Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

V. „Praktische Vernunft“ oder Moral

a) Das Weise, Vernünftige

Die begriffene Methode des Wissens, das Verständnis des Geistes ist bestimmt, die Probleme der Religion und Philo­sophie alle zu lösen, die großen oder allgemeinen Unerklär­lichkeiten gründlichst zu erklären und somit die Forschung ihrem Berufe, der Erkenntnis empirischer Detailverhält­nisse ganz und ungeteilt zurückzugeben. Verstehen wir als Gesetz der Vernunft, dass sie zu ihrer Betätigung sinnliches Material voraussetzt, einer Ursache bedarf, so wird damit die Frage nach der ersten oder allgemeinen Ursache über­flüssig. Die menschliche Vernunft ist dann als erste und letzte, als schließliche Ursache aller besondern Ursachen erkannt. Verstehen wir als Gesetz, dass die Vernunft zu ihrer Tätigkeit notwendig Gegebenes, einen Anfang be­darf, mit dem sie anfängt, so muss die Frage nach dem ersten Anfang geistlos werden. Verstehen wir, dass die Ver­nunft abstrakte Einheiten aus konkreten Mannigfaltig­keiten entwickelt, dass sie die Wahrheit aus Erschei­nungen, die Substanz aus Akzidenzen konstruiert, alles nur als Teil eines Ganzen, als Individuum einer Gattung, als Eigenschaft einer Sache gewahr wird, dann muss wohl die Frage nach dem „Ding an sich“, nach einem Realen, welches selbständig den Erscheinungen zugrunde liegt, zu einer unerquicklichen Frage werden. Kurz, das Ver­ständnis von der Unselbständigkeit der Vernunft läßt uns das Begehr nach selbständiger Erkenntnis als unvernünftig erkennen.

Wenn auch nun die Hauptangelegenheiten der Meta­physik, die Ursache aller Ursachen, der Anfang der An­fänge, das Wesen der Dinge, unserer heutigen Wissenschaft wenig Quästion machen, wenn auch die Bedürfnisse der Gegenwart über die Spekulation mächtig geworden sind, so reicht diese praktische Beseitigung doch nicht aus zur Auflösung ihrer Konsequenzen. Solange es nicht als ein theoretisches Gesetz verstanden ist, dass die Vernunft in jeder Praxis ein sinnlich gegebenes Objekt bedarf, wird man das objektlose Denken, diese Unart der spekulativen Philosophie, welche Erkenntnisse ohne Begattung mit einem sinnlichen Gegenstande erzeugen will, niemals unter­lassen können. Unsere Naturforscher zeigen uns das sehr deutlich, sobald sie von ihren handgreiflichen an abstrakte Gegenstände gelangen. Der Zank in Fragen der Lebens­weisheit, der Sittlichkeit, der Streit über das Weise, Gute, Rechte, Schlechte zeigt, dass man hier an der Grenze wissenschaftlicher Einhelligkeit angekommen. Die exak­testen Forscher verlassen im sozialen Leben täglich ihre induktive Methode und verirren sich in philosophische Spekulation. Wie in der Physik an unsinnliche physikalische Wahrheiten, an „Dinge an sich“, so glaubt man hier an das Vernünftige, Weise, Rechte, Schlechte „an sich“, an ab­solute Lebensverhältnisse, d. h. an unbedingte Bedingungen, Hier gilt es, das gewonnene Resultat, die Kritik der reinen Vernunft in Anwendung zu bringen.

Indem wir das Bewußtsein, das Sein des Wissens, die geistige Tätigkeit (nach ihrer allgemeinen Form) als Ent­wicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen erkannten, ist es Umschreibung, wenn wir sagen, die Vernunft ent­wickelt ihre Erkenntnisse aus Gegensätzen. Unter ge­gebenen Erscheinungen von verschiedenem Umfang und verschiedener Dauer das Sein am Schein und den Schein am Sein zu kennen; unter Bedürfnissen von verschiedener Dringlichkeit das Wesentliche, Notwendige durch minder Dringliches und umgekehrt das Unwesentliche mittelst des Notwendigen zu unterscheiden; innerhalb verschiedener Größen das Große am Kleinen und das Kleine am Großen, kurz, die Gegensätze der Welt aneinander zu messen, durch Auseinandersetzung zu vereinbaren, ist das Wesen des Geistes. Der Sprachgebrauch nennt instinktiv erkennen auch ermessen. Messen benötigt einen gegebenen Maßstab. Sowenig wir Objekte zu kennen vermögen, welche „an sich“ groß oder klein, hart oder weich, klar oder trüb sind, so wahr diese Prädikate Verhältnisse bezeichnen, so nötig sie einen Maßstab voraussetzen, auf Grund dessen die Be­stimmung statthat, so nötig bedarf die Vernunft einen Maßstab zur Ermittlung des Vernünftigen.

Wenn wir Handlungen, Einrichtungen, Begriffe, Ma­ximen anderer Zeiten, Völker oder Personen unvernünftig finden, rührt das einfach aus der Anlegung eines ver­kehrten Maßstabes, weil man von den Voraussetzungen, von den Verhältnissen absieht, auf Grund deren die fremde Vernünftigkeit von der eigenen differiert. Wo die Menschen in ihrem geistigen Ermessen, wo sie in ihren Erkenntnissen auseinandergehen, verhalten sie sich gegeneinander wie die Thermometer von Réaumur und Celsius, wovon das eine den Siedepunkt mit 80 bezeichnet, während das andere ihn 100 nennt. Ein verschiedener Maßstab ist die Ursache eines verschiedenen Resultats. Auf sogenanntem mora­lischem Gebiet fehlt jene wissenschaftliche Einhelligkeit, deren wir uns in physischen Materien erfreuen, weil uns dort der einhellige Maßstab fehlt, über welchen sich die Natur­wissenschaft längst verständigt hat. Das Vernünftige, Gute, Rechte usw. will man ohne Erfahrung, ohne Beihilfe der Empirie, spekulativ erkennen. Die Spekulation will die Ursache aller Ursachen, die maßlose Ursache; die Wahrheit „an sich“, die voraussetzungslose, maßlose Wahrheit; das maßlos Gute, maßlos Vernünftige usw., Maßlosigkeit ist das Prinzip der Spekulation, unbeschränkte Zerfahrenheit, d. h. Mißhelligkeit ihre Praxis. Wenn die Angehörigen irgendeiner positiven Religion in betreff ihrer Moral einig gehen, so haben sie das dem positiven Maßstab zu danken, welchen Dogmen, Lehren und Gebote ihrer Vernunft an die Hand geben. Wenn wir andererseits aus reiner Vernunft erkennen wollen, wird sich die Abhängigkeit derselben von irgendeinem Maßstabe durch unreine, d. h. individuelle Erkenntnisse beweisen.

Maß der Wahrheit oder Wissenschaft überhaupt ist die Sinnlichkeit. Das Maß der physischen Wahrheiten sind die Erscheinungen der Außenwelt, Maß der moralischen Wahr­heit ist der bedürfnisreiche Mensch. Die Handlungsweise des Menschen ist ihm durch sein Bedürfnis gegeben. Durst lehrt trinken, Not lehrt beten. Das Bedürfnis lebt im Süden südlich, im Norden nördlich, beherrscht Zeit und Raum, Völker und Individuen, heißt den Wilden jagen und den Gourmand schlemmen. Das menschliche Bedürfnis gibt der Vernunft das Maß zur Ermessung des Guten, Rechten, Schlechten, Vernünftigen usw. Was unserem Bedürfnis ent­spricht, ist gut, das Widersprechende schlecht. Das leib­liche Gefühl des Menschen ist das Objekt der Moralbestim­mung, das Objekt der „praktischen Vernunft“, Auf die widerspruchsvolle Verschiedenheit menschlicher Bedürf­nisse gründet sich die widerspruchsvolle Verschiedenheit moralischer Bestimmungen. Weil der feudale Zunftbürger in der beschränkten und der moderne Industrieritter in der freien Konkurrenz prosperiert, weil sich die Interessen widersprechen, widersprechen sich die Anschauungen, und es findet der eine mit Recht dieselbe Institution vernünftig, welche dem anderen unvernünftig ist. Wenn die Vernunft einer Persönlichkeit rein aus sich das Vernünftige schlecht­hin zu bestimmen versucht, kann sie nicht anders, als ihre Person zum Maß der allgemeinen Menschheit machen. Wenn man der Vernunft das Vermögen zuspricht, in sich selbst die Quelle der moralischen Wahrheit zu besitzen, verfällt man in den spekulativen Irrtum, ohne Sinnlichkeit, ohne Objekt Erkenntnisse produzieren zu wollen. Aus dem­selben Irrtum geht die Anschauung hervor, welche die Ver­nunft dem Menschen als Autorität überordnet, welche ver­langt, dass sich der Mensch den Forderungen der Vernunft unterwerfe. Sie macht den Menschen zu einem Attribut der Vernunft, während in der Tat die Vernunft umgekehrt Attribut des Menschen ist.

Die Frage, ob der Mensch von der Vernunft oder die Ver­nunft vom Menschen abhängt, ist der Frage gleich, ob der Bürger für den Staat oder der Staat für den Bürger da ist. In letzter höchster Instanz hat der Bürger das Primat, modifiziert sich der Staat nach dem Bedürfnis des Bürgers. Sind einmal aber die höchsten dominierenden Interessen zu staatlicher Autorität gelangt, dann allerdings wird nach­träglich der Bürger vom Staat abhängig. Mit anderen Worten heißt das: der Mensch läßt sich in Nebendingen von der Hauptsache beherrschen. Er bringt dem Großen, Ganzen, Allgemeinen das minder Bedeutsame, Kleine, Partikuläre zum Opfer; er subordiniert dem wesentlichen notwendigen Bedürfnis das luxuriöse Gelüst. Es ist nicht die Vernunft überhaupt, sondern die Vernunft eines ge­brechlichen Körpers oder einer beschränkten Börse, welche den Freuden der Ausschweifung entsagen lehrt zugunsten des allgemeinen Heils. Sinnliche Bedürfnisse sind das Material, aus welchem die Vernunft moralische Wahrheiten anfertigt. Unter sinnlich gegebenen Bedürfnissen von ver­schiedener Dringlichkeit oder verschiedenem Umfange das Wesentliche, Wahre vom Individuellen zu scheiden, Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Ver­nünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.

Wir erinnern uns, dass die Vernunft, um zu sein, um zu wirken, um überhaupt erkennen zu können, Sinnlichkeit voraussetzt, eines gegebenen Gegenstandes bedarf, der er­kannt wird. Sein ist Bedingung oder Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt. Wie die Aufgabe der Physik die Er­kenntnis des wahren, so ist die Aufgabe der Weisheit die Er­kenntnis des vernünftigen Seins. Überhaupt hat die Ver­nunft zu erkennen was ist, als Physik was wahr, als Weis­heit was vernünftig ist. Wie wahr mit allgemein, so über­setzt sich vernünftig mit zweckmäßig, so dass wahrhaft vernünftig soviel wie allgemein zweckmäßig heißt. Wir sahen vorhin, dass eine Erscheinung der Sinnlichkeit nicht wahr „an sich“, sondern nur relativ wahr, nur wahr oder allgemein genannt ist mit Bezug auf andere Erscheinungen von geringerer Allgemeinheit. So kann auch im mensch­lichen Leben eine Handlungsweise nicht vernünftig oder zweckmäßig „an sich“ sein – sie kann zweckmäßig nur heißen mit Bezug auf eine andere Handlungsweise, welche denselben Zweck in minder zweckmäßiger, d. h. unzweck­mäßiger Art erstrebt. Wie das Wahre, das Allgemeine die Beziehung auf ein besonderes Objekt, auf ein gegebenes Quantum der Erscheinung, bestimmte Grenzen unterstellt, innerhalb deren es wahr oder allgemein ist, so setzt das Ver­nünftige oder Zweckmäßige gegebene Verhältnisse voraus, innerhalb deren es vernünftig oder zweckmäßig sein kann. Das Wort expliziert sich selbst: der Zweck ist das Maß des Zweckmäßigen. Nur auf Grund eines gegebenen Zweckes läßt sich das Zweckmäßige bestimmen. Ist erst der Zweck gegeben, dann heißt die Handlungsweise, welche den­selben am weitesten, breitesten, allgemeinsten verwirklicht, die vernünftige, der gegenüber jede minder zweck­mäßige Weise unvernünftig wird.

Auf Grund des bei Analyse der reinen Vernunft ent­wickelten Gesetzes, dass alles Erkennen, alles Denken sich auf ein sinnliches Objekt, auf ein Quantum der Sinnlichkeit bezieht, ist es offenbar, dass alles, was unser Unter­scheidungsvermögen unterscheidet, ein Quantum ist, dass also alle Unterschiede nur quantitativ, nicht absolut, nur graduell, nicht wesenhaft sind. Auch der Unterschied zwischen Unvernunft und Vernunft, d. h. zwischen dem momentan oder individuell Vernünftigen und dem Ver­nünftigen schlechthin, ist, wie aller Unterschied, rein quan­titativ, so also, dass alle Unvernünftigkeit bedingt ver­nünftig und nur das unbedingt Vernünftige unvernünftig ist.

Verstehen wir, dass Erkennen überhaupt ein äußerliches Objekt, ein äußerliches Maß benötigt, dann werden wir abstehen, das maßlos Vernünftige oder das Vernünftige schlechthin erkennen zu wollen. Wir werden uns bescheiden müssen, wie überhaupt, so auch das Vernünftige im Be­sonderen aufzusuchen. Von der bestimmten Formulierung der Aufgabe, von der genauen Abgrenzung des sinnlichen Quantums, was erkannt werden soll, hängt das bestimmte, genaue, sichere, einhellige Resultat der Erkenntnis ab. Ist der Moment, die Person, die Klasse, das Volk gegeben und damit zugleich das wesentliche Bedürfnis, der allgemeine, dominierende Zweck, dann kann das Vernünftige oder Zweckmäßige nicht mehr fraglich sein. Wohl vermögen wir auch ganz allgemein menschliche Vernünftigkeiten zu erkennen, aber unter der Voraussetzung, dass uns auch die allgemeine Menschheit und kein besonderer Teil zum Maß­stab dient. Die Wissenschaft vermag nicht nur den körper­lichen Bau eines besonderen Individuums, sondern auch den allgemeinen Typus des menschlichen Körpers zu erkennen, aber das auch nur unter der Bedingung, dass sie dem Er­kenntnisvermögen kein individuelles, sondern ein all­gemeines Material unterbreitet. Wenn die Naturwissen­schaft die gesamte Menschheit in 4 oder 5 Rassen teilt, gleichsam ihr physiognomisches Gesetz aufstellt, in der Wirklichkeit dann später noch Personen oder Volks­stämmen begegnet, welche sich durch ihre seltenen Eigen­schaften in keiner bestimmten Fraktion unterbringen lassen, so ist doch das Dasein dieser Ausnahme kein Ver­brechen wider die physische Weltordnung, sondern nur ein Beweis von der Mangelhaftigkeit unserer wissenschaft­lichen Einteilung, Wenn dagegen die herrschende An­schauung irgendeine Handlungsweise allgemein vernünftig oder unvernünftig heißt und dann im Leben auf Wider­spruch stößt, glaubt sie sich die Arbeit der Erkenntnis sparen zu können, indem sie dem Gegner das Bürgerrecht in der sittlichen Weltordnung abspricht. Statt sich durch das Dasein widersprechender Instanzen von der beschränkten Gültigkeit der Regel zu überzeugen, erkauft man dieser durch Außerachtsetzung des Widerspruchs eine wohlfeile Absolutheit. Es ist das ein dogmatisches Absprechen, eine negative Praxis, welche das Objekt als ungehörig ignoriert, aber kein positives Erkennen, kein einsichtsvolles Wissen, das eben durch Vermittlung der Widersprüche sich doku­mentiert.

Fordert demnach unsere Aufgabe die Ermittlung des Menschlich-Vernünftigen schlechthin, so verdienen ein solches Prädikat nur Handlungsweisen, welche ohne Aus­nahme allen Menschen, zu allen Zeiten und unter allen Ver­hältnissen zweckmäßig sind — folglich widerspruchslose und insofern nichtssagende unbestimmte Allgemeinheiten, Dass physisch das Ganze größer ist als der Teil, das mo­ralisch das Gute dem Schlechten vorzuziehen, sind solche allgemeine, deshalb bedeutungslose, unpraktische Kenntnisse. Der Gegenstand der Vernunft ist das Allgemeine, aber – das Allgemeine eines besonderen Gegenstandes. Die praktizierende Vernunft hat es mit dem Einzelnen, Be­sonderen zu tun, mit dem Gegensatz des Allgemeinen, mit bestimmten, besonderen Kenntnissen. In der Physik zu kennen, was Ganzes und was Teil, unterstellt gegebene Er­scheinungen oder Objekte. Was moralisch das vorziehbare Gute und was das Schlechte sei, setzt zu seiner Ermittlung ein bestimmtes, gegebenes, spezielles Quantum mensch­licher Bedürfnisse voraus. Die allgemeine Vernunft samt ihren allgemeinen ewigen Wahrheiten ist ein Hirngespinnst der Unwissenheit, welches das Recht der Individualität in heillose Fesseln knebelt. Die wirkliche, wahre Vernunft ist individuell, kann nur individuelle Erkenntnisse zeugen, die nicht weiter allgemein sind, als ihnen ein allgemeines Mate­rial unterliegt. Vernünftig im allgemeinen ist nur das, was jede Vernunft anerkennt. Wenn die Vernunft einer Zeit, Klasse oder Person vernünftig heißt, wovon anderwärts das Gegenteil anerkannt ist, wenn der russische Adelige die Leibeigenschaft und der englische Bourgeois die Freiheit seines Arbeiters eine vernünftige Institution nennt, so ist etwa keine von beiden schlechthin, sondern jede nur relativ, nur in ihrem mehr oder minder beschränkten Kreise ver­nünftig.

Dass hiermit der hohen Bedeutung unserer Vernunft nicht widersprochen ist, dürfte eine überflüssige Versiche­rung sein. Wenn die Vernunft auch die Gegenstände speku­lativer Forschung, die Objekte der moralischen Welt, das Wahre, Schöne, Rechte, Schlechte, Vernünftige usw. nicht absolut, nicht selbständig zu entdecken vermag, so wird sie doch mit Hilfe sinnlich gegebener Verhältnisse relativ Allgemeines und Besonderes, Sein und Schein, notwendige Bedürfnisse und luxuriöse Gelüste wohl zu unterscheiden wissen. Auch wenn wir den Glauben an das Vernünftige an

sich ablegen, und infolgedessen keine absoluten Friedens­freunde sind, mögen wir doch den Krieg mit Bezug auf die friedlichen Interessen unserer Zeit oder Bürgerschaft ein heilloses Übel nennen. Erst wenn wir die vergebliche Ent­deckungsreise nach der Wahrheit überhaupt einstellen, werden wir das räumlich und zeitlich Wahre zu finden wissen. Gerade das Bewußtsein von der nur relativen Gültigkeit unserer Erkenntnisse ist der kräftigste Hebel des Fortschritts. Die Gläubigen der absoluten Wahrheit be­sitzen in ihrer Anschauung das monotone Schema ehrbarer Menschen und vernünftiger Einrichtungen. Sie widersetzen sich deshalb allen menschlichen und geschichtlichen Formen, welche ihrer Norm nicht passen und die doch die Wirklichkeit ohne Rücksicht auf ihren Kopf hervorbringt. Die absolute Wahrheit ist der Urgrund der Intoleranz. Um­gekehrt geht die Toleranz aus dem Bewußtsein von der be­schränkten Gültigkeit „ewiger Wahrheiten“ hervor. Das Verständnis der reinen Vernunft, d. h. Einsicht in die all­gemeine Abhängigkeit des Geistes, ist der wahre Weg zur praktischen Vernunft.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007