Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

IV. Die Praxis der Vernunft in der Physischen Wissenschaft

Obgleich wir auch die Vernunft an sinnliches Material, an physische Objekte gebunden wissen und Wissenschaft demnach niemals etwas anderes als Wissenschaft des Physischen sein kann, mögen wir doch, anlehnend an die herrschende Anschauung und dem Sprachgebrauch ge­mäß, die Physik von der Logik und Ethik trennen und sie als verschiedene Formen der Wissenschaft unterscheiden. Es gilt dann nachzuweisen, dass sowohl in der Physik wie in der Logik, wie in der Moral die allgemeinen oder geisti­gen Erkenntnisse nur auf Grund besonderer, d. h. sinn­licher Tatsachen zu praktizieren sind.

Diese Praxis der Vernunft, den Gedanken aus der Mate­rie, die Erkenntnis aus der Sinnlichkeit, das Allgemeine aus dem Besonderen zu erzeugen, ist denn in der physischen Forschung auch allgemein, jedoch nur praktisch anerkannt. Man verfährt induktiv und ist sich dieses Verfahrens be­wußt, aber man verkennt, dass das Wesen der Natur­wissenschaft das Wesen des Wissens, der Vernunft über­haupt ist. Man mißversteht den Denkprozeß. Man er­mangelt der Theorie und gerät deshalb nur zu oft aus dem praktischen Takt. Das Denkvermögen ist der Naturwissen­schaft immer noch ein unbekanntes geheimnisvolles my­stisches Wesen. Entweder sie verwechselt materialistisch die Funktion mit dem Organ, den Geist mit dem Gehirn, oder glaubt idealistisch es als ein unsinnliches Objekt außer­halb ihres Gebietes gelegen. Wir sehen die modernen For­scher in physischen Dingen meist festen, einhelligen Schrittes ihrem Ziele entgegengehen; jedoch an abstrak­teren Verhältnissen dieser Dinge blindlings „umher­tappen“. Die Methode der Induktion hat sich bei der Naturwissenschaft praktisch eingebürgert und durch ihre Erfolge Ruf erworben. Die spekulative Methode anderer­seits ist durch Erfolglosigkeit diskreditiert. Von einem be­wußten Verständnis dieser verschiedenen Denkweisen ist man weit entfernt. Wir sehen die Männer der physischen Forschung abseits ihres speziellen Terrains, in allgemeinen Fragen, spekulative Produkte als wissenschaftliche Tat­sachen advokatorisch geltend machen. Obgleich man die speziellen Fachwahrheiten nur mittelst der sinnlichen Er­scheinung produziert, glaubt man spekulative Wahrheiten doch aus der Tiefe des eigenen Geistes schöpfen zu können. Hören wir Alexander von Humboldt, wie er eingangs seines „Kosmos“ sich mit der Spekulation auseinander­setzt. „Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Ein­heit zu erkennen; von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzten Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen; der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die engen Grenzen der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer An­schauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen. In meinen Betrachtungen über die wissenschaftliche Behandlung einer allgemeinen Weltbeschreibung ist nicht die Rede von Einheit durch Ableitung aus wenigen von der Vernunft gegebenen Grundprinzipien. Es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen als eines Natur-ganzen. Ich wage mich nicht auf ein Feld, was mir fremd ist. Was ich physische Weltbeschreibung nenne, macht da­her keinen Anspruch auf den Rang einer rationellen Wissen­schaft der Natur . . . Dem Charakter meiner früheren Schriften, wie der Art meiner Beschäftigungen treu, welche Versuchungen, Messungen, Ergründung von Tatsachen ge­widmet waren, beschränke ich mich auch in diesem Werke auf eine empirische Betrachtung. Sie ist der alleinige Boden, auf dem ich mich weniger unsicher zu bewegen verstehe.“ In demselben Hauche sagt Humboldt, dass „ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“, und sagt wieder, dass, im Gegensatz zu seiner empirischen Wissenschaft, „ein denkendes (soll heißen, spekulatives) Erkennen, ein vernunftmäßiges Begreifen des Universums ein noch erhabeneres Ziel darbieten würde“. „Ich bin weit entfernt, Bestrebungen, in denen ich mich nicht versucht habe, darum zu tadeln, weil ihr Erfolg bis­heran sehr zweifelhaft geblieben ist.“ (1. Bd. Seite 68)

Die Naturwissenschaft teilt nun mit Humboldt das Be­wußtsein, dass die Praxis der Vernunft in der physischen Wissenschaft einzig darin besteht, „in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen“. Aber andererseits, obgleich sie auch ihren Glauben an die Spekulation, an das „vernunft­mäßige Erkennen“, nicht immer so deutlich ausspricht, beweist sie doch durch Anwendung der spekulativen Me­thode in Behandlung sogenannter philosophischer Themen – wo man die Einheit aus der Vernunft statt aus der mannigfaltigen Sinnlichkeit zu erkennen vermeint —, sie beweist dort durch den absoluten Mangel an Einhelligkeit, dadurch, dass sie das Unwissenschaftliche der uneinigen Meinungen verkennt, wie sehr sie die wissenschaftliche Praxis mißversteht, wie sie außer der physischen noch eine metaphysische Wissenschaft glaubt. Die Verhältnisse zwi­schen Erscheinung und Wesen, Wirkung und Ursache, Stoff und Kraft, Materie und Geist sind doch wohl phy­sische Verhältnisse. Aber was Einhelliges lehrt davon die Wissenschaft? Ergo, das Wissen oder die Wissenschaft ist eine Arbeit, welche, wie die Wirtschaft des Bauern, nur noch praktisch, aber nicht wissenschaftlich, nicht mit Voraus­bestimmung des Erfolgs gepflegt ist. Das Erkennen, d. h., die Ausübung des Erkennens wird in der physischen Wissen­schaft wohl verstanden, wer wird es leugnen? Aber das In­strument dieser Erkenntnis, das Erkenntnisvermögen ist mißverstanden. Wir finden, dass die Naturwissenschaft, statt die Vernunft wissenschaftlich zu applizieren, damit experimentiert. Warum? Weil sie die Kritik der Vernunft, die Wissenschaftslehre oder Logik vernachlässigt.

Wie Stiel und Klinge genereller Inhalt des Messers, so erkannten wir als generellen Inhalt der Vernunft das Gene­relle selbst, das Allgemeine. Wir wissen, dass sie diesen In­halt nicht aus sich, sondern aus dem gegebenen Objekt er­zeugt, und kennen dies Objekt als die Summe alles Natür­lichen oder Physischen. Das Objekt ist also ein unermeß­liches, unbegrenztes, absolutes Quantum. Dies unbegrenzte Quantum erscheint in begrenzten Quantitäten. In Behand­lung relativ kleiner Quantitäten der Natur ist man sich des Wesens der Vernunft, der Methode des Wissens oder Er­kennens wohl bewußt. Es bleibt uns nachzuweisen, dass auch die großen Naturverhältnisse, deren Behandlung streitbar ist, in ganz derselben Art zu erkennen sind. Ur­sache und Wirkung, Geist und Materie, Kraft und Stoff sind solche große, weite, breite, allgemeine physische Gegen­stände. Wir wollen dartun, wie der allgemeinste Gegensatz zwischen der Vernunft und ihrem Objekt den Schlüssel her­gibt, die großen Gegensätze aufzuschließen.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007