Otto Bauer

Die Steuerkraft der Nationen

(1. Juli 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 10. Heft, 1. Juli 1908, S. 446–452.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die tschechischen bürgerlichen Parteien, welche, um die ihnen so teuren »historisch-politischen Individualitäten« besorgt, Argumente gegen die nationale Selbstregierung suchen, finden ein solches in der Befürchtung, dass die wirtschaftlich schwächeren Nationen ihre kulturellen Institutionen aus eigener Kraft nur ungenügend ausbauen könnten. [1] Dieses Argument hat auch in den Reihen unserer tschechischen Genossen Widerhall gefunden. Die Leser unserer Zeitschrift kennen es aus den Ausführungen des Genossen Meissner im Märzhefte des Kampf.

Nun unterliegt es gewiss keinem Zweifel, dass die wirtschaftliche Kraft, das Vermögen und das Einkommen der Nationen, sehr verschieden sind. Je grösser der Anteil einer Nation an der industriellen und städtischen Bevölkerung ist, je mehr ihre Landwirtschaft in den Kreis der Warenproduktion einbezogen ist, je intensiver die landwirtschaftliche Produktion ist und über je bessere Differenzialrente tragende Böden sie verfügt, je stärker endlich eine Nation in den Klassen der Grossgrundbesitzer und Kapitalisten vertreten ist, desto grösser ist ihre wirtschaftliche Kraft.

Aber die Fähigkeit einer Nation, selbst für ihre kulturellen Institutionen zu sorgen, hängt nicht von ihrer wirtschaftlichen Kraft überhaupt, sondern von ihrer Steuerkraft ab. Die Höhe der Steuererträgnisse einer Nation wird ja nicht nur durch die Grösse des Einkommens ihrer Volksgenossen, sondern auch durch das Steuersystem bestimmt.

Unser Steuersystem ruht auf der breiten Basis der indirekten Steuern und der Finanzzölle. Wie der Proletarier einen weit grösseren Teil seines Einkommens für den Kauf der durch indirekte Steuern und Zölle belasteten Nahrungsund Genussmittel verwenden muss als der Besitzende, so ist auch die Leistung einer ärmeren Nation an indirekten Steuern verhältnismässig grösser als ihre direkte Steuerleistung. Könnten wir den autonomen Nationen ihren Anteil an den indirekten Steuern zuteilen, dann hätten auch die wirtschaftlich schwächeren Völker gewiss keinen Grund, zu fürchten, dass es ihnen an Mitteln fehlen wird, die für ihre kulturelle Entwicklung notwendigen Anstalten zu errichten und auszubauen. Dieser Vorschlag wäre aber – von den technischen Schwierigkeiten der Aufteilung ganz abgesehen – für Sozialdemokraten gewiss unannehmbar. Die ganze Entwicklung der Nationen würde sich ja dann auf Kosten des Proletariats vollziehen; das Interesse der Nationen würde jeder Ermässigung der indirekten Steuern widerstreiten; jeder Fortschritt der nationalen Bildungsinstitutionen müsste mit einer Erhöhung der indirekten Abgaben erkauft werden. Wir müssen also verlangen, dass die autonomen Nationen ihren Haushalt aus den Erträgnissen der direkten Steuern bestreiten.

Hier scheint es nun freilich, als hätten die ärmeren Nationen allen Grund, die wirtschaftlichen Folgen der nationalen Autonomie zu fürchten. Die Höhe der direkten Steuerleistung der Nation steht weit mehr als die Last an indirekten Abgaben, die sie trägt, im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Kraft: alle Verschiedenheiten der wirtschaftlichen Entwicklung der Nationen spiegeln sich daher in ihren Leistungen an direkten Steuern wider. Wo aber das Steuersystem Abweichungen zwischen dem Verhältnis der Einkommenshöhe zur direkten Steuerleistung hervorruft, dort haben auch sie die Wirkung, die Steuerkraft der wirtschaftlich weniger entwickelten Nationen zu verringern; insbesondere wirkt nach dieser Richtung die agrarische Tendenz unserer Steuergesetzgebung. [2] Wenn die Nationen, deren Angehörige überwiegend in der Landwirtschaft ihren Erwerb suchen, weit weniger steuerkräftig sind als die Industrievölker, so ist dies nicht nur auf die geringere wirtschaftliche Kraft der Agrarvölker, sondern auch darauf zurückzuführen, dass die Grundsteuer und die Hausklassensteuer einen geringeren Teil des Ertrages erfassen als die von der gewerblichen und städtischen Bevölkerung gezahlten Ertragsteuern und dass die Einkommen aus der Landwirtschaft der Personaleinkommensteuer in noch höherem Masse entzogen werden als die Einkünfte der anderen Berufsklassen. [3] Jede Veränderung unserer Steuergesetzgebung, insbesondere die Abtragung der agrarischen Privilegien würde die Steuerkraft der wirtschaftlich langsamer entwickelten Nationen beträchtlich steigern. Die agrarische Tendenz unserer Steuergesetzgebung erschwert die vollständige Durchführung der nationalen Autonomie. Sie schädigt wirtschaftlich die Industrievölker, indem sie ihnen eine im Verhältnis zu ihrem Volkseinkommen höhere Steuerlast auferlegt als den Agrarvölkern ; sie schädigt politisch die Agrarvölker, indem sie es ihnen erschwert, die Kosten ihrer Kulturanstalten aus der eigenen Steuerleistung aufzubringen und dafür die volle Selbstherrlichkeit einzutauschen.

Die Beseitigung der agrarischen Steuerprivilegien würde den Industrievölkern wirtschaftlichen Vorteil bringen, die heute einen unverhältnismässig grossen Teil der Staatseinnahmen aufbringen müssen, vor allem den Deutschen und den Italienern. Sie würde aber auch die Finanzkraft der schwächeren Nationen steigern: die Steuerkraft des tschechischen Landesteiles in Böhmen würde sofort beträchtlich steigen, wenn die böhmischen Latifundienbesitzer den letzten Rest ihrer alten Steuerfreiheit verlören. Nicht minder willkommen wäre die stärkere Steuerbelastung der Grossgrundbesitzer den ruthenischen Gebieten Galiziens und dem slowenischen Sprachgebiet.

Wollen wir nun die Steuerkraft der Nationen bei der heutigen Gestaltung unserer Steuergesetzgebung betrachten, so müssen wir das Problem zunächst territorial erfassen: wir fragen also zunächst nicht nach der Steuerkraft der Nationen, sondern nach der Steuerleistung der Bevölkerung der Gebiete, in denen die einzelnen Nationen die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Wertvolles Material dazu wurde in den statistischen Beilagen zur Wahlreformvorlage im Jahre 1906 veröffentlicht; Rauchberg hat aus diesem Material berechnet, wieviel Kronen an direkten Steuern in den Wahlbezirken der einzelnen Nationen auf den Kopf der Bevölkerung entfallen. Die grösste Steuerkraft hat nach dieser Tabelle merkwürdigerweise der slowenische Bezirk, in Triest, wo auf jeden österreichischen Staatsbürger K 54,6 an direkten Steuern entfallen. Sodann folgen die deutschen Bezirke Niederösterreichs mit K 42,6, dann die italienischen Bezirke Triests mit K 42,2. In weitem Abstand reihen sich sodann die Bezirksgruppen in der folgenden Reihenfolge an: zunächst die deutschen Wahlbezirke in Mähren, Steiermark, Böhmen, Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Tirol, Vorarlberg mit K 16,1 bis K 11,1 auf den Kopf der einheimischen Bevölkerung, sodann die italienischen Bezirke in Görz (K 10,9), die tschechischen Bezirke Böhmens, Mährens und Schlesiens (K 10,8 bis K 10,6), die polnischen (K 10,6) und dann erst die deutschen Bezirke Schlesiens (K 10,0), die deutschen Bezirke der Bukowina (K 9,2), die italienischen Bezirke in Istrien (K 8,6), die slowenischen Bezirke in Krain, Steiermark und Kärnten mit K 8,1 bis K 6,4, die polnischen Bezirke Galiziens (K 5,1), die rumänischen der Bukowina (K 4,7), die italienischen in Tirol (K 4,4) und dann die noch überwiegend hauswirtschaftlich lebenden Bauernvölker: die Serbokroaten in Istrien und Dalmatien, die Bewohner des deutschen Wahlbezirkes in Krain, die Slowenen in Kärnten, die Ruthenen in Galizien und in der Bukowina. Die slowenischen Bezirke Istriens schliessen mit einer Steuerleistung von K 2,7 auf je einen österreichischen Staatsbürger die Reihe. [4]

Dieser Berechnung liegt natürlich nur die territoriale Aufteilung der direkten Steuern zugrunde: es ist also zum Beispiel die Steuerleistung italienischer Hausbesitzer oder Kaufleute oder einer internationalen Aktiengesellschaft dem slowenischen Wahlbezirk in Triest, die Steuerleistung deutscher Kohlenbarone in Schlesien einem tschechischen oder polnischen Bezirk zugerechnet. Nur in Böhmen hat Rauchberg eine Ausnahme machen zu müssen geglaubt, indem er die Hälfte der Prager Steuerleistung den deutschen Bezirken Böhmens zugerechnet hat. Wird diese Inkonsequenz vermieden, dann steigt die Steuerleistung der tschechischen Bezirke Böhmens von K 10,8 auf K 12,2 auf je einen österreichischen Staatsbürger, während die Steuerleistung der deutschböhmischen Bezirke von K 15,2 auf K 12,9 sinkt.

Im Reichsdurchschnitt entfallen auf den Kopf der Staatsangehörigen Bevölkerung K 11,6 an direkten Steuern. Die deutschen Bezirke in allen Kronländern äusser in Vorarlberg, Schlesien, Krain und der Bukowina, die Italiener in Triest, aber auch die tschechischen Gebiete Böhmens haben eine höhere Steuerkraft; alle anderen Sprachgebiete (mit Ausnahme eines slowenischen Bezirkes) stehen hinter dem Reichsdurchschnitt zurück.

Trotz all ihrer Mängel zeigen diese Berechnungen sehr anschaulich, wie sehr die Steuerkraft der Nationen von der Volkszahl ihrer Städte, von dem Grade ihrer Industrialisierung und von dem Entwicklungsgrade ihrer Landwirtschaft abhängt. Deutsche und Italiener bilden die Mehrheit der Bevölkerung in den steuerkräftigsten Gebieten Oesterreichs. Ihnen folgen zunächst die Tschechen, in weitem Abstande erst die anderen Nationen. Stellen wir uns vor, dass die nationale Autonomie nach dem reinen Territorialprinzip durchgeführt und den einzelnen nationalen Selbstverwaltungsgebieten die direkten Steuern unseres heutigen Steuersvstems oder Zuschläge zu ihnen zugewiesen würden, dann erscheinen die Befürchtungen der slawischen Gegner unseres Nationalitätenprogramms nicht unbegreitlich.

Freilich dürfen wir wohl bezweifeln, ob es den steuerschwachen Gebieten heute besser geht, als es ihnen dann ergehen würde. Unter allen Verwaltungsaufgaben, die den autonomen Nationen zugewiesen werden sollen, ist die Schulverwaltung die wichtigste. Heute tragen nun die Gemeinden den grössten, die Länder einen nicht kleinen Teil der Schullasten; auch heute muss also das Siedlungsgebiet jeder Nation selbst für den grössten Teil seiner Schullasten aufkommen. [5] Die nationale Autonomie würde in dieser Hinsicht nichts ändern. Die Kosten der Hochschulen und eines grossen Teiles der Mittelschulen werden freilich vom Staat aufgebracht; aber es unterliegt keinem Zweifel, dass der Staat auch für die Hoch- und Mittelschulen der steuerkräftigen Nationen mehr aufwendet als für die der wirtschaftlich schwächeren Völker, dass diese auch heute, wo die Steuern aller Völker in einen Staatssäckel fliessen, ihr höheres Schulwesen im Verhältnis zu ihrer Volkszahl weniger vollkommen ausbauen können als jene. Recht anschaulich zeigt dies folgende Tabelle [6]:

 

Anteil an der Bevölkerung

Anteil an der
direkten
Steuerleistung
in Prozenten

Anteil an der
Gesamtzahl
der Gymnasien
und Realschulen

Deutsche

35,78

63,4

51,15

Tschechen

23,24

19,2

24,30

Polen

16,59

7,0

15,35

Andere Nationen

24,39

10,4

9,20

Die Deutschen sind steuerkräftiger als die Tschechen, diese tragen einen grösseren Teil der Steuerlast als die anderen Nationen. Dem entspricht nun der Anteil der Nationen an den Mittelschulen: die Deutschen haben einen weit grösseren Teil der Gvmnasien und Realschulen, als ihrer Volkszahl entspricht, bei den Tschechen entspricht der Anteil an den Mittelschulen annähernd ihrem Anteil an der Bevölkerung, bei den anderen Nationen bleibt jener hinter diesem weit zurück. Die nationale Autonomie auf Grund des reinen Territorialprinzips würde den Völkern die volle Herrschaft über ihr Schulwesen geben, finanziell aber für sie keine wesentliche Aenderung bedeuten. Sie hebt den Vorteil, der den höher entwickelten Nationen aus ihrer grösseren Steuerkraft fliesst, nicht auf, sie vergrössert auch nicht die finanziellen Lasten der schwächeren Nationen, sie macht aber alle Völker zu Herren ihrer Schule, ihrer Wohlfahrtspflege, ihrer lokalen Verwaltung.

Viel schwieriger erscheint das Problem, wenn wir uns die nationale Autonomie nicht auf der Grundlage des reinen Territorialprinzips aufgebaut denken, sondern annehmen, dass die nationalen Minderheiten innerhalb der einzelnen Verwaltungssprengel als öffentlichrechtliche Personenverbände konstituiert und ihnen wichtige Verwaltungszweige, insbesondere die Verwaltung des Schulwesens anvertraut werden. Es gibt nationale Minderheiten, die viel steuerkräftiger sind als die Volksmehrheit, in deren Mitte sie wohnen: so die Deutschen in den tschechischen Gebieten, die Polen in Ostgalizien, die Italiener in den südslawischen Ländern. Wird die Steuerkraft dieser Minderheiten den Selbstverwaltungskörpern ihres Wohngebietes entzogen, dann könnte dies freilich zu schwerer Schädigung der Mehrheit der Bevölkerung führen: so manche tschechische Gemeinde könnte ihr Schulwesen kaum ausreichend besorgen, wenn der deutsche FabriKant von jedem Beitrag für die Schulen der von ihm beschäftigten tschechischen Arbeiter befreit und nur der deutschen Minoritätsgemeinde zur Steuerleistung verpflichtet würde. Andererseits gibt es wieder zahlreiche proletarische Minderheiten – so zum Beispiel viele tschechische Minoritäten in den deutschen Städten Böhmens und Mährens, die Slowenen in Triest, die Ruthenen in polnischen Städten – die, auf die eigene Steuerkraft angewiesen, ausserstande wären, auch nur für ihre Volksschulen zu sorgen. Hier entstehen also weit schwerere Probleme als bei der Beschränkung der nationalen Autonomie auf die Selbstregierung der geschlossenen Sprachgebiete. Kein Wunder, dass die finanziellen Argumente vor allem gegen das Personalitätsprinzip gebraucht werden. Diese Probleme sind unlösbar, solange wir, in der bürgerlichen Auffassung der Steuerprobleme befangen, nur den Steuerzahler vor uns sehen; sie verschwinden, wenn wir uns auf den Ursprung des versteuerten Einkommens oder Ertrages besinnen und hinter dem Steuerzahler den Steuerträger entdecken.

Die bürgerliche Finanzwissenschaft geht von Beobachtungen auf dem Warenmarkt aus. Nur dort, wo eine Ware um den Betrag der Steuer verteuert und die Steuer auf diese Weise auf den Käufer »abgewälzt« wird, unterscheidet sie den Steuerzahler, der die Steuer abführt, vom Steuerträger, den die Steuer belastet. Unsere Betrachtung des Steuerwesens geht dagegen vom Arbeitsmarkt und Arbeitsprozess aus. Die Steuer, die ein wirtschaftliches Unternehmen entrichtet, ist nicht eine Gabe des Unternehmens an den Staat, sondern ein Teil des Erzeugnisses gesellschaftlicher Arbeit, den der Staat als Vertreter der Gesellschaft an sich zieht. Sie wird vom Unternehmer gezahlt; aber die Werte, die sie darstellt, sind Arbeitsprodukte, die andere geschaffen haben. Der Unternehmer ist Steuerzahler; Steuerträger aber sind jene, die die versteuerten Werte im Schweisse ihres Angesichts erzeugt haben.

Wir sehen vor uns vor allem die grosse Auseinandersetzung der Klassen: die Arbeiterklasse mit dem Werte ihrer Arbeitskraft abgefertigt, der Mehrwert in den Händen der Besitzenden. Soll die Steuer vom Ertrag des Unternehmens seinem zufälligen Besitzer zugerechnet werden oder sind die wirklichen Steuerträger nicht die Mehrwerterzeuger?

Wir sehen dann aber auch die vielfältigen Gesetze der Verteilung des Mehrwerts. Das Eigentum an Grund und Boden gibt dem Eigentümer die Macht, einen Teil des gesamten gesellschaftlichen Mehrwerts als Grundrente an sich zu ziehen. Aehnlich wirken Monopolbesitz und künstliche Monopole der grossen Kapitalsgruppen. Den Rest des Mehrwerts müssen die industriellen Kapitalisten mit dem Handels- und Bankkapital teilen. Was ihnen bleibt, verteilt sich auf die einzelnen Kapitalien je nach ihrer Grösse. So ist des einzelnen Gewinn nicht etwa nur der Ertrag der Mehrarbeit jener Proletarier, mit denen er selbst den Lohnvertrag geschlossen hat, sondern jeder Kapitalist ist ein Teilhaber an dem riesenhaften Gesamtunternehmen der ganzen Kapitalistenklasse, die vom Arbeitsertrag der ganzen Arbeiterklasse ihre Beute nimmt und sie auf die Teilhaber je nach Macht und Besitz verteilt. Die Arbeit der ganzen Gesellschaft speist die Quelle, aus der jeder individuelle Gewinn fliesst. Und wenn nun der einzelne einen Teil seines Gewinns als Steuer dem Staat abführen muss, kann dann er allein als Steuerträger gelten und nicht vielmehr jene, aus deren Arbeit jene Steuergelder zusammengeflossen sind?

Diese Betrachtungsweise des Steuerwesens ist für den Arbeiter selbstverständlich. Wir können sie nicht aufgeben, wo sie nationale Bedeutung gewinnt. Wir sehen die ruthenischen Bauern, nicht die polnischen Grundbesitzer als Träger der Grundsteuer an; können wir der ruthenischen Nation ihren Teil an dem Erträgnis der Steuer verweigern, die ruthenische Arbeit aufbringt, mag auch ein polnischer Grundherr sie abführen? Können wir die Reeder und Kaufleute von der Pflicht befreien, für die Schulen ihrer slawischen Arbeiter zu steuern, weil der Unternehmer ein Italiener ist? Und muss derselbe Grundsatz nicht auch Anwendung finden, wo ein deutscher Fabrikant tschechische Lohnarbeiter ausbeutet?

Ein Eisenwerk, eine Kohlengrube fordert von Tausenden Konsumenten verschiedener Nationalität ihren Tribut. Soll sie nur der Nation des Unternehmers steuern? Eine Eisenbahn durchzieht die Siedlungsgebiete mehrerer Nationen; bringen sie alle das Erträgnis des Unternehmens auf, so gebührt ihnen auch allen ein Teil der Steuer. Die Rente des Hausbesitzers fliesst aus der ganzen Entwicklung der Stadt, aus der Arbeit aller ihrer Bewohner; soll die Nationalität der Hausbesitzer über die Verteilung der Hauszinssteuer entscheiden?

So ist es denn für das Proletariat ein selbstverständlicher Grundsatz, dass die Steuern der wirtschaftlichen Unternehmungen der Nation der Steuerträger, nicht jener des Steuerzahlers zufallen sollen. Wohl wäre es sehr schwer und dem nationalen Frieden sehr gefährlich, wenn man die Nationalität der einzelnen Steuerträger ermitteln und etwa die Hauszinssteuer auf die Nationen, der die Mieter zugehören, verteilen, die Erwerbsteuererträge den Nationen je nach ihrem Anteil an der Arbeiterschaft der Steuer zahlenden Unternehmungen zuteilen wollte. Aber annähernd derselbe Erfolg lässt sich auch erreichen, wenn man zwar jeder Nation das Recht auf die Einkommensteuern ihrer Volksgenossen vorbehält, die Erträgnisse der Ertragsteuern in jedem Verwaltungssprengel aber auf die Nationen, die ihn bewohnen, nach einem bestimmten Schlüssel verteilt: nach der Zahl der Schüler in den Schulen der einzelnen Nationen, wie ich vorgeschlagen habe, oder nach der Bevölkerungszahl, wie Modráček rät. [7] Es wäre nutzlos, heute über Einzelheiten zu streiten; wir haben eine Maxime unserer Politik, die dem Bedürfnis des Proletariats entspricht und die Bedenken der Gegner beseitigt, wenn wir als Prinzip der Steuerverteilung den Grundsatz annehmen, dass jede Nation auf die Steuerkraft der ihr zugehörigen Steuerträger Anspruch hat, welcher Nationalität immer der Steuerzahler sein mag, der die Steuer abführt.

Die folgerichtige Durchführung dieses Grundsatzes würde zunächst die Steuerkraft der geschlossenen Sprachgebiete der ärmeren Nationen beträchtlich erhöhen. Zur Steuerleistung ihrer Bewohner würde ein aliquoter Teil der Steuererträge jener Unternehmungen zugeschlagen, die mit diesen Gebieten in wirtschaftlicher Verbindung stehen, so zum Beispiel ein Teil der Steuererträge der Banken, die ihnen Kredit gewähren, der Eisenbahnen, die ihr Gebiet durchqueren, der grossen Kohlen- und Eisenwerke und dergleichen, deren wirtschaftliches Monopol ihnen die Macht gibt, einen Teil des Wertprodukts jener Gebiete an sich zu ziehen.

Noch viel wirksamer wäre dieser Grundsatz, wenn er innerhalb der einzelnen Verwaltungssprengel die Aufteilung der Steuern auf die Mehrheits- und Minderheitsnation bestimmen würde. Man brauchte ihn nur auf die Hauszinssteuer anzuwenden und die Gefahren, die die Gegner der nationalen Autonomie befürchten, wären schon beseitigt! Wie erst, wenn er auch auf die anderen Ertragsteuern Anwendung fände!

Nun ist es freilich richtig, dass sich die wirtschaftlich stärkeren Nationen gegen eine solche Verteilung der Steuererträgnisse wohl wehren werden; denn unser Prinzip, für den Arbeiter eine notwendige Schlussfolgerung aus seiner Betrachtungsweise des Steuerwesens überhaupt, kann die Billigung des Bürgertums nicht linden. Darum brauchen wir aber nicht daran zu zweifeln, dass wir auch der Verwirklichung dieses Prinzips uns werden allmählich nähern können. Einmal wird die Einführung des Steuerträgerprinzips sich als unumgänglich erweisen, weil sonst die nationale Autonomie in vielen Verwaltungszweigen und Verwaltungsgebieten überhaupt nicht durchgeführt werden könnte. Zweitens werden die wirtschaftlich stärkeren Nationen sich desto leichter zu Zugeständnissen auch auf diesem Gebiet entschliessen, je gewisser sie ihrer Selbstherrlichkeit sind, je offenbarer es ist, dass ihr nationaler Besitzstand rechtlich gesichert und es darum nicht in ihrem Interesse gelegen ist, die kulturelle Entwicklung anderer Völker zu hemmen. Endlich dürfen wir nicht übersehen, dass im Kampfe um Steuerfragen selbst heute schon, obwohl doch die nationale Reizbarkeit durch eine unerträglich gewordene Verfassung täglich gesteigert wird, die nationalen Gesichtspunkte hinter die Klasseninteressen weit zurücktreten ; ist doch die agrarische Steuergesetzgebung, die die Deutschen belastet, die Agrarvölker begünstigt, von deutschen Parteien geschaffen worden! Man verbinde die Einführung des Steuerträgerprinzips mit der Beseitigung der Steuerprivilegien des grossen Grundbesitzes und wird sofort sehen, dass die wirtschaftlich höchstentwickelten Völker gegen eine solche Reform keine nationalen Einwendungen erheben können, ihre industriellen Klassen aber sie ihres wirtschaftlichen Inhalts wegen begriissen müssen.

Die nationale Selbstregierung ist eine Forderung der Demokratie. Sie hat an sich ebensowenig einen wirtschaftlichen Inhalt wie irgend eine demokratische Reform. Aber wie wir trotzdem auf allen Gebieten volle Selbstregierung verlangen, so müssen wir sie auch für die Nationen fordern. In der Tat sind gerade die ärmsten, am wenigsten steuerkräftigen Völker – Ruthenen, Südslawen, die Italiener in Tirol – einig im Verlangen nach der nationalen Selbstregierung, während sich als ihre grössten Gegner die Tschechen in Böhmen gebärden, deren Steuerkraft über dem Reichsdurchschnitt steht! Die nationalen Forderungen der Völker sind von einer grossen wirtschaftlichen Umwälzung, von einer Veränderung des Klassenaufbaus der Gesellschaft emporgetragen, sie sind aber keineswegs in erster Reihe finanzielle Probleme.

Indessen gibt es freilich besondere finanzielle Probleme der nationalen Autonomie. Das Prinzip der nationalen Selbstregierung gibt an sich keine Lösung dieser Fragen – so wenig, wie etwa das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz die wirtschaftlichen Unterschiede und Gegensätze aufhebt. Es bedarf also einer Ergänzung durch ein besonderes Finanzprogramm für die autonomen Nationen. Hier zeigt sich nun, wie die wirtschaftlichen und die politischen Forderungen der Völker einander ergänzen. Beseitigen wir die agrarischen Privilegien, die Ungleichheiten in der Steuerbelastung, dann bringen wir den Industrievölkern wirtschaftlichen Vorteil, indem wir ihre Steuerlast verringern, den Agrarvölkern politischen Nutzen, indem wir es ihnen möglich machen, ihre Kulturerfordernisse aus der eigenen Steuerleistung ihres Gebietes zu bestreiten und dafür die volle Selbstregierung einzutauschen. Führen wir das Steuerträgerprinzip in unsere Steuergesetzgebung ein, dann bringen wir umgekehrt den Agrarvölkern wirtschaftlichen Nutzen, den Industrievölkern politischen Vorteil, da sie erst dann die Zustimmung der anderen Nationen zu ihrer vollen Selbstregierung erlangen. Die Lösung der finanziellen Probleme der nationalen Autonomie ist nur möglich im Rahmen einer grossen Steuerreform. Sie wäre annehmbar für die slawischen Völker, denen sie das Steuerträgerprinzip brächte. Sie würde kein Opfer von den Deutschen heischen, die als das höchstentwickelte Industrievolk an der Beseitigung des Steuerprivilegs der Grossgrundbesitzer ein Interesse haben. Sie wäre doppelt willkommen dem Proletariat, dessen sozialen und nationalen Forderungen sie gleichzeitig entsprechen würde. Die Lösung der finanziellen Probleme der nationalen Autonomie liegt in einer Steuerreform, die die agrarischen Steuerprivilegien beseitigt und die Verteilung der Steuern auf die autonomen Nationen nach dem Steuerträgerprinzip vornimmt.

Dass wir von einer solchen Steuerreform noch ziemlich weit entfernt sind, muss wohl zugegeben werden. Da sie aber den wirtschaftlich führenden Klassen der Industrievölker ebenso frommt wie den ärmeren Nationen, wäre sie gewiss eher durchzusetzen als die staatsfinanzielle Utopie der Gegner der nationalen Autonomie. Diese wollen nämlich auf die nationale Autonomie erst dann eingehen, bis der Staat aus gemeinsamen Mitteln die Schulen aller Völker auf gleiche Höhe gehoben, die minder begünstigten Nationen den »saturierten« gleichgestellt haben wird. [8] Da der Staat lange Zeit das Schulwesen der Deutschen, Polen und Italiener begünstigt hat, möge er in den nächsten Jahren Tschechen, Ruthenen und Südslawen die Schulen schaffen, die sie brauchen – dann erst wird jede Nation die Kosten ihres Schulwesens selbst tragen können. [9] Welche Aussichten diese Forderung hat, mag die Tschechen die Leidensgeschichte der mährischen Universität lehren! Kann doch heute keine Nation ohne die gnädige Duldung des nationalen Gegners eine höhere Schule errichten! Die ungleiche Ausstattung des Schulwesens der österreichischen Nationen hat ihren Grund in der Tatsache, dass in diesem Staate Jahrhunderte lang historische und geschichtslose Nationen einander gegenüberstanden, dass jene in unsere Zeit ein reicheres Erbe mitgebracht haben als diese. Sie besteht fort, weil die ganze kapitalistische Gesellschaft von dem Gesetz beherrscht ist, dass grösserer Reichtum sich auch in höhere politische Macht und in reichere Kultur umsetzt. Wir können die Geschichte nicht ungeschehen machen und können durch keine Verfassungsreform die Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft aufheben. Wohl aber können wir den mündig gewordenen Völkern das Recht und die Kraft sichern, fürderhin rastlos und erfolgreich am Ausbau ihrer kulturellen Institutionen fortzuarbeiten.

* * *

Fussnoten

1. Vgl. zum Beispiel die Abhandlungen von Kramär, Koerner und Čelakovsky über die nationale Autonomie im laufenden Jahrgang der Česká revue.

2. Ueber den agrarischen Charakter unserer Steuergesetzgebung siehe insbesondere: Steinitzer, Die jüngsten Reformen der veranlagten Steuern in Oesterreich, Leipzig 1905; Schilder, Agrarische Bevölkerung und Staatseinnahmen in Oesterreich, Leipzig 1906; Wieser, Die Ergebnisse und die Aussichten der Personaleinkommensteuer in Oesterreich, Leipzig 1901; Wieser, Die Besteuerung der Stadt und des Kapitals in Oesterreich, Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, XVI. Bd., S. 185 ff. – Von dem veranlagten Bruttoeinkommen für das Jahr 1906 entfielen nur 7,49 Prozent auf das Bruttoeinkommen aus dem Grundbesitz, dagegen 38,22 Prozent auf das Einkommen aus Dienstbezügen. So gut verstehen Grossgrundbesitzer und Grossbauern das Geschäft der Steuerhinterziehung!

3. Ausserdem wirken noch andere Umstände nach derselben Richtung: so zum Beispiel die verschiedene Höhe der Hauszinssteuer in den einzelnen Reichsteilen; die verschiedene Bemessung des Katastralreinertrages; die aus dem früheren Steuersystem übernommene Verschiedenheit der Gesellschaftskontingente der einzelnen Steuergesellschaften bei der allgemeinen Erwerbsteuer; die örtliche Verteilung der der öffentlichen Rechnungslegung unterworfenem Unternehmungen, die eine höhere Erwerbsteuer bezahlen als Privatunternehmungen. mit gleichem Ertrage u. s. w. Alle diese Umstände. führen dazu, dass das Verhältnis zwischen dem Einkommen der Steuerzahler und ihrer Steuerleistung in den verschiedenen Reichsteilen ganz verschieden ist. Es liesse sich leicht zeigen, dass infolge dieser Umstände die direkte Steuerleistung gerade der wirtschaftlich rückständigen Gebiete noch kleiner ist, als dies ihrer wirtschaftlichen Kraft entspricht.

4. Ueber die Methode der Berechnung siehe Rauchberg, Die statistischen Unterlagen der österreichischen Wahlreform, Brünn 1907. S. 37 f.

5. Auch in den Ländern, welche von mehreren Nationen bewohnt sind, hat die steuerkräftigere Nation, selbst wenn sie die Minderheit ‚ist, auch bisher. ihr Schulwesen vollständiger ausbauen können als die wirtschaftlich schwächere. In Böhmen bildeten die Deutschen im Jahre 1900 37,27 Prozent der Bevölkerung, von allen Schulkindern waren 33,90 Prozent nur der deutschen, 4,16 Prozent der deutschen und der tschechischen Sprache mächtig; auf die deutschen Schulen entfielen aber im Jahre 1900 39,84 Prozent der Schulklassen und 39,64 Prozent der Lehrkräfte.

6. Die Daten über die Steuerleistung sind den Berechnungen Rauchbergs, die Angaben über die Zahl der Mittelschulen dem Berichte des Budgetausschusses des Abgeordnetenhauses über den Voranschlag des Unterrichtsministeriums für das Jahr 1908 entnommen.

7. Modráček, Otázka národní v sociální demokracii, Prag 1908.

8. Siehe zum Beispiel die schon erwähnte Abhandlung Koerners, ferner die Rede des Genossen Meissner auf dem Pilsner Parteitage der tschechischen Sozialdemokratie 1907. Vgl. Kampf I, Seite 44.

9. Die Wurzeln der Gegnerschaft gegen die nationale Autonomie werden sehr grell durch die Tatsache beleuchtet, dass diese Forderung nicht etwa von den arg vernachlässigten Ruthenen und Südslawen erhoben wird, sondern von den Tschechen, deren Anteil an den öffentlichen Schulen grösser ist als ihr Anteil an der Bevölkerung des Reiches!

 


Leztztes Update: 6. April 2024