. Freilich ist es denkbar, dass jemand auch Wissenschaft nicht will, so wie er das sittliche Gebot nicht anerkennen will; – aber da die Wissenschaft in diesem Zusammenhange nur als die Verarbeitung inhaltlicher Wahrheitserkenntnis in Betracht kommt, also als eine Tathandlung, so bedeutet eine solche Negierung nur, wie bereits gezeigt, einen Akt, der durchaus in der ethischen Sphäre verbleibt und im Grunde nichts anderes ist als eine Leugnung des sittlichen Sollens überhaupt gegenüber einem konkreten Anlasse. Die Negierung des Willens zur Wissenschaft betrifft also nur den sittlichen Willen zum Bekennen, nicht aber die Gesetzlichkeit des theoretischen Erkennens selbst. Und hier klafft nun die Unmöglichkeit jedes weiteren Vergleiches, der ein gleiches oder auch nur ähnliches Verhalten der moralischen und theoretischen Gesetzmässigkeit gegenüber einer sie antastenden Leugnung anschaulich machen wollte. Denn während die Leugnung des Sollens – die selbstverständlich etwas durchaus anderes ist als ein bloss bewusstes Zuwiderhandeln – in dem Masse der eigenen inneren Konsequenz die moralische Gesetzmässigkeit selbst vernichtet, was möglich ist, weil sie ja nur eine solche des Beurteilens, nicht aber des Urteilens ist und mit dem Sollen auch die Idee, nach welcher das Beurteilen allein gesetzmässig erfolgen kann, beseitigt ist, vermag kein Negieren und Abstreiten an die Naturgesetzlichkeit zu rühren, selbst wenn es eine wahnwitzige Agitation von Weltverächtern so weit gebracht hätte, alle Wissenschaft auszulöschen und jeden bewussten Ausdruck dieser Naturgesetzlichkeit, wie ihn unser Denken in den „Naturgesetzen“ formuliert hat, in aller Erinnerung zu tilgen. Auch der halsstarrigste dieser Wahrheitsfeinde könnte mit all seinem Leugnen nicht hindern, dass die Gesetzmässigkeit des Erkennens in ihm wirkend verbliebe, dass, sobald er die Augen aufschlägt, diese Welt um ihn her steht in ihren mannigfachen Erscheinungen, die Räume sich dehnen und die Zeiten sich folgen, die Sonne ihre Bahn zieht, Tag und Nacht wechseln und das ganze ewige Spiel der Natur seinen ihm erkennbaren Gang nimmt wie zuvor. Und wenn er die Augen auch schlösse und Wachs in seine Ohren träufelte, so würde er an dem Schmerze, mit dem er gegen die Dinge im Räume stiesse, noch immer gewahr werden, dass die von ihm geleugnete Gesetzmässigkeit gleichwohl noch da sei. Ja, täte er schliesslich das einzige, was ihm noch übrig bleibt, um alle Zeugen dieser Gesetzmässigkeit zum Schweigen zu bringen – sich aufhängen, – die würgende Gewalt der Schlinge bewiese ihm noch, indem sie ihm zugleich den Dienst einer radikalen Vernichtung aller Bejahung inhaltlicher Wahrheit erweist, die unerbittliche und unfehlbare Wirksamkeit der Naturgesetzlichkeit, unerbittlich und unfehlbar zwar nur im, aber auch bis zur letzten Zitterbewegung des Denkens.

Der Einwand ist wohl nicht zu befürchten, das Vorstehende erweise nur die Notwendigkeit der Gesetzmässigkeit des Naturgeschehens, nicht aber des Naturerkennens. Er ist auf dem Boden der transzendentalen Philosophie ganz irrelevant und nur einem Unvermögen zuzuschreiben, deren Problemstellung zu fassen. Für sie sind Gesetzmässigkeit des Naturgeschehens und Naturerkennens Wechselbegriffe. Die Frage, wie Naturerkennen möglich sei, beantwortet sich nicht anders, als wie Natur als dessen Objekt möglich sei. [1] Wohl aber ist mit der Unzertrennbarkeit der Gesetzmässigkeit des Naturgeschehens von der des Naturerkennens nicht auch schon Naturwissenschaft und Wissenschaft überhaupt als System des Erkennens gegeben, in welch letzterer Form alle Wissenschaft stets soziale Tat, sittliches Werk, praktische Zielsetzung ist.

In dem grundverschiedenen Erkenntnischarakter der Naturgesetzmässigkeit gegenüber der des Sollens ist also ein Element aufgefunden, welches eine von der ersteren geleitete Systematik unseres Wissens scharf von jeder anderen, insbesonders der des Sollens scheidet. Und dieses Element zeigt gerade jene besondere Dignität, die wir am Anfange unserer Erörterung als das logische Merkmal der Wissenschaft im eigentlichen Sinne erkannten und von dem wir nur nicht wussten, ob es nur dem System des Naturerkennens oder auch dem der teleologischen Wertbeziehung, ob es beiden gleichmässig oder vielleicht nur dem letzteren zukomme: nämlich den Charakter des absolut und objektiv gültigen Wissens. Einen solchen Charakter konnten wir nur in der Sphäre des Naturerkennens antreffen und sahen, dass alles, was denselben hier zu stören schien, eben dieser Sphäre fremd war und nur aus der praktischen in sie hinüberragte. Der Begriff der Wissenschaft ist daher im Gebiete des Naturerkennens nicht bloss historisch akkreditiert, er ist hier logisch autochthon.

So ist denn Wissenschaft als ein inhaltsvoller Begriff und nicht bloss als ein tönendes Wort dargetan und in sicherste Abgrenzung von jeder anderen Art sonst noch möglichen systematischen Einsicht gebracht. Es ist nicht willkürliche Benennung mehr, was wir Wissenschaft nennen wollen, sondern es ist eine ganz besondere, gegenüber jeder anderen unvergleichbare Erkenntnisart, die wir so bezeichnen. Und es kann somit gar kein Zweifel bestehen: sofern es vom Menschen und seinem Wirken eine Wissenschaft geben soll und mit dem Worte Wissenschaft ein feststehender, kritisch begründeter und eindeutiger Begriff verbunden wird, so kann sie nicht anders als nach der Auffassungsart des Naturerkennens vor sich gehen. Alles andere Denken über den Menschen ist Ethik oder Aesthetik oder endlich Philosophie, das heisst es mehrt nicht den Bestand eines Systems objektiv gültiger Urteile, sondern es liefert nur Gesichtspunkte der Beurteilung oder Züge zum Bilde einer Weltanschauung.

Mit der erkenntnistheoretischen Zurückführung des Begriffes der Wissenschaft auf eine nach den Prinzipien des Naturerkennens vor sich gehende systematische Verarbeitung unseres Wissens ist eigentlich unsere Aufgabe für diesesmal erbracht, die ja nur dahin gestellt war, den Streit der teleologischen und kausalen Auffassung geschlichtet zu sehen, welcher, anfangs ein Streit der Methoden in der Wissenschaft, zuletzt die Einheit ihres Begriffes völlig in Frage stellte, ja sogar uns zumutete, zugunsten angeblich ganz aparter Geisteswissenschaften die Einheit der Wissenschaften zu sprengen und einen neuen und von dem der Naturwissenschaft durchaus abweichenden Begriff der Wissenschaft zu bilden. Indessen hat sich gezeigt, wie die naturwissenschaftliche Behandlung des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens, deren bedeutende historische Entwicklung wir im Anfang dieser Studie überblickten, in der Tat mit vollem Recht verlangen durfte, den Charakter einer Wissenschaft vom Geistes- und sozialen Leben ausschliesslich für sich zuerkannt zu sehen und mit demselben gleichwertig neben die Naturwissenschaft zu treten, da bei aller Verschiedenheit ihrer inneren Methoden, die sich mit ihrer fortschreitenden Ausbildung sogar noch wird steigern müssen, doch ihr logischer Habitus derselbe ist wie der der Naturwissenschaft: die Gewinnung eines allgemeinen Zusammenhanges des Seins und Geschehens vermittelst Kausalgesetzen, wodurch sie allein zu objektiv gültigen Erkenntnissen absoluter Natur gelangen kann, was, wie wir wissen, das Lebensprinzip aller Wissenschaft überhaupt ausmacht. Die geistig-soziale Welt ebenso als einen Inbegriff von Gesetzen zu entwickeln wie die physische, sie nach der grossen Definition Kants, „Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“, prinzipiell eben auch als Natur betrachten (nur dass sie, wie wir alsbald sehen werden, eine innerhalb des Naturerkennens in besonderer Beziehung zur Auffassung gelangende Natur ist), – das enthüllt unmittelbar die Einheit der Wissenschaft, die jetzt als ein blosser Reflex aus der Einheit ihres Objekts erscheint.

Nun ist auch jene polemische Wendung nicht mehr möglich, mit welcher sonst die teleologische Auffassung dieses auch ihrer Einsicht nicht entgangene Verhältnis beiseite schieben zu können glaubte, indem sie regelmässig mit aller Bereitwilligkeit erklärte, dass es ihr ja ganz und gar nicht beifalle, die Kreise der naturwissenschaftlichen Bemühungen um das geistige und soziale Leben zu stören, sondern dass sie nur darauf aufmerksam gemacht haben wolle, wie alles so zustande Gebrachte eben nur zur Naturwissenschaft gehöre und eigentlich gar nicht verstehe, worauf es bei den Geisteswissenschaften ankäme. Ein solcher Standpunkt lässt sich unserer Erörterung gegenüber deswegen nicht mehr einnehmen, weil diese, müde des fortwährenden Schaukelspieles mit ewig aufgrund abgehenden Begriffen, zuerst zu ermitteln bestrebt war, auf welches Gemeinsame die einander begegnenden Ansichten sich bezogen. Als dieses wurde der Begriff der Wissenschaft erkannt, den jede von ihnen auf einem bestimmten Gebiete einzig zu realisieren vorgab. Also wäre es eine Lächerlichkeit gewesen, die blosse Tatsache der Verschiedenheit der Auffassung, die allerdings unbestreitbar ist, schon als genügende Begründung einer besonderen Geisteswissenschaft neben der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Geisteslebens anzusehen. So musste also der Begriff der Wissenschaft erkenntniskritisch aufgeklärt werden. Und bei dem auf diese Weise kritisch sichergestellten Tatbestande, wonach eine wertfreie, absolut gültige, objektive Erkenntnis sich überhaupt nur im Bereiche des Naturerkennens gewinnen lässt, ist es nunmehr ausser Streit, von welchem Standpunkt allein sich eine wirklich den Namen Wissenschaft verdienende Erkenntnis vom geistig-sozialen Leben gewinnen lässt. Der tiefgehende Unterschied der beiden hier möglichen Betrachtungsweisen wurde also nicht etwa verkannt; im Gegenteil war es unserer Untersuchung darum zu tun, ihn aufs schärfste in seiner ganzen, sich von aller naturwissenschaftlichen Auffassung so von Grund aus abhebenden Eigenart herauszuarbeiten und kenntlich zu machen. Aber freilich war damit erst das Problem gestellt und bestand nun in der Frage nach dem Erkenntniswerte dieser beiden Standpunkte, eine Frage, welche gewöhnlich nicht gestellt wurde, solange noch die an sich gewiss bedeutende Einsicht von ihrer Verschiedenheit schon eine neue Erkenntnis für sich bedeutete, die aber unumgänglich wurde, sobald man darüber hinaus das Gebiet der Wissenschaft bereichern wollte. Für dieses logische Streben also musste sich die blosse Konstatierung einer zweifachen Möglichkeit in der Auffassung des geistig-sozialen Lebens verwandeln in die kritische Unterscheidung der spezifischen Art von Erkenntnis, die innerhalb einer jeden von ihnen zu realisieren möglich war, was weiter zu der entscheidenden Feststellung führte: dass, so wertvolle Einsichten uns auch jene andere, die teleologische Auffassung vom geistig-sozialen Leben verschaffen mag, ja so unentbehrlich sie sogar für die Ergänzung unseres Weltbildes ist, zu dem, was wir selbst noch werden betonen müssen, alle Wissenschaft nur einzelne Züge liefern kann, dennoch die spezifisch-logische Leistung einer Wissenschaft nur durch die kausale Auffassung erbracht werden kann und es daher von dem geistigen und sozialen Leben auch keine andere als Naturwissenschaft geben kann. Und dieses Ergebnis kann selbstverständlich in keiner Weise die durchgängige Eigenart und Existenzberechtigung der teleologischen Auffassung in ihrer Sphäre antasten, so wenig, als die von uns gestellte Frage nach ihrem Erkenntniswerte im Unterschied zur kausalen Auffassung dahin missverstanden werden konnte, als ob es sich um eine Frage, der Wertschätzung handelte. Nur der Anspruch auf Wissenschaft war zu entscheiden, nach welcher Richtung wir glauben dargetan zu haben, dass, wenn die Teleologie auf ihre Weise uns das geistig-soziale Leben in sogenannten historischen Wissenschaften verarbeitet darlegt, als Kulturwissenschaft uns den Wert des Lebens eröffnet oder den Sinn des geschichtlichen Werdens verstehen zu lassen versucht, überall dann in dieser Anwendung dem Worte Wissenschaft alles fehlt, was einen wirklichen Bezug zu dem eigentümlichen logischen Charakter herzustellen vermöchte, den es bezeichnet.

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Fussnote

1. Vergl. Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Reclam), Seite 124: Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020