August Bebel

Aus meinem Leben

Dritter Teil


Ruhetage

Anfang November suchte ich mal wieder, diesmal in Leipzig, das Gefängnis auf, um die mir zuerkannten Gefängnisstrafen zu absolvieren. Liebknecht und Hasenclever hatten es bereits vor mir zu demselben Zweck bezogen, doch kamen wir nicht in Beziehungen zueinander. Ich hatte gehofft, da noch eine Revision in einer Strafsache wider mich vor dem Reichsgericht schwebte und ein Nachtragserkenntnis über die ergangenen Urteile erst nach Erledigung der Revision gefällt werden konnte, zu Weihnachten die Haft unterbrechen zu können. Das war wieder einmal eine Illusion. In dem Nachtragserkenntnis, daß schließlich gefällt wurde, wurden die mir zuerkannten fünf Monate auf vier Monate reduziert. Ich hatte also die Sicherheit, Anfang März aus der Haft entlassen zu werden.

Eine Annehmlichkeit des Leipziger Gefängnisses war, daß mich jede Woche einmal in Gegenwart eines Beamten meine Frau besuchen konnte. Als ich eines Tages mit dieser über meinen Dresdener Flugblattprozeß sprach, trat der Beamte an ein Schubfach, nahm ein Paket Flugblätter heraus und legte sie mir vor. Zu meiner Überraschung waren es Exemplare meines im Oktober 1881 in Dresden konfiszierten Flugblattes, die nach dem Urteil des Gerichts dem Feuertode hätten verfallen sollen. Auf meine verwunderte Frage, wie diese Blätter sich nach Leipzig verirrten, bekam ich die Antwort, die seien durchs ganze Land gewandert. Es schienen also auch die Beamten einen besonderen Geschmack an ihnen gefunden zu haben, denn Parteigenossen hatten es nicht verbreitet.

Es war nicht das einzige Mal, daß einem meiner Geisteserzeugnisse die Ehre einer so eigentümlichen Verbreitung zuteil wurde. In Dresden war eine Kiste mit zweihundert Exemplaren des Buches Die Frau und der Sozialismus konfisziert worden. Das Gericht sprach die Vernichtung der zweihundert Exemplare aus, sie sollten also den Tod im feurigen Ofen erleiden. Wie ich aber nachher aus sicherster Quelle erfuhr, erlitten diesen Feuertod nur wenige Exemplare, alle übrigen wanderten in die Hände der Gerichtsbeamten. Dem Verleger entging die Bezahlung für die konfiszierten zweihundert Exemplare, der Autor aber hatte die Genugtuung, die Schrift in Händen zu sehen, in die sie ohne die Konfiskation kaum gelangt wäre. So hat jede Sache in dieser Welt ihre schlechte und ihre gute Seite.

Während ich in der Haft war, wurde die Begründung der sächsischen Regierung für die erneute Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes über Leipzig und Umgegend bekannt. Als Hauptgrund war angeführt, daß wir beide, Liebknecht und ich, uns hart an der Grenze des Belagerungszustandsgebiets, in Borsdorf, niedergelassen hätten. Und um die Gefahr dieser Situation für das betreffende Gebiet auch äußerlich zu markieren, hatte man einen Gendarmenposten nach Borsdorf verlegt. Eine Anzahl Berliner Ausgewiesene, die von Berlin kommend eines Tages uns von Leipzig aus in Borsdorf besuchten, wurden nach ihrer Rückkehr in Leipzig einer körperlichen Untersuchung unterzogen. Das war zwar alles sehr lächerlich, aber das nennt man bei uns „regieren“.

Unter dem 22. Dezember schickte mir Engels eine Antwort auf meinen Brief vom 10. November, in der er unter anderem schrieb:

Lieber Bebel!

Ich hoffe, Du kommst übermorgen auf vierundzwanzig Stunden los und so ohne Schwierigkeit in Besitz dieser Zeilen.

Die Stelle meines letzten Briefes, die Dir energisch vorkam, besagt weiter nichts, als daß ich eine Aufhebung des Ausnahmegesetzes erwarte von Ereignissen, die entweder selbst revolutionärer Natur sind (ein neuer Schlag oder Einberufung einer Nationalversammlung in Rußland zum Beispiel, wo sich die Rückwirkung auf Deutschland sofort zeigen würde) oder doch die Bewegung in Gang bringen und die Revolution vorbereiten (Thronwechsel in Berlin, Tod oder Abgang Bismarcks, beides mit fast unvermeidlicher ›neuer Ära‹).

Die Krisis in Amerika scheint mir wie die hiesige und wie der noch nicht überall gehobene Druck auf der deutschen Industrie keine richtige Krisis, sondern Nachwirkung der Überproduktion von der vorigen Krisis her. Der Krach in Deutschland wurde das vorige Mal durch den Milliardenschwindel verfrüht, hier und in Amerika kam er zu normaler Zeit 1877. Nie aber sind während einer Prosperitätsperiode die Produktionskräfte so gesteigert worden wie von 1871 bis 1877, daher ähnlich wie 1837 bis 1842 am chronischer Druck hier und in Deutschland auf den Hauptindustriezweigen, besonders Baumwolle und Eisen. Die Märkte können alle die Produkte noch immer nicht verdauen; da die amerikanische Industrie der Hauptsache nach noch immer für den geschützten inneren Markt arbeitet, kann dort eine lokale Zwischenkrise bei der raschen Vermehrung der Produktion sehr leicht entstehen. Sie dient aber schließlich nur dazu, die Zeit abzukürzen, in der Amerika exportfähig wird und als gefährlicher Konkurrent Englands auf dem Weltmarkt erscheint. Ich glaube daher nicht – und Marx ist derselben Ansicht –, daß die wirkliche Krisis viel vor der richtigen Verfallzeit kommen wird.

Einen europäischen Krieg würde ich für ein Unglück halten, diesmal würde er furchtbar ernst wer den, überall den Chauvinismus entflammen auf Jahre hinaus, da jedes Volk um die Existenz kämpfen würde. Die ganze Arbeit der Revolutionäre in Rußland, die am Vorabend des Sieges stehen, wäre nutzlos, vernichtet; unsere Partei in Deutschland würde momentan von der Flut des Chauvinismus überschwemmt und gesprengt, und ebenso ging’s in Frankreich. Das einzig Gute, was herauskommen könnte, die Herstellung eines kleinen Polens, kommt bei der Revolution ebenfalls, und zwar von selbst heraus, eine russische Konstitution im Falle eines unglücklichen Krieges hätte eine ganz andere, eher konservative Bedeutung als eine revolutionär erzwungene. Ein solcher Krieg, glaube ich, würde die Revolution um zehn Jahre aufschieben, nachher würde sie freilich um so gründlicher. Übrigens war wieder Krieg in Sicht. Bismarck hat mit der österreichischen Allianz geradeso demonstriert wie 1867 bei der Luxemburger Affäre mit den süddeutschen Bündnissen. Ob es im Frühjahr zu etwas kommt, müssen wir abwarten.

Deine Mitteilungen über den Stand der deutschen Industrie waren uns sehr interessant, namentlich die ausdrückliche Bestätigung, daß der Kartellvertrag der Eisenproduzenten gesprengt ist. Das konnte nicht vorhalten, am allerwenigsten bei deutschen Industriellen, die ohne die kleinlichste Beschummelei nicht leben können. Die Meyerschen Sachen haben wir hier bis jetzt nicht gesehen, und so hast Du uns da auch was Neues erzählt. Daß Marx neben seinen Kardinälen figurieren würde, war zu erwarten es machte Meyer immer ein ganz besonderes Vergnügen, wenn er von Kardinal Manning direkt zu Marx gehen konnte, das verschwieg er dann nie.

In seinen Sozialen Briefen war Rodbertus nahe daran, dem Mehrwert auf die Spur zu kommen, aber näher kam er nicht. Sonst wäre sein ganzes Dichten und Trachten, wie dem verschuldeten Landjunker zu helfen sei, am Ende gewesen, und das konnte der gute Mann nicht wollen. Aber wie Du sagst, er ist viel mehr wert als die Masse der deutschen Vulgarökonomen inklusive der Kathedersozialisten, die ja nur von unseren Abfällen leben. –––

Ich habe gestern das letzte Manuskript zur Broschüre nach Zürich geschickt, nämlich einen Anhang über die Markverfassung und eine kurze Geschichte der deutschen Bauern überhaupt. Da der Maurer sehr schlecht erzählt und viel durcheinander wirft, kommt man bei erster Lesung den Sachen schwer auf die Spur. Sobald ich also Aushängebogen erhalte, schicke ich Dir die Geschichte, da sie den Maurer nicht einfach auszieht, sondern auch indirekt kritisiert und noch vieles Neue enthält. Es ist die Erstlingsfrucht meiner seit einigen Jahren betriebenen Studien über deutsche Geschichte, und es freut mich sehr, daß ich sie nicht zuerst den Schulmeistern und sonstigen ›Gebildeten‹, sondern den Arbeitern vorlegen kann.

Jetzt muß ich schließen, sonst kann ich den Brief für die Abendpost nicht mehr einschreiben lassen. Die Preußen scheinen noch nicht so weit zu sein, auch eingeschriebene Briefe zu bestiebern, bis jetzt kommt alles in normalem Zustand an, lange Übung hat mich gelehrt, das ziemlich sicher zu beurteilen.

Deine Frau bitte ich, einliegende Weihnachtskarte und meine beste Empfehlung akzeptieren zu wollen.

Dein F.E.



Zuletzt aktualisiert am 1.7.2008