Otto Bauer

Oesterreichs auswärtige Politik
und die Sozialdemokratie

(1. Jänner 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 4. Heft, 1. Jänner 1907, S. 145–151.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Im Jahre 1864 mahnte die von Karl Marx verfasste Inauguraladresse der Internationale die Arbeiter aller Länder, »den Mysterien der internationalen Staatskunst nachzuspüren, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen, ihnen nötigenfalls mit aller Macht entgegenzutreten und, wenn ausserstande, ihre Streiche zu hindern, sich zu gleichzeitiger öffentlicher Anklage zu verbinden«. Die österreichischen Arbeiter hatten noch wenig Gelegenheit, diese Mahnung zu beherzigen. Mehr noch als in anderen Staaten ist bei uns die äussere Politik dem Machtbereich der Volksvertretung entzogen. Zwei Staaten, zehn Nationen sollen hier ihr Verhältnis zu den anderen Staaten und Völkern regeln – was Wunder, dass hier alle machtlos sind und der Absolutismus, durch die Delegationen, diese äusserlichste Nachahmung inhaltsleerer parlamentarischer Formen, kaum verdeckt, auch heute noch unbeschränkt herrscht? Und doch muss die österreichische Arbeiterklasse es versuchen, das Gewicht der Macht, die sie sich in harten Kämpfen errungen, auch hier in die Wagschale zu werfen. Zum erstenmal werden ihre Vertreter in den Delegationen zu Worte kommen; so ist es wohl an der Zeit, zu fragen, welche Forderungen an unsere äussere Politik aus dem Klassenbedürfnis des Proletariats fliessen.

Zwei grosse Regeln bestimmen die Stellungnahme der Arbeiterklasse zu den Problemen der äusseren Politik. Die Arbeiterklasse fordert zunächst, dass die äussere Politik in den Dienst einer Wirtschaftspolitik gestellt werde, die das Wachstum der Industrie fördert, die Arbeitsgelegenheit vermehrt, unsere Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen erleichtert und verbilligt. Die Arbeiterklasse fordert zweitens eine Politik des Friedens. Wenn das Proletariat überall jede kriegerische Eroberungspolitik bekämpft, wie sehr muss es dies erst in Oesterreich tun, das niemals einen Volkskrieg führen kann; denn Oesterreich kann keinen Krieg führen, der nicht ganze Nationen zum Bruderkampf mit den eigenen Volksgenossen zwingen würde. Das Oesterreich des Absolutismus, das über Krieg und Frieden nicht die Völker entscheiden liess, dessen Heeresorganisation die Jugend der Nation zum willenlosen Werkzeug in fremder Hand erniedrigte, mochte Kriege führen können; ein demokratisches Oesterreich kann keine andere Politik betreiben als die Politik des Friedens.

Seit Königgratz und Sedan ist die auswärtige Politik der Monarchie wesentlich Balkanpolitik. Die wechselvollen Schicksale der Balkanvölker stehen in enger Wechselwirkung zu den Wandlungen unserer äusseren Politik. Werfen wir also zunächst einen Blick auf den von zahllosen blutigen Kämpfen durchwühlten Boden des Südostens, auf dem noch so manche Entscheidung über unsere Zukunft fallen wird!

Ueber die Volkszahl der Balkanstaaten geben uns die letzten Zählungen folgende Auskunft:

Europäische Türkei

6.130.200

Bulgarien und Ostrumelien

4.028.239

Rumänien

5.956.691

Serbien

2.688.747

Griechenland

2.433.806

Montenegro

    228.000

Bosnien und Herzegowina

1.591.100

Die Balkanfrage ist also das Problem des staatlichen und nationalen Daseins für 22,9 Millionen Menschen.

Seit einem Jahrhundert vollzieht sich im Südosten stetig und unaufhaltsam ein gewaltiger Umwälzungsprozess. Griechenland, Rumänien und Serbien haben das türkische Joch längst abgeworfen; Bosnien und Aegypten, Bulgarien und Ostrumelien, Kreta und Zypern verknüpft kaum noch ein loses Band mit dem Reiche des Sultans. In Mazedonien und Altserbien tobt seit Jahren der Aufruhr. Wohl trägt die Masse der Bauern noch träge das Joch der türkischen Herren. Aber die dünne Schicht der Gebildeten, die zahlreichen Auswanderer, die in den christlichen Staaten eine bessere Verwaltung und Justiz, ein winziges und ihnen doch so bedeutsames Stückchen abendländischer Kultur kennen gelernt, ersehnen, in die Heimat zurückgekehrt, die Befreiung von türkischer Herrschaft. Die christlichen Balkanstaaten, lüstern nach dem türkischen Erbe, schicken ihre Sendboten zu den Stammesbrüdern, die noch unter türkischer Herrschaft seufzen. Sie sollen den Bauern, dessen ganzes Geistesleben noch an religiöse Formen gebunden, aus dem Banne des Patriarchats lösen, das, von dem griechischen Kaufmanns- und Beamtenadel beherrscht, die christliche Staatskirche des türkischen Reiches gewesen; indem sie den Bauern der nationalen Kirche gewinnen, seine Kinder in nationalen Schulen bilden, ebnen sie den Boden der künftigen Eingliederung türkischen Landes in den nationalen Staat. Aber in diesem Streben widerstreiten die Bestrebungen der verschiedenen Balkanstaaten einander. Denn der slawische Bauer Mazedoniens hat noch kein Nationalbewusstsein, der enge Umkreis seines Dorfes umgrenzt sein ganzes geistiges Leben und allmählich und unmerklich gehen die bäuerlichen Mundarten ineinander über. So lässt es sich nicht ohne Willkür entscheiden, ob die Bauern eines mazedonischen Dorfes noch als Bulgaren oder schon als Serben anzusehen sind; so kann es geschehen, dass in wilden Bandenkämpfen darüber entschieden wird, wie weit der Wirkungskreis der serbischen, wie weit die Macht der bulgarischen Kirche und Schule reichen, wieviel Raum jede von ihnen und wieviel neben ihnen die walachische Schule dem griechischen Patriarchat abgewinnen kann. Gewiss, die Erhebung der slawischen Bauern gegen die türkischen Herren und die griechische Kirche stellt die erste Entwicklungsstufe jenes grossen Prozesses dar, in dem ein geknechtetes Volk sich zu neuem kulturellen Dasein erhebt, jenes mit der ganzen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unserer Zeit verflochtenen Prozesses, den ich als das Erwachen der geschichtslosen Nationen zu beschreiben versucht habe [1]; aber da diese Bewegung hier noch nicht der Reife der eigenen Entwicklung des Volkes entspringt, sondern durch die Sendlinge eroberungslüsterner Nachbarstaaten vorzeitig ausgelöst und künstlich beschleunigt wird und da sie sich zudem in einem Staatswesen vollzieht, dessen Verwaltung und Justiz jeder Räuberbande gegenüber versagt, so nimmt dieselbe Bewegung hier die Form wilder Kämpfe an, die anderwärts auf höherer Entwicklungsstufe sich darin geäussert hat, dass aus einem geknechteten Bauernvolke eine Schicht der Gebildeten aufgestiegen, die ihm eine neue entwicklungsfähige Kultur geschenkt und es in den Kampf um nationales Recht und staatliche Macht geführt hat. Aber trotz der roheren und minder entwickelten Erscheinungsformen wird der Aufstieg der mazedonischen Völker darum doch ebensowenig dauernd zu hemmen sein, wie der Aufstieg der Tschechen, Slowenen und Ruthenen in Oesterreich zu hemmen war, wie Ungarn und Russland die geknechteten Nationen in Rechtlosigkeit und kultureller Dürftigkeit zu erhalten vermögen.

Für Oesterreich aber ist der drohende Zusammenbruch der türkischen Macht in Europa eine Tatsache von grosser Bedeutung. Wie wird diese Entwicklung der Balkanvölker auf die stammesverwandten Nationen wirken, die in Oesterreich, in Ungarn und Bosnien leben? Werden die Expansionsgelüste österreichischer Imperialisten die Machthaber zu dem gefahrvollen Wagestück des Marsches nach Salonik verleiten? Droht uns ein Krieg mit Italien, wenn der italienische Imperialismus sich an der Ostküste der Adria festsetzen will? Wird uns der Frieden erhalten bleiben, wenn Russland in Konstantinopel seine Fahne aufpflanzen will? So wird auf dem Balkan darüber entschieden, ob uns der Frieden erhalten bleibt. Schon darum kann Oesterreichs Arbeiterklasse den Balkanproblemen nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Aber nicht nur unsere Politik des Friedens, sondern auch unsere Wirtschaftspolitik weist uns auf den Balkan. Enge Handelsbeziehungen verknüpfen uns mit den Balkanvölkern. Unsere Ausfuhr in die Balkanstaaten und in die Türkei stellte im Jahre igo5 einen Wert von 252,7 Millionen Kronen dar, das ist 11,26 Prozent unserer gesamten Ausfuhr. In kein Land – äusser ins Deutsche Reich – werden aus dem österreichisch-ungarischen Zollgebiet so viele Waren ausgeführt wie in diese Länder; unsere Ausfuhr nach Asien, Afrika, Amerika und Australien beträgt insgesamt nur 204 Millionen Kronen, also um ein Fünftel weniger als der Export in die Balkanstaaten. Dieser Ausfuhr steht eine gleichfalls sehr beträchtliche Einfuhr gegenüber. Ira Jahre 1905 haben wir aus den Staaten der Balkanhalbinsel und der türkischen Levante Waren im Werte von 186,6 Millionen eingeführt, also mehr als aus jedem anderen Wirtschaftsgebiet äusser dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten; 8,69 Prozent unserer gesamten Einfuhr stammen aus den Balkanstaaten.

Die Bedeutung dieser Wirtschaftsgebiete für die Ausfuhr unserer Industrieprodukte und für unsere Versorgung mit Lebensmitteln darf aber nicht nur an den Ergebnissen der Handelsstatistik gemessen werden; vielmehr müssen wir wohl beachten, dass unser Warenaustausch mit den Balkanvölkern noch sehr entwicklungsfähig ist.

Heute hemmt zunächst die wirtschaftliche und staatliche Rückständigkeit der Balkanländer die Ausgestaltung unseres Handelsverkehrs. Die landwirtschaftliche Produktion und die Viehzucht dieser Länder leiden an schweren Mängeln; die Verkehrsmittel, die Eisenbahnen und Strassen sind unzureichend, es fehlen die notwendigen Bewässerungsanlagen, den Ruin der Forstwirtschaft hemmt in der Türkei keine wirksame Forstpolizei. Das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung, die rückständige, der Warenproduktion nicht angepasste Agrarverfassung, die mangelnde Rechtssicherheit erschweren die Entwicklung der Landwirtschaft zu höherer Intensität und Technik. Feudale Ausbeutung, urwüchsiger Wucher und hoher Steuerdruck verzehren den Ertrag der bäuerlichen Wirtschaft. An der Hebung des kulturellen Niveaus und der landwirtschaftlichen Produktion der Balkanländer hat Oesterreich ein eigenes Interesse: je weiter sie fortschreiten, desto vollständiger können diese Länder unseren Lebensmittel- und Rohstoffbedarf befriedigen, desto kaufkräftigeren Absatzmarkt gewinnt unsere Industrie.

Trotzdem war unsere Wirtschaftspolitik niemals darauf gerichtet, uns wirtschaftlich enger mit den Balkanstaaten zu verknüpfen. Die ungarischen Magnaten und die österreichischen Agrarier haben, unbekümmert um die Exportinteressen unserer Industrie, die Lebensmittelzufuhr aus den Ländern an der unteren Donau stets zu behindern gesucht. Eine Präliminarkonvention von 1878 sollte eine vollständige Zolleinigung mit Serbien anbahnen, aber die Selbstsucht des ungarischen Adels gab das wertvolle Zugeständnis preis, das Serbien uns als Gegenleistung für die Unterstützung gewähren wollte, die Oesterreich-Ungarn ihm auf dem Berliner Kongress geleistet. Unsere handelspolitische Machtstellung in Rumänien haben wir dauernd eingebüsst, seit unsere agrarische Wirtschaftspolitik uns in den Zollkrieg mit Rumänien geführt. Der mühevoll zustande gebrachte Handelsvertrag mit Bulgarien konnte unseren Export nicht wirksam fördern, da die agrarischen Tendenzen unserer Wirtschaftspolitik es unseren Unterhändlern unmöglich machten, wertvollere Zugeständnisse zu erlangen. Jede der zahllosen Schikanen, die den Lebensmittelimport aus dem Südosten erschweren, verteuert nicht nur den österreichischen Konsumenten Fleisch und Brot, sondern sie verkümmert auch der Industrie den Export.

Aber nicht nur die agrarischen Maximen unserer Handelspolitik haben uns die Anknüpfung freundschaftlicher Beziehungen zu den Balkanvölkern erschwert; auch unsere ganze Balkanpolitik war nur allzusehr geeignet, tiefes Misstrauen bei den jungen Völkern der Halbinsel zu erwecken und dadurch unsere wirtschaftliche und politische Stellung auf dem Balkan zu schwächen. Dahin wirkte vor allem die legitimistische Tradition unserer Politik; fast jeden Schritt auf dem schweren Wege zu staatlicher Selbständigkeit haben die Balkanvölker gegen Oesterreichs Einspruch und Widerstand wagen müssen. Hat Metternich aus blindem Hasse gegen die Revolution den Freiheitskampf der Griechen bekämpft, so hat später die Angst vor einer rumänischen oder serbischen Irredenta, vor einem Piemont des Balkans die österreichischen und noch mehr die ungarischen Staatsmänner verleitet, die Einigung der Moldau und Walachei zu bekämpfen, den serbischen Staat zu bevormunden, auf dem Balkan Polizisten zu spielen. Die Verlockung war um so grösser, als die alten Friedensverträge mit der Türkei dem österreichischen Handel eine Vorzugsstellung auf dem Balkan einräumten und die Regierungen darum den wirtschaftlichen Interessen des österreichischen Gewerbes zu dienen meinten, wenn sie sich hartnäckig und doch völlig erfolglos der Loslösung der christlichen Balkanstaaten aus dem türkischen Wirtschaftsgebiet und der Begründung ihrer zollpolitischen Selbständigkeit widersetzten. [2]

Merkwürdig ist, wie gerade die Tatsache, dass die Balkanvölker Stammesgenossen im Rahmen der Monarchie haben, zur Quelle der Feindschaft zwischen Oesterreich-Ungarn und den Balkanstaaten wurde. Es hätte nicht so kommen müssen. Die ungarischen Rumänen und die österreichischen und ungarischen Serben stehen auf einem höheren Kulturniveau als ihre Volksgenossen ausserhalb der Monarchie und sie erfreuen sich des grossen Vorteils eines grossen Wirtschaftsgebietes; wie leicht könnte das kulturelle Zentrum dieser Nationen in unserem Reiche liegen, wie stark müsste das Band sein, das die Balkanvölker an uns knüpft, wenn wir diesen jungen Nationen ein Schulwesen schüfen, wir ihnen im Rahmen des Reiches die freie Fortentwicklung ihrer Kultur sicherten und ihnen durch die Tat bewiesen, dass Freiheit und Rechtssicherheit gepaart sein können. Statt dessen versagen ihnen die Machthaber die nationale Autonomie. Der magyarische Herr knechtet Rumänen und Serben, eine von Argwohn und Furcht verblendete, vom römischen Klerikalismus gegängelte Politik scheidet Kroaten und Serben, Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit machen Dalmatien zum ärmsten und verwahrlosesten Lande des Reiches. Die Furcht vor der Irredenta ruft erst die Irredenta hervor!

Noch schlimmer ist es seit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina geworden. [3] Hier hätte Oesterreich der serbischen Nation auf einem grossen Territorium ein grosses Beispiel kultureller Entwicklung bieten können, das ihm die Herzen der Balkanvölker hätte gewinnen müssen. Wir haben dies nicht getan: immer noch besteht in Bosnien die türkische Agrarverfassung zu Recht; immer noch muss der Bauer ein Drittel oder gar die Hälfte seines Arbeitsertrages dem Grundherrn abtreten; immer noch droht ihm aus nichtigem Anlass die Abstiftung. Und was wir dem Lande an wirtschaftlichem Vorteil gebracht, das gaben wir ihm im Zwang, nicht in Freiheit: Wir haben das Land nicht nur einem büreaukratischen System unterworfen, das nicht einmal die primitivsten Grundsätze moderner Staatsverwaltung verwirklicht – Rechtspflege und Verwaltung sind auf der untersten Stufe nicht getrennt! – sondern wir haben den Bureaukraten auch noch unter das Kommando des Militärs gestellt! Wir lassen nicht nur einen schrankenlosen militärischen Absolutismus im Lande walten, sondern wir verweigern selbst den Gemeinden jeden Schein der Autonomie. Und all das, obwohl die Volksgenossen der Bosniaken sich im Osten einer zügellosen Freiheit erfreuen und im Norden doch wenigstens die elementarsten Grundrechte eines konstitutionellen Staates geniessen! Ist es wunderbar, dass die Verwaltung Bosniens uns den Balkanvölkern als Bezwinger, nicht als Kulturträger erscheinen lässt?

So haben unsere agrarische Wirtschaftspolitik, die legitimistischen Tendenzen unserer auswärtigen Politik, die unkluge Nationalitätenpolitik Oesterreichs, die brutale nationale Unterdrückung in Ungarn und schliesslich die militärisch-absolutistische Herrschaft in Bosnien dazu beigetragen, Hass und Misstrauen gegen uns auf dem Balkan zu erwecken – Empfindungen, durch die unsere Handelsbeziehungen ebenso geschädigt wurden wie unsere politische Machtstellung. Nur die Politik des Freihandels nach Osten, die Politik der nationalen Autonomie, die Politik der Achtung und Unantastbarkeit der nationalen Selbstbestimmung im Rahmen der Monarchie wie ausserhalb desselben kann die notwendige Stimmungsgrundlage unserer Balkanpolitik schaffen.

So ist denn die Politik der österreichischen Sozialdemokratie gegenüber den Balkanfragen unschwer zu bestimmen. Ihre innere Politik der Demokratie und der nationalen Autonomie erschliesst uns erst die Möglichkeit freundschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarn im Südosten; ihr Kampf gegen die agrarische Wirtschaftspolitik bahnt uns den Weg zu wirtschaftlichem Verkehr, der den Balkanvölkern ebenso frommt wie uns. Dagegen wird sich die österreichische Arbeiterklasse jeder Eroberungspolitik auf dem Balkan mit aller Kraft widersetzen. Der Argwohn, dass die Monarchie Landerwerb im Süden plane und vorbereite, ist die ewige Quelle des Misstrauens und der Feindschaft, der schlimmsten Feinde unseres Handels am Balkan; und jeder Versuch, die Grenzen des Reiches nach Süden oder Osten vorzuschieben, müsste uns unvermeidlich in gewaltige kriegerische Umwälzungen verwickeln. Unsere Friedenspolitik und unsere Wirtschaftspolitik schliessen den Gedanken gewaltsamer Eroberung auf der Balkanhalbinsel aus.

In dieser Stellungnahme kann sich die Arbeiterklasse auch nicht durch die wohlgemeinten Ratschläge jener beirren lassen, die österreichische Truppen als Befreier vom türkischen Joche nach Mazedonien rufen möchten. Gewiss beklagen auch wir die mazedonischen Greuel; aber sie zu beendigen, werden wir nicht die weit furchtbareren Greuel eines europäischen Krieges heraufbeschwören.

Die Balkanpolitik ist aber nicht nur selbst ein wichtiges Problem unserer auswärtigen Politik; in den Gegensätzen auf dem Balkan sind auch unsere Beziehungen zu den Grossstaaten verankert. Hier wurzelt der überlieferte Gegensatz gegen Russland, der uns mit dem Deutschen Reiche und Italien zum Dreibund geeint. Hier ward später der Gegensatz gegen Italien ausgelöst, der uns mit Russland zur Mürz-steger Konvention zusammengeführt.

Die bürgerlichen Parteien in Oesterreich haben keine einheitliche und bestimmte Stellung zu den grossen Problemen der auswärtigen Politik zu gewinnen verstanden. Ihre auswärtige Politik ist dadurch bestimmt, dass sie die ausländischen Staaten, in denen ihre Volksgenossen leben, als die politische Organisation ihrer Nation – oder doch der ihnen stammverwandten Nationen – betrachten und schätzen; so projizieren sie die inneren Kämpfe Oesterreichs auf das grosse Feld der europäischen Politik. Darum sehen die Deutschen im Bunde mit dem Reich, die Tschechen in der Freundschaft mit Russland eine Forderung ihrer nationalen Politik. Und wenn man unsere deutschen und tschechischen Bierbankpolitiker reden hört, so könnte man meinen, alle wirklichen oder angeblichen Gegensätze zwischen Russland und dem Deutschen Reich seien der Ausfluss desselben Widerstreits, der etwa in dem weltgeschichtlichen Kampf um das Trautenauer Kreisgericht oder um die Gerichtssprache im Egerlande in Erscheinung getreten sei. Ganz anders die Arbeiterklasse! Der deutsche Arbeiter sieht in dem Befreiungskämpfe des russischen Volkes ein Stück seines eigenen Kampfes, der tschechische Arbeiter fühlt sich mit dem kämpfenden Proletariat Deutschlands eins; der deutsche Arbeiter sieht nicht in dem borussischen Junkerstaate das staatliche Ideal seiner Nation verwirklicht, der tschechische Arbeiter hasst den Zarismus mit aller Leidenschaft, deren er fähig ist. In Freundschaft und Feindschaft sind wir eins; weil wir in den fremden Staaten nicht die politischen Organisationen der Nationen, sondern die Instrumente der Herrenklasse zur Knechtung der Nationen sehen, darum können deutsche und tschechische, südslawische und italienische, polnische und ukrainische Arbeiter eine gemeinsame auswärtige Politik betreiben.

Der feste Stützpunkt der gesamten auswärtigen Politik der Monarchie ist das Bündnis mit dem Deutschen Reich. Dass dieses Bündnis den Frieden Mitteleuropas schirmt und dass die freundschaftlichen Beziehungen unseren Warenaustausch mit Deutschland fördern, ist, vom Standpunkt der Arbeiterklasse gesehen, sein grosses Verdienst; sind wir doch mit keinem Staate kulturell und wirtschaftlich so eng verknüpft wie mit dem Deutschen Reich. 45,47 Prozent unserer gesamten Ausfuhr, 37,42 Prozent unserer gesamten Einfuhr entfielen im Jahre ipo5 auf Deutschland. Auch wird man wohl beachten müssen, dass die Auflösung des Bündnisses Deutschland in die Arme Russlands treiben, Oesterreich zum Hörigen Russlands machen würde; der völkermordende Zarismus würde zum unbeschränkten Herrscher Europas. Unsere Politik des Friedens, unsere Politik der volkswirtschaftlichen Entwicklung, unsere Politik der Demokratie legen also den Arbeitern aller Nationen das Gebot auf, an dem Bündnis mit Deutschland nicht zu rütteln.

Den deutschen Arbeitern Oesterreichs aber kann das blosse Militärbündnis nicht genügen; lebendige Glieder des deutschen Volkes, leiden sie mit der ganzen Nation schwer darunter, dass Bismarcks Staatskunst sie aus dem grossen Gemeinwesen der deutschen Nation ausgeschieden hat; dass die politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten die rechtlichen Grundlagen der kulturellen Gemeinschaft der Nation sichern, müssen alle Deutschen Oesterreichs fordern. Volle Freizügigkeit muss allen Deutschen gesichert werden; der Deutschösterreicher darf im Reiche, der Reichsdeutsche in Oesterreich kein rechtloser Fremder sein. Die deutschen Arbeiter Oesterreichs haben nicht geringen kulturellen Gewinn daraus gezogen, dass viele Tausende von ihnen alljährlich »auf der Walz« weite Gebiete des Deutschen Reiches kennen lernen; wir werden nicht borussische Polizeipraxis dieses Recht verkümmern lassen, vielmehr müssen wir fordern, dass durch Abschluss von Staatsverträgen über Ansiedlungsrecht und Freizügigkeit, über Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung jedem Deutschen nicht nur das formale Recht, sondern auch die tatsächliche Ausübung voller Freizügigkeit im ganzen Siedlungsgebiete der deutschen Nation gesichert werden. Und wie die nichtdeutschen Arbeiter Oesterreichs dieses Bedürfnis ihrer deutschen Klassengenossen wohl verstehen werden, so werden auch wir ihnen unsere Unterstützung nicht versagen, wenn die Italiener, die Polen und Ruthenen, die Serben und Rumänen fordern, dass in gleicher Weise auch ihnen die kulturelle Gemeinschaft mit ihren Volksgenossen jenseits der Grenze gesichert werde.

Soweit das Bündnis mit Deutschland ein Bündnis mit dem deutschen Volke, eine Stütze des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung ist, entspricht es den Bedürfnissen der österreichischen Arbeiter. Niemals aber wird die Arbeiterklasse dulden, dass aus dem Bündnis der Völker eine Verschwörung der Herrschenden gegen die Völker werde. Die preussischdeutsche Junkerherrschaft zu schützen, kann nicht der Wunsch der deutschen Arbeiter in Oesterreich sein; ist doch die herrschende Klasse im Reiche der Todfeind der deutschen Arbeiterklasse. Oesterreich darf nicht dem Gelüst des deutschen Imperialismus nach weltpolitischen Abenteuern den »brillanten Sekundanten« spielen. Weiss der deutsche Imperialismus, dass er unsere Unterstützung bei seinen Experimenten nicht zu erwarten hat, dann wird ihm, dem Isolierten, dessen einzige Hoffnung unsere Hilfe sein kann, alle Wirkungsmöglichkeit genommen; wertvolleren Dienst können wir den deutschen Arbeitern im Reiche nicht erweisen, die stets ihre ganze Kraft für die Erhaltung des Friedens, im Kampfe gegen den Heisshunger des deutschen Kapitals nach neuen Ausbeutungssphären eingesetzt haben. Dem Deutschland des Friedens, der Arbeit, der Wissenschaft wollen wir treu unsere Bundespflicht erfüllen, wann immer ihm ernste Gefahr droht; das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland der Ausbeutung und Unterdrückung darf unseren Beistand nicht erwarten, wenn es gegen den Willen der grossen Mehrheit des deutschen Volkes Millionenheere in Bewegung setzen will, um dem Kapital neue Absatzmärkte, neue Anlagesphären zu erschliessen.

Ebensowenig können wir ruhig zusehen, wie die brutale Klassenherrschaft in Preussen die österreichischen Staatsbürger im Reiche entrechtet. Alljährlich ziehen Junker und Kapitalisten Tausende billiger österreichischer Arbeitskräfte ins Land; braucht man sie nicht mehr oder wagen sie es, sich gegen masslose Ausbeutung aufzulehnen, dann jagt sie der preussische Gendarm an die Grenze. Wenn wir fordern, dass die österreichische Regierung diese schändliche Behandlung österreichischer Staatsbürger nicht dulde, dann verfechten wir nicht nur das Interesse polnischer, tschechischer und kroatischer Proletarier, nicht nur das Recht der deutschen Arbeiter Oesterreichs, auf dem Heimatsboden der deutschen Nation nicht als rechtlose Fremde behandelt zu werden, sondern auch das Interesse unserer deutschen Brüder im Reich; denn nur der rechtlose Einwanderer, der bei Strafe der Ausweisung an dem grossen Kampfe der heimischen Arbeiterschaft nicht teilnehmen darf, wird als Lohndrücker und Streikbrecher dem deutschen Proletariat gefährlich. Wenn die Ausweisung jedes österreichischen Arbeiters aus Deutschland mit der Ausweisung eines reichsdeutschen Handlungsreisenden aus Oesterreich beantwortet würde, würde die Regierung Preussen-Deutschlands sich wohl bald dazu verstehen, das Recht der österreichischen Arbeiter auf deutschem Boden zu achten!

Nach ähnlichen Grundsätzen müssen wir auch unser Verhältnis zu Russland gestalten. Den Nationen des russischen Reiches wollen wir treue Freunde sein; der Zarismus aber ist auch heute noch der gefährlichste Feind aller Demokratie. Darum werden wir aber die Vereinbarungen der Monarchie mit Russland nicht bekämpfen, solange sie der Erhaltung des Friedens dienen, soweit sie ein einvernehmliches Vorgehen auf der Balkanhalbinsel bezwecken, um den Ausbruch von Konflikten zu verhüten. Auch wenn die beiden Regierungen einvernehmlich an dem Werke der »Aushöhlung der Türkei« fortarbeiten, wenn sie durch internationale Organisationen und durch ein System internationaler Kontrolle Rechtssicherheit und Ordnung in den slawischen Gebieten der Türkei wiederherzustellen suchen, können wir dies wohl billigen. Aber das gute Einvernehmen mit Russland darf österreichische Behörden nicht zu Bütteln des Zarismus erniedrigen. Von dem gemeinsamen Vorgehen auf der Balkanhalbinsel müssen wir jeden Gedanken an territoriale Expansion, an Länderraub und Landerwerb fernhalten. Vor allem aber dürfen die Vereinbarungen mit Russland nur der Sicherung des Friedens, nicht der Rüstung zum Kampfe dienen, sie sollen die Möglichkeit eines Konflikts mit Russland beseitigen, aber sie sollen nicht die Möglichkeit von Konflikten mit anderen Staaten herbeiführen; sie dürfen ihre Spitze nicht gegen England, Deutschland, insbesondere aber nicht gegen Italien richten.

Unsere trotz aller offiziellen Beschönigungsversuche so oft getrübten Beziehungen zu Italien zu verbessern, muss die wichtigste Aufgabe jeder Politik sein, die uns den Frieden erhalten will. Wir dienen dieser Aufgabe, wenn wir jede Eroberungspolitik auf der Balkanhalbinsel bekämpfen. Aber damit ist noch nicht genug getan! Es gilt vielmehr, dem italienischen Imperialismus die Möglichkeit zu nehmen, die breiten Massen des arbeitenden Volkes in seinen Dienst zu stellen und eine kapitalistische Eroberungspolitik in das Gewand einer nationalen Befreiungspolitik zu hüllen. Oesterreich hat es den italienischen Eroberungspolitikern bisher nur allzu leicht gemacht. Der Klerikalismus hat unsere Beziehungen zu dem »kirchenräuberischen Königreich« vergiftet. Die Schlacht von Adua ward in den österreichischen Klöstern wie ein nationaler Sieg gefeiert; was kümmerte es die frommen Herren, dass der Zusammenbruch der italienischen Kolonialpolitik in Afrika den italienischen Imperialismus auf den westlichen Balkan weisen und dadurch neue Gefahren für Oesterreich heraufbeschwören musste? Die nationalen Bedürfnisse der Italiener in Oesterreich – die leichter zu befriedigen sind als die jeder anderen österreichischen Nation – haben wir immer noch nicht erfüllt! So kann der italienische Imperialismus, lüstern nach der Ostküste des Adriatischen Meeres, immer noch mit leidenschaftlich übertriebenen Klagen über das traurige Los des »unerlösten Italiens« die Massen zur Feindschaft gegen Oesterreich aufstacheln. Auch hier züchten wir die Irredenta aus blinder Furcht vor ihr! Man gebe Triest seine Universität und dem Trentino seine Autonomie und wir wüssten nicht, welcher Waffen sich der Irreden tismus dann noch bedienen könnte. Dem italienischen Imperialismus ist dann sein Nährstoff genommen; solange er die Klagen Triests und Trients durch das Königreich tragen kann, deckt die grosse Ueberlieferung der Nation, die Fahne Garibaldis, die Eroberungsgelüste des Kapitalismus. Verstummt das Gerede von Triest und Trient – für Albanien wird der Imperialismus die Massen nicht in Bewegung setzen. Nicht nur im Innern, sondern auch nach aussen sichert uns nur die nationale Autonomie den Frieden.

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Fussnoten

1. Otto Bauer, Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie, Marx-Studien, II, Seite 187, 429 ff. (Sonderausgabe Seite 215, 494 ff.)

2. Vergl. Grünberg, Die handelspolitischen Beziehungen Oesterreich-Ungarns zu den Ländern an der unteren Donau, Leipzig 1902.

3. Eduard Bernstein hat vor kurzem die österreichisch-ungarische Verwaltung Bosniens als ein verdienstvolles Werk kolonialer Kulturpolitik gerühmt. Wäre es dies, so könnte es doch für Bernsteins Zweck recht wenig beweisen; die Verwaltung Bosniens lässt sich mit der Verwaltung einer Tropenkolonie nicht vergleichen, unser Warenaustausch mit den Bewohnern der okkupierten Provinzen trägt wirtschaftlich ganz anderen Charakter und zeitigt ganz andere soziale Wirkungen als die Ausbeutung Südwestafrikas oder Kameruns, des Kongostaates oder Indiens; schliesslich kann die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien schon darum nicht mit der typischen kapitalistischen Kolonialpolitik verglichen werden, weil die Bewohner Bosniens Volksgenossen zweier Nationen der Monarchie sind und weil ihre Wirtschaftsverfassung und ihre Kultur von der unserer Südslawen nicht allzusehr verschieden ist.

 


Leztztes Update: 6. April 2024