August Bebel

Aus meinem Leben

Dritter Teil


Die nächsten Wirkungen des Gesetzes

Sobald der Reichstag am 17. September die erste Lesung beendet hatte und der Entwurf in die Kommissionsberatung ging, fuhr die Fraktion nach Hamburg, um dort mit dem Parteiausschuß zu beraten, welche Maßnahmen nach Inkrafttreten des Gesetzes ergriffen werden sollten. Im Ausschuß herrschte keineswegs eine gehobene Stimmung. Seit Auer von Hamburg nach Berlin übergesiedelt war, um in die Redaktion der Freien Presse einzutreten, war August Geib die einzige Person von Bedeutung in dem fünfgliedrigen Ausschuß. Geib fühlte sich infolgedessen isoliert und ohne eigentliche Stütze in einem Kampfe, wie er jetzt zu erwarten war. Auch war Geib, obgleich ein Mann von hoher Intelligenz, untadeliger Rechtschaffenheit und großer Sachkunde, der die Geschäfte mit Kaltblütigkeit und Ruhe erledigte, keine eigentliche Kampfnatur. Dem Feinde die Zähne zu zeigen und jedes Mittel anzuwenden, das ihm eine Niederlage beibringen konnte, das lag nicht in seinem Wesen. Dazu kamen noch zwei Umstände, die uns damals nicht bekannt waren, aber sein Verhalten erklärlich machten. Geib war herzkrank, wie sein baldiger Tod uns zeigte und ich gelegentlich einer Haussuchung bei ihm wahrnahm, der ich als unfreiwilliger Zeuge beiwohnte. Dann aber stellte sich auch zu unserer aller Überraschung nach seinem Tode heraus, daß seine materielle Lage nicht so war, wie man sie einschätzte. Er schien mäßig wohlhabend zu sein und ein Geschäft (Leihbibliothek) zu besitzen, das seinen Mann gut nährte. Das gemütliche Heim, das er sich mit Hilfe seiner Frau zu schaffen wußte, und die Gastfreundschaft, die er übte, unterstützten diese Auffassungen. Das war aber ein Irrtum. Hätte er zum Beispiel noch die Zeit der Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über Hamburg-Altona erlebt und wäre er dann als erster mit ausgewiesen worden, er wäre finanziell zusammengebrochen, und was dieses für den außerordentlich feinfühlenden Mann bedeutete, kann man sich vorstellen. Geib hätte also auch die Arbeitslast nicht leisten können, die ihm unter dem Gesetz, wenn auch nicht mehr als offiziellem Ausschußmitglied, erwuchs. An Gehalt war ebenfalls nicht zu denken.

Das alles mochte sich Geib sagen, und so erklärte er zu unserer unangenehmen Überraschung, daß er unter allen Umständen sein Amt niederlege und die Meinung habe, man solle die Partei auflösen, noch bevor das Gesetz in Kraft getreten sei, damit sie von der Polizei nicht aufgelöst werde. Mit Geibs Rücktritt war aber Hamburg als künftige Zentralstelle unmöglich.

Es gab zwischen uns und Geib eine lebhafte Auseinandersetzung. Es wurden die verschiedensten Vorschläge gemacht, wie man ihm seine Tätigkeit erleichtern könne. Er blieb aber bei seinem Vorsatz. Darauf erklärte ich, es sei doch ein Ding der Unmöglichkeit, daß die Partei keinen Zentralpunkt mehr habe, an den sich die Genossen in ihren Nöten um Rat und Hilfe wenden könnten. Lehne Hamburg ab, so schlüge ich Leipzig vor, und ich sei bereit, die Stelle Geibs als Kassierer von Mitteln, die zu schaffen angesichts der kommenden Opfer mir jetzt die wichtigste Tätigkeit zu sein schiene, zu übernehmen. Dementsprechend wurde beschlossen. Darauf händigte mir Geib die letzten 1000 Mark ein, die er noch in der Kasse hatte. Das war der Grundstock für meine künftige Tätigkeit als Finanzminister unter dem Sozialistengesetz.

Auch dem Drängen Geibs, sofort die Partei für aufgelöst zu erklären, da er nicht mehr sein Amt verwalten wolle, mußten wir nachgeben; denn es wäre eine Lächerlichkeit gewesen, für eine Galgenfrist von wenig Wochen noch einen provisorischen Ausschuß einzusetzen, bis die polizeiliche Auflösung erfolgte. So wurde denn beschlossen, mit einer Proklamation an die Partei heranzutreten und sie für aufgelöst zu erklären. Aber die Art, wie dies geschah, erregte Unzufriedenheit. Statt daß der Ausschuß oder das Zentralwahlkomitee, wie der Ausschuß genannt wurde, seit dem Tessendorf das Verbot der Parteiorganisation für Preußen durchgesetzt hatte, sich selbst in einer Proklamation an die Partei wendete, die Organisation für aufgelöst erklärte, ihre Ratschläge für ferneres Wirken machte und ihr Mut zusprach, erschien im Vorwärts eine Bekanntmachung des Sekretärs Derossi, die an Trockenheit des Tones und Schwächlichkeit des Inhalts kaum übertroffen werden konnte. Erst auf unsere Einsprache, daß die Bekanntmachung des Sekretärs nicht genüge und der Ausschuß mit der Namensunterschrift seiner Mitglieder die Parteiorganisation für aufgelöst erklären möge, erschien eine solche, datiert vom 15. Oktober, im Vorwärts vom 21. Oktober. Aber diese Proklamation verbesserte die Stimmung nicht. Das Komitee erklärte, daß es seine Auflösung der Polizeibehörde angezeigt habe, es also von jetzt ab eine zentralistische Organisation der Partei nicht mehr gebe, sonach auch keine planmäßige Organisation mehr. Damit sei es vorüber. Auch für Geldsendungen habe man keine Verwendung mehr. Man solle solche nicht mehr an Geib adressieren. Man ging noch weiter und forderte, daß, wenn noch irgendwo eine Parteimitgliedschaft bestehe, diese sich sofort auflösen sollte. Der Aufruf schloß: Einig in der Taktik, auch zur Zeit der Bedrängnis, sei die Gewähr für eine bessere Zukunft.

In der Hamburger Zusammenkunft war man einmütig der Ansicht, die Schläge abzuwarten, die nach Verkündung des Gesetzes gegen die Partei geführt würden, und danach seine Maßnahmen zu treffen. Unter keinen Umständen dürfe das Feld freiwillig geräumt werden. Es sei vorauszusehen, daß in erster Linie die Partei- und Gewerkschaftsorgane der Unterdrückung verfallen würden. Es bestanden zu jener Zeit 23 politische Organe, von denen 8 sechsmal wöchentlich, 8 dreimal, 4 zweimal und 3 einmal erschienen. Daneben bestand die Neue Welt als Unterhaltungsblatt. Weiter erschienen 14 Gewerkschaftsblätter. Die Mehrheit dieser Blätter wurde in 16 Genossenschaftsdruckereien hergestellt.

Mit der Unterdrückung dieser Preßorgane, erwartete man, würden sofort eine Menge Personen, als Redakteure, Expediteure, Kolporteure, Verwaltungsbeamte, Schriftsetzer, Hilfspersonen aller Art, brotlos. Um für alle diese brotlos gewordenen Personen nach Möglichkeit Hilfe zu schaffen, müßte man versuchen, an Stelle der unterdrückten neue Blätter zu gründen, die sich dem Gesetz anzubequemen versuchten. Hatten doch Lasker wie der Berichterstatter der Kommission bei der Beratung des Gesetzes erklärt, daß Blätter, die ihre Haltung änderten, nicht unterdrückt werden sollten. Aber respektiert wurden diese Zusagen nicht. Neben der Neugründung von Blättern solle man sich auf die Herstellung allgemein bildender Literatur werfen. Die Gründung von Blättern sei auch geboten, weil sie die bequemste und unverfänglichste Art bilde, die Verbindung unter den Parteigenossen aufrechtzuerhalten. Gelänge es nicht, in der einen oder anderen Form Hilfe zu schaffen, dann würde eine große Zahl der führenden Personen genötigt, ins Ausland zu wandern, was ein großer Verlust für die Partei sei. Als Sozialisten stigmatisiert, fänden sie angesichts der Stimmung in den Unternehmerkreisen keine Stellung, die überdies infolge der Krise Arbeitskräfte in Mengen zur Verfügung hätten.

Daß man sehr bald auch mit einer für die Parteiverhältnisse großen Zahl Ausgewiesener und deren dadurch in Not geratenen Familien werde rechnen müssen, daran dachten wir zunächst nicht. Auf Grund der Erklärungen, die während der Beratungen über den kleinen Belagerungszustand aus kompetentem Munde abgegeben wurden, hielten wir zunächst die Verhängung desselben für unwahrscheinlich. Wir täuschten uns. Noch ehe der Monat November zu Ende ging, wurde der kleine Belagerungszustand über Berlin verhängt. Ihm folgte im Jahre 1880 derjenige über Hamburg-Altona und Umgegend, dann über Harburg, Ende Juni 1881 über Stadt und Amtshauptmannschaft Leipzig usw. Wenn bei irgendeiner unter dem Sozialistengesetz getroffenen Maßregel, so erwies sich bei der Verhängung des kleinen Belagerungszustandes die „loyale“ Behandlung des Gesetzes als Lüge.

Sobald das Gesetz verkündet und in Kraft getreten war, fielen die Schläge hageldicht. Binnen wenigen Tagen war die gesamte Parteipresse mit Ausnahme des Offenbacher Tageblatts und der Fränkischen Tagespost in Nürnberg unterdrückt. Das gleiche Schicksal teilte die Gewerkschaftspresse mit Ausnahme des Organs des Buchdruckerverbandes, des Korrespondenten. Auch war der Verband der Buchdrucker, abgesehen von den Hirsch-Dunckerschen Vereinen, die einzige Gewerkschaftsorganisation, die von der Auflösung verschont blieb. Alle übrigen fielen dem Gesetz zum Opfer. Ebenso verfielen der Auflösung die zahlreichen lokalen sozialdemokratischen Arbeitervereine, nicht minder die Bildungs-, Gesang-und Turnvereine, an deren Spitze Sozialdemokraten standen, und die deshalb für sozialdemokratische Vereine erklärt wurden, in denen, wie die Phrase im Gesetz lautete, „sozialdemokratische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise“ zutage getreten seien.

Wer heute diese Phrase liest, wird sich kaum des Kopfschüttelns und wohl auch eines Lächelns enthalten können. Aber damals war es bitterer Ernst mit dieser Phrase. Mit einem Federzug vernichtete die Polizei, was durch viele Jahre unter großer Mühe und Opfern aller Art aufgebaut worden war.

Das Trümmerfeld des Zerstörten wurde erweitert durch die Verbote der nicht periodisch erscheinenden Literatur. Die Reihe der Verbote eröffnete das Berliner Polizeipräsidium. An der Spitze der ersten Leporelloliste von 84 Verboten stand wie zum Hohn Leopold Jacobys Es werde Licht. Dem blinden Eifer, zu verbieten, fielen auch eine Anzahl Schriften zum Opfer, die mit Sozialismus nicht das geringste zu tun hatten. So zum Beispiel August Röckels Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim und allerlei Gereimtes und Ungereimtes von William Spindler. Sogar die Schrift des ehemaligen österreichischen Ministers Professor Schäffle Die Quintessenz des Sozialismus wurde verboten, indes wurde das Verbot auf erhobene Beschwerde wieder aufgehoben.

Die Versuche, an Stelle der unterdrückten Blätter neue zu gründen, die nach Lage der Dinge außerordentlich vorsichtig redigiert werden mußten, mißlangen in den ersten Jahren fast alle. So versuchte man in Berlin nach der Unterdrückung der Freien Presse unter dem Titel der Berliner Tagespost ein farbloses Blatt zu gründen, das als Fortsetzung der Berliner freien Presse angesehen und sofort verboten wurde. Seine Herausgeber wurden deshalb zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Mit dem Vorwärts in Leipzig fielen eine Reihe hier erscheinender Provinzblätter: Volksblatt in Altenburg, Volksblatt für den 14. sächsischen Wahlkreis, Muldentaler Volksfreund, Groitzsch-Pegauer Volksblatt und Voigtländische freie Presse dem Gesetz zum Opfer. Ebenso fielen die Mitteldeutsche Zeitung, die Freie Presse und die Neue Leipziger Zeitung. 1879 folgten der Leipziger Beobachter, das Deutsche Wochenblatt und der Wanderer, als letztes Blatt wurde 1881 der Reichsbürger unterdrückt, nachdem zuvor noch ein kleines Witzblatt Das Lämplein den Weg des Sozialistengesetzes gegangen war. Nunmehr stellten wir in Leipzig auf Jahre hinaus jeden Versuch einer Blattgründung ein. Wir machten die Erfahrung, daß die Blätter stets dann verboten wurden, sobald der Abonnentenstand soweit gediehen war, daß er ihre Kosten deckte. Dadurch und durch verschiedene andere Wahrnehmungen mißtrauisch gemacht, entdeckten wir, daß wir einen Polizeispion in der Person eines unserer Expedienten im Geschäft sitzen hatten, dem natürlich sofort mit dem nötigen moralischen Fußtritt die Tür gewiesen wurde. Wir machten alsdann noch den Versuch mit einem bürgerlichen Verleger, unter dessen Firma gemeinsam ein Blatt herauszugeben. Dieses führte aber in Kürze zu Mißhelligkeiten, und so traten wir von dem Versuch zurück. Und da die gleichen Maßnahmen wie in Berlin und Leipzig fast überall gegen uns getroffen wurden, hatten wir im Lauf von wenigen Monaten für Hunderte von Existenzen und deren Familien zu sorgen. Von allen Seiten kamen die Hilferufe an uns nach Leipzig, denen wir selbst mit Aufbietung aller Kräfte nur zum kleinsten Teile gerecht werden konnten.

Parteigenossen, die damals den Ereignissen fern standen oder sich gar im Ausland in sicherer Hut befanden, haben später geglaubt, die „Untätigkeit“ der leitenden Personen scharf kritisieren zu müssen. Die guten Leute, aber schlechten Musikanten hatten keine Ahnung von dem wirklichen Zustand der Dinge, die wir öffentlich nicht mit der großen Glocke bekannt machen durften. Als Entschuldigung mag für den einen und anderen dieser Kritiker dienen, daß er auf Grund des Protokolls über den Wydener Kongreß urteilte. Aber dieses Protokoll ist irreführend. Es war frisiert und mußte genau so wie später das Protokoll über den Kopenhagener Kongreß frisiert werden, wollten wir uns nicht selbst denunzieren und bezichtigen. So wurden in diesen Protokollen zwar die Angriffe gegen die Parteileitung veröffentlicht, aber was diese zu ihrer Rechtfertigung zu sagen und überhaupt Wichtiges zu berichten hatte, wurde möglichst verschwiegen oder nur abgetönt wiedergegeben. Dies diente auch zur Irreführung der Behörden.

Im ersten Bande meiner Erinnerungen schrieb ich, die Jahre 1867 bis 1871 seien die arbeitsreichsten meines Lebens gewesen, von den drei Jahren Herbst 1878 bis Herbst 1881 darf ich sagen, es waren die unangenehmsten, weil sorgenvollsten meines Lebens. Und Arbeit gab es auch im Übermaß. Da ich zu jener Zeit durch meine geschäftliche Stellung vor materieller Sorge gesichert war, im Gegensatz zu Auer, Blos, Hasenclever, M. Kayser, Liebknecht, Motteler und vielen anderen, die mehr oder weniger zeitweilig dem Nichts gegenüberstanden, was war natürlicher, als daß in erster Linie die Last der Parteiarbeit und insbesondere auch die Sorge um die Beschaffung der materiellen Mittel auf mich fiel? Eine sechzehnstündige Arbeitszeit wurde für mich die Regel.

Es galt zunächst im Hause Ordnung zu schaffen, ehe man sich auf auswärtige Unternehmungen einließ. So wiesen wir – Liebknecht und ich – ein bald nach Verhängung des Sozialistengesetzes gemachtes Angebot, uns die Mittel für ein im Ausland erscheinendes Blatt zur Verfügung zu stellen, vorläufig zurück. Ich bemerke, um keine falschen Kombinationen aufkommen zu lassen, es war nicht Karl Höchberg, der uns dieses Angebot machte. Höchberg und Otto Freytag in Leipzig und eine kleine Zahl bemittelter Personen, die damals der Partei nahestanden oder zu ihr gehörten, lieferten die Mittel, damit wir der dringendsten Not abhelfen konnten. Denn die Sammlungen durch die Partei kamen erst allmählich in Fluß und wurden auch durch die von Ort zu Ort wandernden Ausgewiesenen in Anspruch genommen. Und die Zahl der Hilfsbedürftigen war namentlich in den ersten Jahren groß und wuchs beständig.

Unter solchen Verhältnissen war der Partei das Hemd näher als der Rock. Vor allem galt es zunächst, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, die im ersten Sturm des Sozialistengesetzes in Deroute geratenen Massen wieder zu sammeln und ihnen das Rückgrat zu steifen. Es ist ebenfalls eine falsche Darstellung, als seien damals die Führer die Kopflosen gewesen und als hätten die Massen die Partei retten müssen. Massen und Führer sind aufeinander angewiesen, die einen können ohne die anderen nicht wirken. Wohl gab es unter den Führern – das Wort im weitesten Sinne genommen – mehr Marodeure und Hasenfüße, als uns lieb war, doch die materielle Notlage der meisten entschuldigt vieles. Aber auch in den Massen, namentlich in den mittleren und kleinen Orten, herrschte vielfach Niedergeschlagenheit und Tatlosigkeit. Es bedurfte zahlreicher geheimer Zusammenkünfte und Versammlungen und energischer Agitation, um die mutlos Gewordenen aufzurichten und zu erneuter Tätigkeit anzuspornen. Und das gelang. Von dieser mühsamen, absolut notwendigen Tätigkeit konnte und durfte man außerhalb der Kreise der Beteiligten nichts sehen und hören lassen bei Strafe der Selbstdenunziation.

Während wir so in voller Tätigkeit waren, aus den Trümmern, die das Sozialistengesetz uns bis dahin geschaffen hatte, zu retten, was zu retten möglich war, wurden wir am 29. November mit der Nachricht überrascht, daß am Abend zuvor der Reichsanzeiger eine Proklamation des Ministeriums veröffentlichte, wonach der kleine Belagerungszustand über Berlin verhängt wurde. Dieser Hiobspost folgte am nächsten Tage die Mitteilung, daß 67 unserer bekanntesten Parteigenossen, darunter J. Auer, Heinrich Rackow, F.W. Fritzsche, bis auf einen sämtliche Familienväter, ausgewiesen worden seien. Einige mußten binnen 24 Stunden die Stadt verlassen, die meisten anderen binnen 48 Stunden, einigen wenigen räumte man eine Frist von drei Tagen ein. Die Nachricht von der Verkündigung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin rief eine gewaltige Aufregung in Berlin und außerhalb hervor. Niemand konnte sich die Gründe einer solchen Gewaltmaßregel erklären, selbst die bürgerlichen Blätter bis weit nach rechts äußerten Bedenken.

Als während der Beratung des Gesetzes bei § 28 (kleiner Belagerungszustand) der Abgeordnete Windthorst Bedenken äußerte, daß diese äußerste Maßregel leicht mißbräuchliche Anwendung finden könne, suchte ihn der Berichterstatter der Kommission, der Abgeordnete v. Schwarze-Dresden, durch die Erklärung zu beruhigen: „Es sind (für die Anwendung des § 28) ausdrücklich nur solche Fälle in Betracht genommen worden, wo ganze Bezirke oder Ortschaften durch die sozialdemokratischen Agitationen so unterwühlt sind, daß das allgemeine Bewußtsein von der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden der Bürger gestört ist; daß man erwarten kann, die öffentliche Sicherheit werde durch irgendwelche gewalttätige Ausbrüche gefährdet und gestört werden; daß mit einem Wort durch die gewöhnlichen, gegen einzelne Personen möglichen Maßregeln des Landesgesetzes die Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden nicht aufrechterhalten werden könnten.“ Ähnlich äußerte sich ein anderer konservativer Abgeordneter. Wären diese Erklärungen des Berichterstatters der Kommission, des Abgeordneten v. Schwarze, ehrlich von den Regierungen als Grundbedingung für die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes angesehen worden, man hätte ihn weder über Berlin noch über die anderen Städte im Bezirk, die später davon betroffen wurden, verhängen können. Kein ehrlicher Mann konnte behaupten, daß in jenen Städten und Bezirken Zustände vorhanden waren, wie sie der Abgeordnete v. Schwarze als Voraussetzung für die Anwendung des § 28 des Sozialistengesetzes für notwendig hielt. Es erwiesen sich eben alle jene Interpretationen und Zusagen, die man während der Beratung des Gesetzes zur Beruhigung bedenklicher Gemüter gemacht, jetzt als leere Ausreden, die keinen Pfifferling Wert hatten.

Für uns in Leipzig war durch die Berliner Massenausweisung die Situation sehr verbösert worden. Jetzt galt es aufs neue für die brot- und existenzlos gewordenen Genossen Stellung und für sie und ihre Familien während ihrer Existenzlosigkeit Mittel zum Unterhalt zu beschaffen. Auer ging nach Hamburg und fand dort an der neugegründeten „Gerichtszeitung“ Stellung. Rackow, der Geschäftsführer der Berliner Genossenschaftsbuchdruckerei, wanderte nach London aus. Eine kleine Zahl der ausgewiesenen Genossen schwamm über den „großen Teich“ nach den Vereinigten Staaten, die Mehrzahl kam nach Leipzig – darunter F.W. Fritzsche – und Hamburg. Um neue Mittel zu schaffen, verfaßte ich im Einverständnis mit den übrigen Komiteemitgliedern folgendes Rundschreiben, das ich an alle mir geeignet scheinenden Persönlichkeiten sandte.

„Leipzig, Datum des Poststempels.

Geehrter Herr!

Infolge von Vorgängen, die Ihnen hinlänglich bekannt geworden sein dürften, sind eine große Anzahl von Personen heimat- und existenzlos geworden und mit ihren Angehörigen bitterster Not überantwortet.

Diese Notleidenden soweit als möglich zu unterstützen und ihnen zu einer anderweitigen Existenz zu verhelfen, dürfte ein Gebot der einfachsten Menschenpflicht sein, und erlaube ich mir deshalb im Einverständnis einer Anzahl meiner Freunde, auch an Sie die dringende Bitte zu richten, ein Scherflein für die Notleidenden beitragen zu wollen und in gleichem Sinne im Kreise Ihrer Freunde zu wirken.

Ihren Beitrag wollen Sie gütigst unter der Adresse: Herrn M. Kobitsch, Dresden, an der Frauenkirche 6 und 7, oder an Frau J. Bebel, Hauptmannstraße 2, Leipzig, einsenden.

Gewissenhafter Verwendung eingehender Beträge und diskretester Behandlung der ganzen Angelegenheit dürfen Sie sich versichert halten.

Hochachtungsvoll A. Bebel.

Die vorsichtige Fassung des Rundschreibens zeigt, wie sehr wir im Dunkeln tappten. Wir mußten vorerst feststellen, wie weit wir auf Grund des Gesetzes würden gehen können, denn die Sammlung der Gelder konnte nicht verborgen bleiben. Tatsächlich erfolgte auch einige Monate später bei mir eine ergebnislos gebliebene Haussuchung und eine Anklage auf Grund des Sozialistengesetzes wegen verbotener Geldsammlungen. Ich wurde aber freigesprochen. Damals gingen die Gerichte noch nicht so weit, Sammlungen für die Ausgewiesenen zu bestrafen, später aber, als die Behörden solche Sammlungen ausdrücklich auf Grund des Sozialistengesetzes verboten, wurde die Rechtsprechung eine andere. Wir mußten jetzt die Sammlungen ausschließlich für die Familien der Ausgewiesenen vornehmen.

Meine Aufforderung zur Geldsammlung wurde von einem Erfolg gekrönt, den ich nicht erhofft hatte. Später, als die Handhabung des Gesetzes immer strenger wurde und die Zahl der Ausgewiesenen immer größer, veranstalteten auch einzelne Abgeordnete der Linken im Reichstag Geldsammlungen. Sogar der Abgeordnete Lasker, dem sehr bald das Gewissen wegen seiner Zustimmung zum Gesetz schlug, beteiligte sich an einer solchen.

Die Unterbringung der Ausgewiesenen in eine Arbeitsstelle wurde uns, wie ich schon ausgeführt, sehr schwer gemacht. Die wirtschaftliche Krise befand sich noch auf voller Höhe. Ein Überangebot von Arbeitskräften war in fast allen Branchen vorhanden. Und war es einem Ausgewiesenen geglückt, eine Stelle zu erhalten, flugs erschien die Polizei und denunzierte den armen Teufel seinem Arbeitgeber, der oft widerwillig den eben erst angenommenen Arbeiter entließ. Der mußte jetzt sein Ränzel aufs neue schnüren und zum Wanderstab greifen. Für Männer in vorgeschrittenen Jahren ein hartes Los.

Die fortgesetzten Ausweisungen und die Schikanierung der Ausgewiesenen durch die Polizei hatten aber einen Erfolg, den unsere Staatsretter nicht vorausgesehen. Durch die Verfolgungen aufs äußerste verbittert, zogen sie von Stadt zu Stadt, suchten überall die Parteigenossen auf, die sie mit offenen Armen aufnahmen, und übertrugen jetzt ihren Zorn und ihre Erbitterung auf ihre Gastgeber, die sie zum Zusammenschluß und zum Handeln anfeuerten. Dadurch wurde eine Menge örtlicher geheimer Verbindungen geschaffen, die ohne die Agitation der Ausgewiesenen kaum entstanden wären. Der Vorgang erinnert an die Verfolgung der Christen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch die römischen Cäsaren und ihre Werkzeuge. In die äußersten Winkel des Reiches vor den Verfolgungen flüchtend, predigten sie überall die neue Lehre, wegen der sie verfolgt wurden, und untergruben so am meisten das Reich, das sie als Umstürzler fürchtete. Es muß ausgesprochen werden, daß die Ausgewiesenen, meist kenntnisreiche energische Männer, damals der Partei die größten Dienste leisteten und ihr doppelt und dreifach vergalten, was die Partei an finanziellen Opfern für sie bringen mußte. Das kam auch allmählich unseren Feinden zum Bewußtsein. Von den Bürgermeistern der kleinen Städte und den Landratsämtern liefen fortgesetzt Klagen bei den höheren Instanzen ein über das Unheil, das diese Ausgewiesenen in ihren Bezirken anrichteten. So kam es, daß man vom Jahre 1886 an wenigstens in Berlin nur ganz ausnahmsweise auswies. Man sagte geradezu denjenigen, die man auf verbotenen Wegen ertappte, nachdem sie ihre Strafe verbüßt: Wir weisen euch nicht aus, draußen agitiert ihr, aber hier haben wir euch unten der Fuchtel und legen euch das Handwerk.

Mit welchen Augen ich die Lage Ende 1878 beurteilte, nachdem das Gesetz etwas über zwei Monate in Kraft gewesen war, mag folgender Brief vom 12. Dezember an Vollmar zeigen, der zu jener Zeit noch im Landesgefängnis zu Zwickau wegen Preßvergehens eine lange Straftat verbüßte.

„Wenn ich Sie so lange mit einigen Zeilen von mir warten lasse, so muß ich zu meiner Entschuldigung das alte Lied wiederholen: Überhäufung mit Arbeit. Die Maßregelungen, die Ausweisungen usw. haben mir eine Menge von Arbeiten gebracht, an die ich bei Kreierung des Gesetzes nicht gedacht. Statt daß es recht stille werden sollte, habe ich mehr zu tun wie die ganzen Jahre zuvor, und zum Glück setzt mich meine längere Anwesenheit hier in die Lage, wieder erledigen zu können, was mir sonst unmöglich wäre. Wir haben jetzt alle Hände voll zu tun, um für die existenz- und heimatlos Gewordenen das Nötige aufzubringen. Doch bin ich mit dem Resultat zufrieden. Trotz der erbärmlichen Zeiten – denn die Geschäfte gehen im allgemeinen sehr schlecht, und wir haben bis jetzt den ungünstigsten Winter, den wir in den letzten Jahren gehabt – opfern die Genossen, was sie vermögen, und beschämen so jene traurigen Wichte und jenes erbärmliche Lumpengesindel, welches sich namentlich jetzt in schamlosester Weise in der Presse zeigt.

Sie haben schwerlich einen Begriff davon, wie seit Monaten unausgesetzt und selbst jetzt, wo man uns mundtot gemacht, die liberale Preßmeute mit Beschimpfungen und Denunziationen über uns herfällt. Es ist eine böse Saat, die gesät wird, und sie wird keine guten Früchte bringen.

Ihre Ausweisung ist uns natürlich bekannt, selbstverständlich werden Sie appellieren, aber ebenso selbstverständlich ohne Erfolg. Jetzt darf man sich gegen Sozialdemokraten alles erlauben, Recht und Gesetz gibt es für uns nicht.

Am heitersten sind die Entscheidungen der hohen Reichskommission auf die Beschwerden gegen die Unterdrückungsmaßregeln; die übertrumpft noch die Polizei. Nach den letzten Vorgängen in Berlin übrigens selbstverständlich.

Kayser war diese Woche auch hier, er war noch stark gelb angelaufen; er will nach Breslau.

Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen, so wollen Sie mir nur ungeniert schreiben; was zu tun möglich ist, soll geschehen. Im übrigen bewahren Sie sich die nötige philosophische Ruhe. Wären Sie jetzt in der Freiheit, so würden Sie auch viel Ärger und Verdruß haben, für uns ist Deutschland heute nur Zuchthaus.

Herzliche Grüße von uns.
Ihr A. Bebel.

Erläuternd bemerke ich: Die Ausweisung, die Vollmar traf, sobald er das Gefängnis verließ, erfolgte auf Grund eines alten sächsischen Gesetzes, wonach jede mit Gefängnis bestrafte Person aus ihrem Wohnort ausgewiesen werden konnte. Von dieser Gesetzesbestimmung machte man zu jener Zeit gegen bestrafte Sozialdemokraten umfassenden Gebrauch. Insbesondere waren damals Max Kayser und Wilhelm Ufert, die durch das halbe Königreich von Ort zu Ort verfolgt wurden, die Gehetzten.

Meine Bemerkungen über die Reichskommission, über deren Wirksamkeit ich mich schon früher äußerte, mögen ergänzt werden durch einen Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen des verstorbenen Kultusministers Bosse, die erklärlich machen, daß diese Beschwerdekommission nicht anders handelte. Die Art ihrer Zusammensetzung sorgte dafür. Bosse schreibt unter dem 20. Oktober 1878:

„Zunächst brachte Bismarck die Ausführung des Sozialistengesetzes zur Sprache! Annahme im Bundesrat, dann sofort Vorlage an den Kronprinzen um schleunigste Publikation ... Als richterliche Mitglieder der Beschwerdekommission sind ihm die Mitglieder des Obertribunals v. Grävenitz, Clauswitz, Hahn und Delius als praktisch vollkommen zuverlässig bezeichnet worden. Der Justizminister schlug noch den Obertribunalrat v. Holleben vor und benützte den Anlaß, um – wie mir schien wenig taktvoll und geschickt – die preußischen Richter überhaupt als praktisch zuverlässig herauszustreichen. Fürst Bismarck meinte, wenn die preußischen Juristen alle so wären wie der Staatsanwalt Tessendorf, dann wären sie in der Rekursinstanz zu brauchen; aber die preußischen Staatsanwälte fühlten sich meist nicht als Regierungsbeamte, sondern als souveräne Richter. Den badischen Oberstaatsanwalt Kiefer bezeichnete er als abschreckendes Beispiel. An badische Richter könne man also für die Kommission nicht denken.“

Ein zweiter Brief, den ich fünf Monate später unter dem 28. März 1879 an Vollmar über unsere Lage schrieb, lautet:

„Ihr Brief vom 23. dieses ist in meinen Besitz gelangt. Ich hätte Ihnen schon längst geschrieben, wenn ich nicht fortgesetzt mit den widersprechendsten und häufig auch unangenehmsten Arbeiten überlastet wäre und infolgedessen allmählich in eine Aufregung gekommen bin, die mein Befinden zu keinem erfreulichen gemacht hat. Wenn man von allen Seiten um Rat und Hilfe angegangen wird, die volle Notwendigkeit dazu anerkennt und doch so wenig zu leisten vermag, so ist dies eine höchst unangenehme Situation. Was ich Ihnen, ich glaube schon einmal vor Monaten schrieb, die Krisis ruiniert uns materiell weit mehr als das Sozialistengesetz, gilt auch heute noch und mehr als früher in vollem Umfang. Die einzelnen Unternehmungen haben überall stetig an Halt verloren, und wenn das so fortgeht, so läßt sich mathematisch genau berechnen, wann sie aufhören, existenzfähig zu sein. Daß unter solchen Umständen namentlich bei den überall beschränkten Fonds weit mehr an eine Reduzierung als an eine Vermehrung der Arbeitskräfte gedacht werden muß, brauche ich nicht erst zu sagen.

Von unseren älteren und bekannteren Leuten sind Motteler und Kayser noch vollständig stellungslos, Wiemer hat die Fabrikation von Federhaltern aus Schilf ergriffen, Vahlteich will, da man ganz neuerdings ihn zwangsweise von hier fortgebracht – er wohnte unangemeldet hier –, in Chemnitz zur Schusterei greifen, der einarmige Seifert will es mit der Kolportage versuchen, Kayser, Hasenclever und Liebknecht werden zur Not noch hier gehalten, auf wie lange, wage ich bei dem Stand der Dinge nicht zu sagen, da die Neue Welt bedeutend an Abonnenten verloren hat und hart am Rande des Defizits steht und die anderen Unternehmungen sich auch nur soso durchschlagen. Wie in dieser Lage für Sie passende Stellung gefunden werden soll, weiß ich bei dem besten Willen nicht. Vielleicht ließe sich mit Übersetzungsarbeiten, welche in Broschürenform gedruckt und verbreitet werden können, aber selbstverständlich nicht der Gefahr der Unterdrückung ausgesetzt sein dürfen, etwas machen. Die hiesige Genossenschaft könnte sie in Verlag nehmen; doch wird dies immerhin nur eine mäßige Hilfe abwerfen. Ich will einmal mit Liebknecht reden, ob sich für auswärts eine Korrespondenz findet. Daß Sie bei S. nicht ankommen konnten, habe ich gefürchtet, S. ist furchtbar vorsichtig, bis zur Feigheit vorsichtig.

Da fällt mir eben ein, daß Sie vielleicht eine Korrespondenz an der von Curti und Rüegg in Zürich am 1. April gegründeten Züricher Post bekommen könnten. Als ich kurz nach Ostern dort war, waren sie mit dem Stand des Blattes zufrieden. Viel werden sie freilich nicht leisten können. Curti war früher einer der Redakteure der Frankfurter Zeitung, schreiben Sie direkt an ihn, Brief wird jedenfalls unter der Adresse der Zeitung ankommen, und berufen Sie sich auf mich, wenn Sie ihn persönlich nicht kennen.“

Unsere Verlegenheiten waren also nicht gering, aber sie mußten überwunden werden und sie wurden überwunden. Daß die Partei scheinbar alles geduldig über sich ergehen ließ, führte irre. Dem Reichskanzler paßte diese scheinbare Fügsamkeit gar nicht, er hätte am liebsten gesehen, wir ließen uns zu Putschen hinreißen. Von der geleisteten Minierarbeit hatte er keine Vorstellung. In jenen Tagen wurde ihm die Äußerung zugeschrieben: „Man muß die Sozialdemokratie so lange schikanieren und drangsalieren, bis sie losschlägt, um sie dann gründlich ausrotten zu können.“ Dieselbe Auffassung vertrat er noch gegen Ende des Gesetzes, als Wilhelm II. durch die Einberufung der internationalen Arbeiterschutzkonferenz und den bekannten Februarerlaß von 1890 andere Wege einschlug. Auch in anderen maßgebenden Kreisen, namentlich den militärischen, war der Glaube verbreitet, die Sozialdemokratie werde auf die Verkündung des Ausnahmegesetzes durch offenen Aufruhr antworten, und war überrascht, daß dies nicht geschah. Man sah darin nur einen Beweis unserer Feigheit. So erzählte mir im Frühjahr 1880 die Schwester des Philosophen Mainländer, deren persönliche Bekanntschaft ich gemacht hatte, sie sei vor kurzem einige Wochen zu Besuch in Berlin gewesen – die Dame wohnte in Offenbach – und sei bei dieser Gelegenheit in eine größere Gesellschaft gekommen, in der sich auch mehrere Gardeoffiziere befanden. Im Laufe des Abends sei die Unterhaltung auch auf die Sozialdemokratie gekommen, und da sei sie erschrocken über den Haß, den die Offiziere gegen uns bekundeten. So habe der eine geäußert: Hätten die Kerls den Mut loszuschlagen, wir wateten bis an die Knöchel in ihrem Blut.

Um aber auch die entsprechende Stimmung bei dem alten Kaiser gegen uns immer mehr zu schüren, unterhielt man ihn mit den schlimmsten Märchen über unsere angeblichen Pläne. So nur war es möglich, daß, als der alte Herr nach monatelanger Abwesenheit am 7. Dezember 1878 – neun Tage nach Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin – dorthin zurückkehrte, er zu den ihn begrüßenden Stadtverordneten äußerte: „Es ist bewiesen, daß weitverzweigte Verbindungen bestehen, mit dem ausgesprochenen Prinzip, die Häupter der Staaten zu beseitigen.“ Mit solchen Geschichten schüchterte man Wilhelm I. ebenso ein, wie man durch die gleichen Geschichten nachher unter dem Ministerium Feilitzsch Ludwig II. von Bayern vor der Sozialdemokratie ängstigte. Und man versuchte die gleichen Mittel bei Wilhelm II. anzuwenden. Mir haben Bekannte, die das kaiserliche Schloß besuchten, wiederholt berichtet, daß im Arbeitszimmer Wilhelms I. auf dessen Schreibtisch die bösesten Hetz- und Schandschriften über unsere Partei gelegen hätten. Zu welchem Zweck ist klar.

Den Herren da oben geht es wie anderen Sterblichen, sie glauben zu schieben und werden geschoben, sie glauben zu regieren und werden regiert.



Zuletzt aktualisiert am 1.7.2008