Viktor Adler

Ein Brief von Friedrich Engels

(1. März 1908/16. März 1895)


Der Kampf, Jahrgang 1 6. Heft, 1 März 1908, S. 247–249.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Redaktion des Kampf hat mich aufgefordert, ihr den unten folgenden Brief von Friedrich Engels zum Abdruck zu überlassen, und ich bin mit ihr der Meinung, dass sein Inhalt durch ein nicht geringes sachliches und persönliches Interesse die Veröffentlichung rechtfertigt. Vor allem trägt der Brief, wie jede Zeile, die Engels schrieb, das Gepräge des ganzen Menschen, seiner Kraft und Liebenswürdigkeit. Dann ist er ein Beispiel dafür, wie hilfsbereit unser »General« für seine Schüler und Freunde war und wie etwa die Korrespondenz aussah, die er in einem halben Dutzend Sprachen bis in die letzten Wochen todbringender Krankheit hinein führte, und das neben seiner schweren schriftstellerischen Arbeit, seinen umfassenden und intensiven Studien; weiter aber ist die Anweisung, die Engels für das Studium des dritten Bandes Kapital gibt, wichtig, weil niemand kompetenter dazu war als er. Schliesslich werden unsere österreichischen Genossen in diesem Briefe wieder einen Beweis dafür finden, mit welchem gespannten Interesse Engels unsere Bewegung in allen ihren Einzelheiten verfolgte. Welch herzliche Sorgfalt er ihr widmete und welch grosse Hoffnungen er auf sie setzte, das hat er selbst anderthalb Jahre vorher im Wiener Sofiensaal ausgesprochen.

Zum näheren Verständnis einiger Einzelheiten des Briefes diene folgendes: Es war das erste Quartal der täglichen Arbeiter-Zeitung und das letzte Quartal der Koalitionsregierung. Unser Wahlrechtskampf hatte wieder einen Höhepunkt. Das famose »Subkomitee« war im Begriffe, an seiner impotenten Schuftigkeit kaput zu gehen. Wie sehr die Arbeiterschaft begriffen hatte, dass die Wahlreform »das Fulcrum für die entscheidende Wirkung« in der österreichischen Politik sei, konnte ihm die Nummer der Arbeiter-Zeitung sagen, die er einen Tag später erhielt, nachdem er seinen Brief abgeschickt hatte, und die von dem gewaltigen Aufmarsch beim Märzmonument und einer noch wirksameren Demonstration vor dem Parlament erzählte.

Ich musste damals auf einen Monat »ins Loch«; eigentlich auf sieben Wochen in zwei Raten. Warum, weiss ich nicht mehr genau. Wahrscheinlich hatte ich meinem Zweifel an der politischen Weisheit der Herren Windischgrätz und Plener bescheidenen Ausdruck gegeben. Wir lösten uns ja damals in den »besseren« Bezirksgerichtsarresten – ich schwärmte für Sechshaus – ab, wie die Schildwachen. Das waren die in ihrer Art guten Zeiten, wo die österreichische Regierung noch etwas für unsere theoretische Weiterbildung tat; jetzt ist es uns schwerer geworden, die Musse für ruhiges Studium zu finden. Hinzufügen will ich noch, dass ich wie manche Freunde das von Engels gegebene Rezept zum Studium des Kapital fleissig befolgt habe und dass ich es bestens empfehlen kann. Probatum est.

Das Leiden, über das Engels klagt, war ein altes chronisches Uebel, ein unbequemes, aber sonst harmloses Bruchleiden. Er ahnte nicht, dass ihn wenige Wochen später jene furchtbare Krankheit packen sollte, der er im August desselben Jahres erlag. Ende März zeigten sich die ersten ernsten Symptome von Krebs der Speiseröhre, der dann rapid um sich griff. Er musste doch Seeluft brauchen; zum letztenmal. Als ich ihn im Juli in Eastbourne aufsuchte, fand ich einen sterbenden Mann. – – So ist der hier veröffentlichte Brief einer der letzten, die ich von ihm erhielt.

London, 16. März 1895.

Lieber Viktor!

Hiermit sogleich die verlangte Auskunft. Sombarts Artikel ist recht gut, nur leidet seine Auffassung des Wertgesetzes an einiger Enttäuschung von wegen der Lösung der Profitratenfrage. Er hatte offenbar auf ein Wunder gerechnet und findet statt dessen das einfach Rationelle, das alles, nur nicht wundertätig ist. Daher seine Reduktion der Bedeutung des Wertgesetzes auf Durchsetzung der Produktivkraft der Arbeit als entscheidender ökonomischer Macht. Das ist viel zu allgemein und unbestimmt. Sehr gut ist der Artikel vom kleinen Konrad Schmidt im Sozialpolitischen Zentralblatt. E. Bernsteins Artikel waren sehr konfus, der Mann ist noch immer neurasthenisch und dabei schmählich überarbeitet, hat zu viel Verschiedenes in der Hand, liess die Sache liegen, wurde dann plötzlich von K. K. [1] um den Artikel getreten. [2]

Da Du im Loch Kapital II und III ochsen willst, so will ich Dir zur Erleichterung einige Winke geben.

Buch II, Abschnitt I. Lies Kapitel I gründlich, dann kannst Du 2. und 3. Kapitel leichter nehmen. Kapitel 4 wieder als Resume genauer 5 und 6 sind leicht und besonders 6 behandelt Nebensächliches.

Abschnitt II, Kapitel 7 bis g wichtig, besonders wichtig 10 und 11. ebenso 12, 13, 14. Dagegen 15, 16, 17 zunächst nur für kursorische Lektüre.

Abschnitt III ist eine ganz ausgezeichnete Darstellung des hier seit den Physiokraten zum erstenmal behandelten Gesamtkreislaufes von Ware und Geld in der kapitalistischen Gesellschaft – ausgezeichnet dem Inhalt nach, aber furchtbar schwerfällig der Form nach, weil erstens zusammengeflickt aus zwei Bearbeitungen, die nach zwei verschiedenen Methoden verfahren, und zweitens, weil Bearbeitung Nr. 2 in einem Krankheitszustand gewaltsam zu Ende geführt wurde, wo das Hirn an chronischer Schlaflosigkeit litt. Das würde ich mir aufbewahren bis ganz zuletzt

nach erster Durcharbeitung von Band III. Es ist auch für Deine Arbeit noch am ersten entbehrlich.

Dann das dritte Buch.

Hier ist wichtig im I. Abschnitt Kapitel 1 bis 4, dagegen für den allgemeinen Zusammenhang weniger wichtig, also zunächst nicht viel Zeit darauf zu verwenden, Kapitel 5, 6 und 7.

Abschnitt II. Sehr wichtig Kapitel 8, 9, 10. Kursorisch zu behandeln 11 und 12.

Abschnitt III. Sehr wichtig, alles, 13 bis i5.

Abschnitt IV. Ebenfalls sehr wichtig, aber auch leicht zu lesen 16 bis 20.

Abschnitt V. Sehr wichtig Kapitel 21 bis 27, weniger Kapitel 28. Wichtig Kapitel 29. Im ganzen unwichtig für Deine Zwecke Kapitel 30 bis 32, wichtig, sobald es sich um Papiergeld etc. handelt, 33 und 34, über internationalen Wechselkurs wichtig 35, sehr interessant für Dich und leicht zu lesen 36.

Abschnitt VI, Grundrente. 37 und 38 wichtig. Weniger, aber doch mitzunehmen 39 und 40, mehr zu vernachlässigen 41 bis 43 (Differentialrate II. Einzelfälle). 44 bis 47 wieder wichtig und meist auch leicht zu lesen.

Abschnitt VII. Sehr schön, leider Torso und obendrein auch mit starken Spuren von Schlaflosigkeit.

So, wenn Du hiernach die Hauptsachen gründlich und das weniger Wichtige zunächst oberflächlich durchnimmst (am besten vorher die Hauptsachen aus Band I nochmals zu lesen), so wirst Du einen Ueberblick über das Ganze bekommen und nachher die vernachlässigten Stellen auch leichter verarbeiten.

Deine Nachrichten über das Blatt [3] haben uns sehr gefreut. Die politische Wirkung ist die Hauptsache, die finanzielle folgt schon und wird sehr erleichtert und beschleunigt, sobald jene gesichert. Ich sehe mit Vergnügen Deine Hand in den Wahlreformnotizen der ersten Seite, da liegt das Fulcrum [4] für die entscheidende Wirkung.

Ich bin wieder ein bisschen lahm von wegen der alten Geschichte, die periodisch, besonders im Frühjahr, mich etwas plagt, doch ist’s weniger als früher und leichter, in zirka 14 Tagen denke ich ist’s vorbei, ohne dass ich, wie 1893 und 1894, Seeluft brauchen muss.

Die hiesige Bewegung resümiert sich dahin: In den Massen geht der instinktmässige Fortschritt seinen Gang, die Tendenz wird eingehalten; sowie es aber dahin kommt, diesem Instinkt und dieser triebmässigen Tendenz bewussten Ausdruck zu geben, geschieht dies durch die Sektenführer in einer so dummen und bornierten Weise, dass man rechts und links Ohrfeigen austeilen möchte. Aber das ist nun einmal die richtige angelsächsische Methode.

 

Viele Grüsse Dein
F. E.

* * *

Fussnoten

1. Karl Kautsky. Anm. d. Red.

2. Werner Sombart, Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. VII, Seite 555 ff. – Konrad Schmidt, Der dritte Band des Kapital, Sozialpolitisches Zentralblatt, IV, Seite 255 ff. – Bernstein, Der dritte Band des Kapital, Neue Zeit, XIII, 1. Seite 333 ff. – Vergl. auch Fr. Engels’ letzte Arbeit: Ergänzung und Nachtrag zum dritten Buch des Kapital, Neue Zeit, XIV, 1. Seite 4 ff. Anm. d. Red.

3. Die Arbeiter-Zeitung, die seit 1. Jänner 1895 als Tagblatt erschien. Anm. d. Red.

4. St&uunl;tze. Anm. d. Red.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024