Karl Kautsky

Die Intelligenz und die Sozialdemokratie

(1895)


Quelle: Die Neue Zeit, Jg. XIII, 1894/95, 2. Hb., Heft 27, S. 10–16, Heft 28, S. 43–48 u. Heft 29, S. 74–80.
Transkription: Keith O Brien (modernisierte Rechtschreibung).
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Die Neue Zeit. Jg. XIII, 1894/95, 2. Hb., Heft 27, S. 10–16

Die Sozialdemokratie lehnt bekanntlich sehr entschieden die Zumutung ab, eine Schablone aufzustellen, nach der „Zukunftstaat“ zu modeln wäre; sie kann aber auch kein Schablone feststellen, um nach derselben die proletarische Bewegung der Gegenwart und der nächsten Zukunft zu modeln. Wohl hat sie eine bestimmte theoretische Grundlage, und bisher erwies sich jeder Versuch, diese zu erschüttern, nur als ein Mittel, sie zu befestigen und zu bestätigen. Aber die Unerschütterlichkeit der Grundlage bedeutet keineswegs die Einförmigkeit der Bewegung. Jene beruht ja auf der Erkenntnis, dass „Alles fließt“, dass alle Verhältnisse in steter Veränderung begriffen sind, dass daher jede Wahrheit nur relativ, nur unter bestimmten Bedingungen giftig ist.

Die theoretische Grundlage der Sozialdemokratie ist also kein Faulbett, in dem die nachkommenden Vertreter derselben bequem auf den Leistungen ihrer Vorfahren ausruhen können. Der Fortgang der Entwicklung erzeugt stets neue Probleme und die theoretische Grundlage bietet nicht ohne Weiteres deren Lösung, sondern nur den Ausgangspunkt, um zu derselben zu gelangen.

Einer unserer Grundlage sagt z. B., dass die Triebhaft der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist. Aber das bedeutet keineswegs, dass, wer diesen Satz auswendig kennt, nun auch schon in allen sozialen und politischen Kämpfen unserer Zeit Bescheid weiß. Um nur eins anzudeuten: Wie verschieden sind Proletariat und Bourgeoisie in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten, wie verschieden die Verhältnisse, unter denen sie entstanden, wie verschieden die Bedingungen, unter denen sie kämpfen!

Und zwischen Bourgeoisie und Proletariat steht eine Reihe von Volksschichten mit besonderen Interessen, die in die Kämpfe der beiden erstgenannten Klassen eingreifen, bald die eine, bald die andere Seite stärkend. Auch diese Volksschichten sind unaufhörlichem Wechsel unterworfen und ihre Kräfte, ihre Bestrebungen, ihre Kampfsmethoden ändern sich beständig.

Alle diese Veränderungen zu studieren und den praktischen Kämpfen anzuzeigen, ist eine der Aufgaben des sozialistischen Theoretikers. Es gibt dabei kein Rasten und kein Ruhen; Gegenteil, die gesellschaftliche Entwicklung geht so schnell vor sich, dass man Mühe hat, ihr zu folgen.

Unter den Problemen, welche die jüngste Entwicklung unserer Partei stellt, sind die wichtigsten die der Landagitation und der Gewinnung der Intelligenz. Zum Teil sind sie hervorgerufen durch das Wachstum unserer Partei, für die an manchen Orten das Gebiet der Tätigkeit in städtischen industriellen Proletariat bereits zu eng geworden ist. Aber das allein ist nicht die Veranlassung, dass die Frage unserer Stellung zu den verschiedenen Schichten der ländlichen Bevölkerung bzw. der Intelligenz, in letzter Zeit eine solche Bedeutung gewonnen hat. Darüber z. B., wie wir uns zur Bauernschaft zu stellen haben, diskutiert man heute nicht nur in den verschiedensten Ländern Europas aufs Eifrigste – außer in Deutschland auch in Österreich, Frankreich, Belgien, Dänemark usw. – sondern auch in den Vereinigten Staaten; das Verhältnis unserer Partei zu der „Peoples Party“, im Wesentlichen eine Bauernpartei, ist dort Gegenstand sehr erregter Diskussionen in Parteikreisen gewesen, und doch wird es Niemand einfallen, zu behaupten, die amerikanische Sozialdemokratie beherrsche das industrielle städtische Proletariat bereits so vollkommen, dass ihr die Agitation unter demselben nicht mehr genüge.

Wenn wir uns mit der Bauernschaft in der letzten Zeit viel mehr zu beschäftigen hatten, als bisher, so liegt die Hauptursache davon hauptsächlich in den Veränderungen, welche innerhalb dieser Klasse vor sich gegangen sind; sie ist in lebhafte Bewegung gekommen, sie tritt ein ins politische Leben und wird ein politischer Faktor; es ist unmöglich, sie zu ignorieren; wir müssen uns klar werden darüber, was wir von ihr zu erwarten haben, inwieweit ihre Interessen mit denen des Proletariats vereinbar sind oder nicht, inwieweit sie Bundesgenossen für bestimmte Zwecke, inwieweit Parteigenossen liefern kann, die in allen Beziehungen mit dem industriellen Proletariat Schulter an Schulter marschieren.

Neben der Frage der Landagitation kommt namentlich in Betracht die unserer Stellung zur Intelligenz. Auch ihr auftauchen ist hauptsächlich den Veränderungen zuzuschreiben, die im Laufe der Letzten Jahrzehnte innerhalb dieser Bevölkerungsschichten vorgegangen sind, Veränderungen, auf die wir noch eingehender zu sprechen kommen werden. Wie tief sie in den Verhältnissen begründet ist, zeigt sich daraus, dass sie gleichzeitig in den verschiedensten Ländern lebhafte Diskussionen und Bewegungen hervorgerufen hat; nicht bloß in Deutschland und Österreich, sondern auch in Frankreich und Belgien, die ebenso ihre eigene sozialistische Studentenzeitschrift haben, in Italien und auch anderwärts.

Die Neue Zeit hat in ihren letzten Nummern eine Reihe von Beiträgen über diese Frage veröffentlicht, die dem Verfasser vorliegender Seiten die Veranlassung gaben, ebenfalls in die Diskussion einzugreifen. Es kann sich hierbei nicht um die Frage handeln, ob die Sozialdemokratie Mitglieder der Intelligenz gern in ihren Reihen sehen soll. Diese Frage ist bereits im Kommunistischen Manifest entschieden [1], sowie durch die Tatsache, dass die Begründer der Sozialdemokratie, ein Marx, Engels, Lassalle, Mitglieder der Intelligenz waren. Der Sozialdemokratie ist Jeder willkommen, der ihre Grundsätze anerkennt und ihren Befreiungskampf in ihrer Weise mitkämpft, aus welcher Klasse immer er kommen mag. Die Anschauung, dass die Sache der Lohnarbeiter nur von Lohnarbeiten ordentlich vertreten werden kann, ist die Anschauung des rückständigsten Teils des Proletariats, der noch in zünftiger Beschränktheit befangen ist. Es wäre die Anschauung nicht der sozialdemokratischen Barbaren, sondern der liberalen Musterknaben, der englischen Gewerkschafter. Im revolutionären Teil des Proletariats wurde diese Anschauung höchstens gelegentlich von einigen mit der Sozialdemokratie unzufrieden Elementen vertreten – merkwürdigerweise waren es in der Regel Mitglieder der Intelligenz selbst, die da mitunter das Bedürfnis fühlten, die „schwielige Proletarierfaust“ zu schwingen – von Hasselmann bis zu manchem der jüngst verflossenen „Unabhängigen“.

Darüber zu diskutieren, ist heute nicht mehr notwendig.

Noch eine zweite Frage wollen wir aus Bereich vorliegender Untersuchung ausscheiden, die mit den Beziehungen unserer Partei zur „Intelligenz“ zu tun hat, die Frage, wie sie sich zu den im Parteidienst stehenden Mitgliedern der „Intelligenz“ zu verhalten hat, eine Frage, die, wie ja die Diskussionen über die Höhe der Parteigehalte beweisen, unsere Genossen in der letzten Zeit sehr beschäftigt. Diese Frage berührt nicht bloß einige „Akademiker“, sondern einen ziemlich großen Kreis von Parteigenossen, fast alle, die im Parteidienst hervorragend tätig sind, als Redakteure, Herausgeber, Mitarbeiter von Zeitungen und Zeitschriften, als Parlamentarier u. s. w. Die Art und Weise ihrer Beantwortung ist keineswegs gleichgültig für den Charakter und die Leistungsfähigkeit der Partei, aber der Theoretiker hat wenig mit ihr zu tun. Sie ist in erster Linie eine Frage der vorhanden Mittel. Es ist sicher, dass die Gehalte der „Kopfarbeiter“ in der Regel viel elastischer sind als die aller anderen Arbeiterkategorien, welche die Partei beschäftigt. Wo es an den nötigen Mitteln mangelt, sind es daher naturgemäß zunächst die Gehalte der Redakteure etc., bei denen man spart. Darüber besteht wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit. Auf der anderen Seite sind aber wohl alle vernünftigen Leute in der Partei einig darüber, dass, wo die nötigen Mittel vorhanden sind, es im Interesse der Partei selbst liegt, ihren Kopfarbeitern eine Existenz zu ermöglichen, die nicht einer proletarischen, sondern einer bescheidenen bürgerlichen Lebenshaltung entspricht. Nur dort, wo ihnen eine solche zu Teil wird, können sie ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten und ihr Bestes geben. Wir haben mit den herrschenden Gewalten nicht bloß einen ökonomischen, sondern auch einen geistigen Kampf zu führen; die herrschenden Klassen bieten ihre besten geistigen Kräfte gegen uns auf und versehen sie reichlich mit jeglichem Rüstzeug. Wohl haben wir für uns die Logik der Tatsachen und eine überlegene Theorie; aber trotzdem wird für uns der Kampf ein schwerer, wenn wir unseren geistigen Kräften nur so viel geben, als sie gerade brauchen, um zu existieren, und nicht noch etwas dazu, dass sie in Stand setzt, Forschungen zu unternehmen, die nicht sofort verwertbar sind, und Rüstzeug zu sammeln, das sie ihren Gegnern einigermaßen ebenbürtig macht.

Indessen, das ist ja in der Partei allgemein anerkannt, wenigstens von Allen, die von den Bedingungen geistigen Schaffens etwas wissen, und die Frage, um die es sich handelt, ist nur die, ob die nötigen Mittel vorhanden sind, solche Gehalte zu zahlen, und welches das Maß bürgerlichen Lebenshaltung ist, die man den geistigen Arbeitern zu gewähren hat. Namentlich über die letztere Frage sind natürlich die verschiedensten Ansichten möglich. In gegnerischen Kreisen liebt man es, auf die Debatten über diese Frage – namentlich die auf dem letzten Parteitag gehaltene – entrüstet hinzuweisen, als Beweis für die „Barbarei“, das „Banausentum“ des Proletariats. Mitunter taten das dieselben Leute, die sich Tags vorher ebenso sehr entrüstet hatten über die „Arbeiterführer“, die sich von den „Arbeitergroschen mästen“. Tatsächlich beweisen diese Debatten nur, wie unglaublich niedrig die Lebenshaltung des deutschen Proletariers ist, wie frech das Geschrei derjenigen, die über zu hohe Löhne der der Arbeiter zetern. Einem Proletarier erscheint naturgemäß ein Gehalt bereits als luxuriös, das vom bürgerlichen Standpunkt aus noch bescheiden genannt wird.

Die Gehaltsfrage und was damit zusammenhängt, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Die vorliegende Abhandlung hat nichts damit zu tun.

Was wir untersuchen wollen, sind die Fragen, welches der Charakter der Intelligenz, ob und inwieweit man erwarten darf, dass sie an dem Klassenkampf desselben Teil nimmt, und welche Schichten der Intelligenz am leichtesten für uns zu gewinnen sind.
 

II. Die Intelligenz

Die Unterscheidung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Kopfarbeit und Handarbeit, ist physiologisch nicht gerechtfertigt. Selbst das reine Denken ist eine Funktion des Körpers, und andererseits ist selbst die größte Arbeit nicht bloße Tätigkeit der Muskeln, sondern auch des Geistes, das heißt, des Gehirns und der Nerven. Wittelshöfer hat sogar jüngst in dieser Zeitschrift gezeigt, dass manche Arten sogenannter geistiger Arbeit weniger Anforderungen an die Denkkraft stellen als manche Arten sogenannter körperlicher Arbeit.

In dessen sind diese Unterschiede einmal historisch gegeben und sie sind auch weder zufällige noch willkürliche. Geistige Arbeit, das ist die allgemeine Annahme, ist höher stehende Arbeit, ist geadelte Arbeit, ist Arbeit, die bisher ein gewisses Maß von Ausbeutung voraussetzte, ist Arbeit, die bisher die Ausbeuter sich und ihren Günstlinge vorbehielten. Körperliche Arbeit, das war bisher die Arbeit der Ausgebeuteten, der Unterdrückten, der Geringgeschätzten, und galt deshalb als geringere Arbeit. Als geistige, höher stehende Arten von Arbeit galten alle jene, welche die herrschenden Klassen in Interesse der Erhaltung ihrer Herrschaft sich und ihren Günstlingen – und mochten diese Sklaven sein! – vorbehalten mussten, wie z. B. die Leitung der Staatsverwaltung, der Armee, des Unterrichts, der Religion; ferner rechnete man dazu jene Arten Arbeit, deren Betreibung keine Plage ist, sondern ein Genuss, wie das bei den Künsten und Wissenschafter der Fall, wenn sie aus inneren Drang betrieben werden; und endlich rechnete man dazu auch jene Arten von Arbeit, die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, den Erlangung mehr Muße und Mittel voraussetzt, als den Ausgebeuteten in der Regel zugänglich sind.

Sehr oft wirken natürlich zwei oder sogar alle drei der erwähnten Faktoren zusammen, um eine Art Arbeit zu geistiger zu stempeln.

Die geistige Arbeit war also privilegierte Arbeit und ist es im Wesentlichen noch. Aber eine Veränderung in dieser Beziehung hat bereits begonnen.

Viel wichtiger jedoch ist eine andere Änderung in dem Charakter der geistigen Arbeit, welche die kapitalistische Produktionsweise bewirft hat: ehedem waren es die Ausbeuter selbst oder wenigstens eine Klasse derselben, welche die geistige Arbeit vorzugsweise betrieben; die Kirche z. B.; die im Mittelalter die geistige Arbeit repräsentierte, war der größte Grundbesitzer und als solcher an der feudalen Ausbeutung direkt sehr stark interessiert. Unter der kapitalistischen Produktionsweise sind die Ausbeuter so mit dem Ausbeuten beschäftigt, dass sie gar nicht die Zeit, geschweige denn das Bedürfnis nach anderweitiger Arbeit haben.

Sie wälzen die geistige Arbeit ebenso von sich ab, wie die physische und gehen ganz auf in der Jagd nach dem Profit. [2]

Die geistige Arbeit wird die besondere Aufgabe einer eigenen Klasse, die an der kapitalistischen Ausbeutung in der Regel direkt nicht – und ihrer Natur nach auch nicht notwendig – interessiert ist, der sogenannten Intelligenz, die ihren Lebensunterhalt auf der Bewertung ihrer besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten zieht.

Diese Klasse, zu der unter der einfachen Warenproduktion nur die Ansätze sich entwickeln, z. B. die Sophisten, wächst rasch heran unter der kapitalistischen Produktionsweise, die ihr nicht nur immer mehr die geistigen Tätigkeiten überträgt, welche bisher von den Ausbeutern selbst besorgt wurden, sondern auch von Tag zu Tag mehr neue Arbeitsgebiete für sie eröffnet. Die kapitalistische Produktionsweise setzt an Stelle des Handwerks die Großindustrie, sie zerlegt die Arbeit des Handwerks in körperliche und geistige Arbeiten und macht neben den Arbeitern an der Maschine Ingenieure, Chemiker, Betriebsleiter u. s. w. nötig. Sie wirft zentralisierend in Staat, drängt die Bevölkerung in die Großstädte und schweißt aus kleinen Staaten Großstädten zusammen; an Stelle kleiner, sich selbst verwaltender Gemeinwesen setzt sie ausgedehnte und komplizierte Gebilde, die besonders geschulter Verwaltungsbeamten bedürfen: die Bürokratie wächst rasch an. Der Welthandel entwickelt sich und ihm die Weltpolitik. Das ökonomische und politische Leben auf allen diesen Gebieten, in der Großstadt, im Großstaat, in der Welt führt zur Bildung eigener Organe der Information und der Beeinflussung, das Zeitungswesen wird eine Großmacht. Die kapitalistische Produktionsweise macht nach und nach die gesamte Produktion zur Warenproduktion und vermehrt damit unendlich die eigentümlichen Konflikte zwischen den Warenproduzenten, die den besten Nährboden des Advokatentums bilden. Die kapitalistische Produktionsweise raubt den Waffen die musse und tötet damit die Volkskunst. Diese wird ersetzt durch bezahlte, gewerbsmäßige Kunst; an Stelle der Spinnstuben, in denen das Volk sich selbst seine eigenen Märchen und Sagen erzählt, treten Theater und Tingeltangel; an Stelle des Volksliedes das Couplet eines berufsmäßigen Hanswurstes.

Auf diese und manche andere Weise fördert die kapitalistische Produktionsweise Kunst und Wissenschaft und das Anwachsen der Intelligenz.

So rasch aber auch die Nachfrage nach Kopfarbeiten wächst, noch rascher wächst deren Angebot.

Zunächst rekrutiert sich die Intelligenz aus dem eigenen Nachwuchs. Sie will ihn nicht in weniger privilegierte Klassen herausfinden lassen, und nur verhältnismäßig Wenigen aus der Intelligenz gelingt es, in die Klasse der großen Ausbeuter auszusteigen. Die Meisten müssen sich damit begnügen, ihren Kindern jene Erziehung und Bildung angedeihen zu lassen, die von der Intelligenz gefordert wird.

Aber auch aus dem Nachwuchs der höheren Klassen stoßen Manche zur Intelligenz. Sobald größere Ungleichheiten des Besitzes innerhalb einer Klasse sich entwickeln, das Familienerbrecht an den entscheidenden Produktionsmitteln, namentlich an Grund und Boden, das gentile Erbrecht verdrängt und die Macht des Einzelnen mit der Größe seines Besitzes wächst, entsteht in den einzelnen Familien das Streben darnach, den einmal gewonnen Besitz unzerstückelt zu erhalten, was unter Umständen entweder dazu führt, dass einem einzigen Nachkommen der ganze Familienbesitz zufällt, oder dazu, dass die Zahl der Nachkommen künstlich beschränkt wird. Im ersteren Falle gibt es dann jüngere Söhne – mitunter auch unverheiratete Töchter – zu versorgen. Für den Adel bildeten in der Feudalzeit der Kriegsdienst und die Kirche Mittel der Versorgung. Die kapitalistische Produktionsweise hat die Intelligenz dazu gesellt oder, wenn man will, die Kirche zur Intelligenz erweitert. Gerne lagern die herrschenden Klassen ihren Bevölkerungsüberschuss dort ab, natürlich in besonders privilegierten Posten, die sie an Arbeitskraft und Fähigkeiten ihrer glücklichen Besitzer stellen.

Gleichzeitig kommt aber auch Zuzug von unten, aus dem Kleinbürgertum, sogar aus der Bauernschaft, dagegen nur in verschwindenden Maße aus dem Proletariat. Die Erwerbung der nötigen Kenntnisse für die Aufnahme in die Intelligenz war längst schon ein Mittel für einzelne Mitglieder der unteren Klassen gewesen, sich über ihre Klasse emporzuschwingen. Doch kam dies nur vereinzelt vor, in Fällen besonderer Begabung und Neigung. Es war meist eine Elite dieser Klassen, die emporstieg. Das ist jetzt anders geworden. Der Niedergang des Kleinbetriebs in Stadt und Land drängt heute die Kleinbürger und auch manchen Bauer dazu, ihren Nachwuchs, ob dazu veranlagt und geneigt oder nicht, unter allen Umständen, um jeden Preis in die Intelligenz aussteigen zu lassen, denn dem Teil des Nachwuchses, bei dem dies nicht gelingt, droht das Versinken ins Proletariat. Kein Wunder, dass das Angebot an Arbeitskräften auch auf dem Gebiete der geistigen Arbeit die Nachfrage ständig übersteigt, dass man von der Überproduktion an Intelligenz reden kann.

Ein neuer, an Zahl sehr starker und ununterbrochen zunehmender Mittelstand bildet sich auf diese Weise, dessen Wachstum im Stande ist, unter Umständen den Rückgang des gesamten Mittelstandes zu verdecken, der durch den Niedergang des Kleinbetriebs verursacht wird.

So verlockend es ist, auf diese Frage näher einzugehen, wir müssen davon absehen, da es den Gang der Untersuchung zu sehr unterbrechen würde. Begnügen wir uns mit der Konstatierung der Tatsache, dass die Bedürfnisse der kapitalistische Produktionsweise, teils durch den Niedergang des Kleinbetriebs, ein Mittelstand, der an Zahl und Bedeutung gegenüber dem Kleinbürgertum beständig wächst, der aber auch seinerseits wieder durch das stetig steigende Überangebot von Arbeitskräften immer mehr herabgedrückt und damit immer unzufriedener wird. Das Wachstum der „Intelligenz“ und das Wachstum ihrer Unzufriedenheit, das sind die beiden wichtigsten Moment, welche die Sozialdemokratie veranlassen, ihre Aufmerksamkeit diese Klasse zuzuwenden.


Die Neue Zeit, Jg. XIII, 1894/95, 2. Hb., Heft 28, S. 43–48

III. Intelligenz und Proletariat

Würde die Unzufriedenheit allein den Sozialdemokraten machen, ´dann gehörte sicher heute schon so ziemlich die ganze Intelligenz ins sozialdemokratische Lager. Aber welche Klasse gehörte dann nicht dahin? Die Unzufriedenheit ist in einer versinkenden Gesellschaft allen Klassen eigen, indes hat jede Klasse ihre besonderen Gründe dazu und ihre besonderen Mitte, durch die sie den Missständen, die sie quälen, abzuhelfen sucht. Als eine Partei allgemeiner Unzufriedenheit (wenigstens allgemeiner christlicher Unzufriedenheit) könnte man am ehesten noch die Antisemiten bezeichnen; deren Partei ist aber dafür auch nur ein zusammenhangloser Haufe, der hier aristokratisch ist und dort demokratisch, hier servil und dort rebellisch, ein Haufen von Strethi und Plethi, die insgesamt sehr unzufrieden sind, sonst aber auch nichts.

Aber ist die bloße Unzufriedenheit das Einzige, was Proletariat und Intelligenz verbindet? Haben sie nicht auch eine Reihe von Interessen gemein?

Sicherlich. Es fragt sich nur, ob diese Gemeinschaft mancher Interessen wie genug geht, um eine wahrhafte Interessensolidarität zu begründen. Einzelne Interessen teilt jede Klasse mit dem Proletariat. Eine derartige begrenzte Interessengemeinschaft besteht z. B. sogar zwischen den Lohnarbeitern und den Fabrikanten der einzelnen Industrien und je nachdem selbst Geschäfte, und die bekannte Theorie von der Harmonie zwischen Kapital und Arbeit ist darauf begründet worden.

Aber nur jene Bevölkerungselemente, die alle wesentlichen, entscheidenden Interessen mit dem großindustriellen Proletariat, dem eigentlichen Träger der sozialistischen Bewegung, gemein haben, können durch einen Appell an ihre Klasseninteressen für die Sozialdemokratie als dauernde, zuverlässige Parteigenossen werden. Die Gewinnung anderer Bevölkerungselemente durch einen derartigen Appell könnte nur verwirrend und zerfetzend auf unsere Partei wirken.

Wie steht es nun in der Beziehung mit der Intelligenz? Von vielen wird behauptet, dass die Klasseninteressen der Intelligenz in allen wesentlichen Punkten dieselben seien, wie die des Proletariats. Die Intelligenz, erklären sie, bilde nur ein Teil des Proletariats, sobald sie ihr Klasseninteresse erkannt, müsse sie der Sozialdemokratie zufallen. Als Beweise, dass die Intelligenz zum Proletariat gehört, werden angeführt 1) die große Zahl von Hungerleidern unter ihren Mitgliedern, 2) die Tatsache, dass sie, ebenso wie die Industrielle Lohnarbeiter, vom Verlauf ihrer Arbeitskraft leben. Das sind allerdings zwei Kennzeichnen, die auf das Proletariat passen; aber hat es nicht Hungerleider seit jeher gegeben, seitdem es eine Zivilisation gibt? Und gab es nicht Lohnarbeiter schon vor dem neunzehnten Jahrhundert? Aber erst in unserem Jahrhundert ist es zur Bildung eines klassenbewussten, revolutionären Proletariats gekommen, das zum Träger der sozialistischen Bewegung geworden ist. Es sind besondere historische Umstände, welche diese Art von Proletariat geschaffen haben; sie ist ein Kind der kapitalistischen Großindustrie.

Es gelingt also nicht, zu zeigen, dass die Mitglieder der Intelligenz in ihrer Mehrzahl Hungerleider sind und vom Verlauf ihrer Arbeitskraft leben, um nachzuweisen, dass die Erkenntnis ihrer Klasseninteressen sie naturnotwendig ins Sozialdemokratie Lager treibt.

Wenn man aber näher zusieht, so macht man vor allem die Entdeckung, dass die Intelligenz gemeinsame Klasseninteressen nicht hat, sondern nur Berufsinteressen. Wohl könnte „ein Komödiant einen Pfarrer lehren“, aber welche Klasseninteressen hätten sie gemein? Welche Interessengemeinschaft verbindenden Arzt und den Rechtsanwalt, den Maler und den Philologen, den Chemiker und den Leitartikler? Nicht nur die geistigen, sondern auch die materiellen Interessen jedes dieser Berufe sind ganz besondere. Wollte man sie mit den Handarbeitern vergleichen, dann ähneln sie in dieser Beziehung nicht den Proletariern der Großindustrie, sondern den Handwerksgesellen (guilds) des Mittelalters, die auch gemeinsame Klasseninteressen nicht kannten, sondern nur Berufsinteressen. Aber die berufliche Scheidung ist unter der Intelligenz noch stärker entwickelt, als unter den mittelalterlichen Handwerkern. Die Intelligenz ist auch die einzige Klasse in heutigen Staat, die noch Reste echter zünftiger Beschränkung aufzuweisen hat, in der man noch wirkliche Stände im mittelalterlichen Sinne findet. Die Stätten der höchsten Bildung, die Universitäten, haben den Zunftzopf bis heute zu bewahren gewusst.

Aber nicht einmal innerhalb jedes einzelnen Berufs der Intelligenz herrscht unter dessen Arbeitern Interessensolidarität. Es ist schon von anderer Seite darauf hingewiesen worden, dass die Lebenslage der verschiedenen industriellen Proletarier eines Berufs im Wesentlichen die gleiche ist; und wo sich Unterschiede finden, zeigen sie sich oft in der Begünstigung des jüngeren Arbeiters vor dem älteren. Unter den einzelnen Mitgliedern desselben Berufs in der Intelligenz zeigen sich dagegen die ungeheuersten Unterschiede in der Lebenslage und damit in den Interessen. Welches Interesse hat ein „Star“, ein Stern am Kunsthimmel, daran, dass eine unbekannten Kollegen ihre Arbeitsleistungen gut verwerten? Welche Interessengemeinschaft besteht zwischen den Chefredakteur eines Weltblatts und einem Reporter? Was kümmert den Professor an einer medizinischen Fakultät, der einen Weltruf hat und jährlich ein fürstliches Einkommen erwirbt, die Lage der Landärzte? Das heißt, um nicht missverstanden zu werden, sie kann ihn als Menschen sehr bekümmern, aber hier handelt sich’s um die Wirkungen, die von einem Appell an die Klasseninteressen zu erwarten sind.

Zu jedem Beruf der Intelligenz findet man solche, wenn auch nicht immer so krasse Unterschiede. Jeder bildet eine Hierarchie von Rangklassen, die miteinander seine engere Interessengemeinschaft haben, und innerhalb deren jeder Einzelne nur darnach trachtet, aus ihr heraus in die nächst höhere zu kommen. Die Tendenzen nach Verbesserung der eigenen Lage durch Zusammenschluss mit den gleichgestellten Kollegen können sich da nur schwach entwickeln. Viel stärker wirkt die Konkurrenz unter ihnen, das Streben, auf Kosten der Kollegen vorwärts zu kommen. Nirgends gedeihen Brotneid, Streberei, Servilität und Hochmut so sehr wie in den Kreisen von Kunst und Wissenschaft.

Weit mehr noch, als dies alles, trennt aber die Intelligenz von dem Proletariat die Tatsache, dass sie eine Privilegierte Klasse ist. Wie verschieden, ja gegensätzlich auch die Interessen innerhalb derselben sein mögen, eines vereinigt sie: der aristokratische Charakter. Die Intelligenz, das ist die Aristokratie des Geistes, und ihr Interesse in der heutigen Gesellschaft gebietet ihr, ihre aristokratische Abschließung mit allen Mitteln aufrecht zu halten. Diese Herren Aristokraten tun allerdings so, als wenn ihre privilegierte Stellung lediglich eine Folge ihrer außergewöhnlichen Begabung wäre. Aber sie selbst wissen sehr gut, dass ihre privilegierte Stellung keineswegs ausschließlich auf den Vorzügen beruht, welche die Natur ihnen verliehen, und sie sind daher eifrig bemüht, künstliche Schranken aufzurichten, durch die sie den Zuwachs an neuen Mitgliedern möglichst hemmen könnten. Daher der Antisemitismus in diesen Kreisen, daher die Gegnerschaft gegen das Frauenstudium, daher das Bemühen, die überlieferten zünftigen Beschränkungen zu erhalten, wo sie noch bestehen, oder neue aufzurichten, wo keine vorhanden sind; daher endlich das Streben in allen jenen Berufen der Intelligenz, in denen eine zünftige Abschließung nicht gut möglich ist, durch ein wohlorganisiertes Cliquenwesen allen neuanstrebenden Talenten, d. h. Konkurrenten, das Aufkommen unmöglich zu machen oder wenigstens zu erschweren.

Dies Streben ist unvereinbar mit dem natürlichen Streben des Proletariats, als der unteren Klasse, alle Privilegien niederzureißen, welcher Art sie auch sein mögen.

Wenn die Sozialdemokratie für Alle das gleiche Recht auf Bildung proklamiert, wenn sie die Hindernisse niederzureißen sucht, die heute die Frau und den Proletarier hindern, in die Intelligenz, das heißt, die erwerbende Intelligenz aufzusteigen, so ist das gleichbedeutend mit dem Bestreben, jene Erscheinung ungeheuer zu vergrößern, die für die Intelligenz in der heutigen Gesellschaft am verderblichen wirkt, die Überproduktion von Gebildeten.

In diesem entscheidenden Punkt sind die Interessen des Proletariats und die der Intelligenz diametral verschieden. Und schon aus diesem einen Grunde ist, abgesehen von allem anderen, ein Appell an die Interessen nicht das geeignete Mittel, die Intelligenz in ihrer Gesamtheit für den Sozialismus zu gewinnen, ist diese als Klasse überhaupt nicht dahin zu bringen, den Klassenkampf des Proletariats mit zu kämpfen.
 

IV. Das Proletariat in der Intelligenz

Aber wenn die Interessen auch keineswegs mit denen des Proletariats zusammenfallen, so brauchen wir nicht die Flinte ins Korn zu werfen und auf jede Agitation unter den Kopfarbeitern zu verzichten.

Zunächst ist zu bemerken, dass in Wirklichkeit die verschiedenen Arten und Klassen der Dinge nicht so schroff voneinander getrennt sind, wie man sie in der Theorie auseinander hatten muss, wenn man zu klaren Ergebnissen kommen will. In Wirklichkeit gehen die einzelnen einander benachbarten Arten und Klassen unmerklich ineinander über, und es gibt zwischen zwei Klassen immer eine Reihe von Übergangsstadien. So gibt es auch eine Reihe von Berufen und Schichten in der Intelligenz, die dem Proletariat sehr nahe stehen und mit ihm mindestens ebensoviele Berührungspunkte haben, als mit der „Aristokratie des Geistes“. Und der Fortgang der kapitalistischen Produktionsweise führt dahin, dass immer mehr Mitglieder der Intelligenz herabsinken in diese dem Proletariat verwandten Schichten, dass die letzteren immer ausgedehnter, aber auch immer proletarischer in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen werden, aufhören, Privilegierte zu sein und beginnen, jener Klasse anzugehören, die nichts zu verlieren hat als ihre Ketten und eine Welt zu gewinnen.

Die Faktoren, durch welche die kapitalistischen Produktionsweise dies herbeiführt, sind dieselben, durch welche sie die Aristokratie im Proletariat auflöst, jene Schicht, die sich mit dem Proletariat in der Intelligenz am meisten berührt.

Nehmen wir z. B. die Schriftsetzer. Sie gehörten bisher zu der Arbeiteraristokratie. Die Maschine hatte sich ihres Arbeitszweigs noch nicht bemächtigt; ihr Gewerbe erforderte eine gewisse Geschicklichkeit, die nur in längerer Lehrzeit erworben werden konnte, und eine gewisse Bildung, welche die im Proletariat allgemeine überstieg. Diese Vorteile ermöglichten ihnen den Ausbau einer starken Organisation, die ihrerseits wieder mithalf, durch Pflege einer zünftigen Exklusivität das Angebot von Arbeitskräften im Gewerbe noch mehr zu verringern, als es schon durch die natürlichen Vorteile geschah.

Das wird jetzt rasch anders. Wir dürfen hier daran erinnern, dass uns noch 1891, als wir einen Artikel über die Fortschritte der Setzmaschine in den Vereinigten Staaten brachten (IX, 1, S. 635), Fachmänner auslachten, und ein Fachblatt schrieb, es hätte nicht gedacht, dass eine wissenschaftliche Zeitschrift einen Unsinn, wie die Setzmaschine, ernst nehmen würde. Heute müssen auch die fachmännischsten unter den Fachmännern mit der Setzmaschine rechnen. Auf der anderen Seite wächst die Reservearmee so sehr, teils in Folge von Verbesserungen und Erleichterungen im Mittelschulwesen, welche die für einen Setzer erforderliche Bildung zu einer allgemeineren machen, in folge des Einbringen der Frauenarbeit auch in diesem Beruf, endlich in Folge der wachsenden Arbeitsteilung, welche die notwendige Lehrzeit verkürzt u. s. w., dass die Zahl der außerhalb der Organisation bleibenden Elemente in diesem Arbeitszweig wächst, die, wie die letzten Streiks gezeigt haben, es den Setzern immer unmöglicher machen, durch die bloße Kraft ihrer Organisation ihre bevorzugte Stellung aufrecht zu halten.

Gleichzeitig verschärft sich aber auch der Klassengegensatz zwischen Unternehmern und Arbeitern in dem Gewerbe immer mehr; die Konzentration und Zentralisation des Kapitals macht rasche Fortschritte, die kleinen Betriebe werden immer unfähiger, zu konkurrieren, für die Arbeiter wird es unmöglich, sich selbständig zu machen. Auch die persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmen hören immer mehr auf, die letzteren werden reine Kapitalisten, die nicht mit ihren Arbeitern zusammenarbeiten.

Alles das bewirkt, dass die Buchdrucker immer mehr in den allgemeinen Klassenkampf des Proletariats gegen die Kapitalistenklasse hineingetrieben werden.

Die eine oder die andere dieser Ursachen, oft alle vereint, wirken auch in den Schichten der Intelligenz, die dem Proletariat zunächst stehen. Die Entwicklung des Fachschulwesens macht manche Fachkenntnisse so allgemein, dass sie aufhören, eine privilegierte Stellung zu gewähren. Man erinnere sich nur der Unmassen von Musikern, die unsere Musikschulen, der Unmassen von Mechaniker, Chemikern und dergleichen, die unsere Gewerbeschulen produzieren. Während aber die Reservearmee immer mehr wächst, wächst gleichzeitig auch der Gegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern in diesen Berufen; auch sie fallen der kapitalistischen Ausbeutung anheim; die Kapitalisten wird immer größer, die notwendig ist, um ein selbständiges Unternehmen zu begründen. Gleichzeitig macht auch in diesen Berufen die Arbeitsteilung und damit die Herabsetzung der nötigen Lehrzeit immer weiter Fortschritte, und die Maschine beginnt sogar schon auf dem Gebiete der Kunst ihren Einzug zu halten, so z. B. in der Holzschneidekunst, in der manche Arbeiten bereits von Maschinen verrichtet werden, ganz abgesehen von den zahlreichen chemischen Verfahren, die sie zum Teil bereits ersetzt und verdrängt haben. [3]

Zu diesen Schichten gesellen sich die zahlreichen und von Tag zu Tag anwachsenden Scharen von „Kopfarbeitern“ im unteren Verwaltungsdienst von Staat und Gemeinde und von kapitalistischen Unternehmungen, die unteren Eisenbahn-, Post-, Kanzleibeamten u. s. w. Je mehr die allgemeine Bildung und das Fachschulwesen wächst, desto mehr hören die Kenntnisse, die für diese Berufe erforderlich sind, auf, das Privilegium eines verhältnismäßig kleinen Kreises zu sein, desto aussichtsloser wird es für sie, ihre Lage durch aristokratische Exklusivität, durch Beschränkung des Kreises der Konkurrenten, verbessern zu können, desto mehr werden sie darauf hingewiesen, nur von dem allgemeinem Fortschritt des gesamten Proletariats ihr Heil zu erwarten.

Unter den Beamten gilt dies namentlich für die zahlreichen Hilfsarbeiter, die vor dem Proletariat nicht jene Unabhängigkeit von der Konkurrenz, jene Sicherheit der Existenz, noch jene Aussicht auf Pension voraus haben, die Herr Starkenburg jüngst in dieser Zeitschrift als die Vorteile bezeichnete, die der Beamte vor dem Proletarier voraus hat. Indirekt werden übrigens auch die festangestellten Beamten durch die Lage des Arbeitsmarktes berührt, das heißt durch die Größe der Reservearmee jener Elemente, aus denen sie sich rekrutieren. Je größer diese Reservearmee, je leichter der Einzelne ersetzt werden kann, desto geringer seine Widerstandskraft, desto mehr muss er sich gefallen lassen, desto mehr Arbeitslast kann man ihm aufbürden, desto mehr darf man an Arbeitskräften sparen und desto gleichgültiger kann die Staats- resp. Gemeindeverwaltung alle demütigen Bitten – zu energischeren Willensäußerungen kommt es kaum – der unteren Beamten um Gehaltserhöhung an sich vorbeigehen lassen. Ohne die große Reservearmee dürfte man z. B. den Postbeamten nicht 13 bis 14 Stunden Arbeitszeit zumuten und sie mit Gehalten abfinden, die vor Gericht einen Milderungsgrund bei Vergehen gegen das Eigentum abgeben.

Alle die hier geschilderten Elemente, die den Übergang vom Proletariat zur Intelligenz bilden, dieses Proletariat in der Intelligenz, diese Intelligenz im Proletariat, finden von Tag zu Tag mehr Berührungspunkte mit dem Proletariat und verlieren jeden Tag Berührungspunkte mit der eigentlichen Intelligenz. Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, desto mehr dieser Elemente kommen in das Bereich der Proletariats, gewinnen Interesse am proletarischen Klassenkampf und können durch einen Appell an ihre Klasseninteressen für die Sozialdemokratie gewonnen werden.

Allzu leicht darf man sich das freilich nicht vorstellen. Das Bewusstsein, einer privilegierten Klasse anzugehören, etwas Besseres sein als bloße Proletarier, bleibt in diesen Schichten noch lange lebendig, nachdem seine materiellen Bedingungen schon längst verschwunden sind, und es bedarf oft harter Lehren, ehe sie die Überzeugung zugänglich werden, dass ihnen durch Beschränkung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nicht geholfen werden kann, dass ihre Rettung nicht in stärkerer Abschließung vom Proletariat, sondern in engerem Aufschluss an dasselbe liegt.

Nicht minder erschwert wird die Agitation in manchem dieser Schichten, namentlich unter der Beamtenschaft, durch deren ungemein große Abhängigkeit. Was für die Arbeiter in den Staatsbetrieben, gilt noch viel mehr von den Beamten des Staats: ihre Widerstandsfähigkeit ist eine äußerst geringe. Der Fabrikarbeiter im Staatsbetrieb findet, wenn gemaßregelt, noch leichter ein Fortkommen, als ein Beamter in diesem Falle. Die gewerkschaftliche Organisierung dieser abhängigen Schichten ist nicht gerade absolut unmöglich, aber nur möglich unter der Voraussetzung eines politischen Einflusses der Arbeiterklasse, wie er heute, abgesehen von England und vielleicht noch der Schweiz, nirgends besteht. Nirgends zeigt sich’s deutlicher als hier, dass die gewerkschaftliche Bewegung zwar nicht absolut aussichtslos ist, wie manche Pessimisten behaupten, wohl aber aussichtslos ohne das Wachstum der politischen Macht der Arbeiterklasse. Nichts absurder, als die gewerkschaftliche Bewegung gegen die politische Bewegung des Proletariats auszuspielen, den kraftvolles Gedeihen die wichtigste Lebensbedingung der ersteren geworden ist.

Wo die hier in Rede stehenden Schichten eine Art gewerkschaftlicher Organisation versuchen, können sie natürlich auf die Unterstützung der Sozialdemokratie durch Rat und Tat, in Parlament und Presse, rechnen. Aber viel leichter als für eine gewerkschaftliche Organisation können sie für die politische Bewegung gewonnen werden, die ihnen erlaubt, für ihre Sache zu wirken, ohne sich zu kompromittieren.

Bei anderen ist die gewerkschaftliche Organisation leichter, bei manchen, Bildhauern, Musikern, Mechanikern u. A. schon längst durchgeführt. Diese Schichten sind auch bereits zum größeren oder kleineren Teil in den Klassenkampf des Proletariats eingetreten, und die Agitation unter ihnen unterscheidet sich nicht wesentlich von der in den anderen Schichten des Proletariats.

Die Agitationsweise muss sich, wie überall, so auch hier, den besonderen Verhältnissen der verschiedenen Schichten anpassen. Aber unsere Taktik bedarf für die Agitation unter der Intelligenz im Proletariat weder einer Änderung, noch einer Ergänzung. Hat doch die Sozialdemokratie seit jeher bei ihrer Agitation auch diese Schichten ins Auge gefasst.


Die Neue Zeit, Jg. XIII, 1894/95, 2. Hb., Heft 29, S. 74–80

V. Die Aristokratie in der Intelligenz

Über die Agitation unter dem Proletariat in der Intelligenz besteht kaum eine Meinungsverschiedenheit in unserer Partei. Diese tauchen erst auf, wenn es sich um die Gewinnung der Aristokratie in der Intelligenz handelt, der Ärzte, Advokaten, Lehrer an Mittel- und Hochschulen [4], der an Hochschulen gebildeten Ingenieure und Chemiker, der höheren Verwaltungsbeamten und dergleichen.

Durch ein Appell an ihre Klassen- resp. Standesinteressen sind diese, wie schon gesagt, nicht zu gewinnen. Wir müssen überhaupt darauf verzichten, diese aristokratischen Schichten in ihrer Gesamtheit in den Klassenkampf des Proletariats eintreten zu sehen. Es kann sich hier nur um die Gewinnung Einzelner handeln.

Es wäre aber geradezu verderblich, wollte man diese Einzelnen durch einen Appell an ihre persönlichen Interessen gewinnen. Wer aus persönlichem Interessen zu uns kommt, wer kommt, nicht um die Klassenkampf des Proletariats mitzukämpfen, sondern um im Proletariat den Markt oder die Anerkennung zu finden, die ihm die Bourgeoisie versagt, ist in der Regel ein fauler Kunde und kann, namentlich wenn er aus der Intelligenz kommt, direkt gefährlich werden. Wir können nicht sorgfältig genug darauf achten, unsere Partei rein zu halten von verkannten Genies, verbummelten Literaten, Querulanten, Projektenmachern und Erfindern (Erfindern neuer Orthographien und Stenographien, neuer Heilmethoden und dergleichen), verkrachten Strebern und ähnlichen Elementen.

Gerade der Intelligenz gegenüber dürfen wir am allerwenigsten an das persönliche Interesse appellieren.

Wodurch aber können wir Einzelne aus ihr gewinnen? Durch kein anderer Mittel, als durch jenes, das bisher bereits so Manchen aus diesem Kreise zu uns geführt: durch die Einsicht in die historische Berechtigung der Ziele des kämpfenden Proletariats, durch die Einsicht in die Notwendigkeit seines Sieges. Wie sehr auch Unzufriedenheit und Hungerleiderei in der Aristokratie der Einsicht wachsen mögen, nicht dadurch, sondern nur durch die Verbreitung der Einsicht in die Bewegungs- und Entwicklungsgesetz unserer Gesellschaft werden wir nach wie vor, zuverlässige und nützliche Parteigenossen aus ihren Reihen gewinnen.

Diese Einsicht wirbt uns Anhänger aus allen Klassen, aber ihre werbende Kräfte findet ein besonders günstiges Feld in der Intelligenz. Deren Beruf verweist sie bereits auf eine größere Erweiterung ihres geistigen Horizonts, und auf eine bessere Entwicklung und Handhabung ihrer geistigen Fähigkeiten, als in den anderen Klassen üblich ist. Das besagt zwar keineswegs von vornherein, dass die Mitglieder der Intelligenz besser befähigt sind, die Wahrheit zu erkennen. Die geistigen Fähigkeiten sind ursprünglich erworben und entwickelt worden als Waffen im Kampf ums Dasein, als Mittel, alles das zu suchen, zu finden, zu verteidigen und auszunutzen, was zur Fristung der Existenz erforderlich ist; und soweit es sich um Existenzfragen handelt, soweit das Denken ein interessiertes ist, dient auch heute noch unter den Menschen die Intelligenz nur diesem Zwecke, das heißt also, auf den geistigen Klassenkampf übertragen, sie dient advokatischen, nicht philosophischen Zwecken; die größere Intelligenz bedeutet da nicht die größere Fähigkeit, das was ist, zu erkennen, sondern die größere Fähigkeit, das was man braucht und wünscht, zu verteidigen, zu rechtfertigen, als notwendig zu erweisen; sie kann, je nach den wechselnden Klasseninteressen, ebenso sehr die größere Fähigkeit bedeuten, die Wahrheit zu verhüllen, Andere und sich selbst zu betrügen, als die, die Wahrheit zu entdecken und zu verbreiten. Nur auf den Gebieten des uninteressierten Denkens bedeutet die größere Geisteskraft notwendigerweise auch die größere Fähigkeit, die Wahrheit zu entdecken.

Zu diesen Gebieten gehört aber für einen Teil der Intelligenz der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Kapitalistenklasse. Sie ist nicht direkt interessiert an den Klasseninteressen des Proletariats. Sie hat aber vielfach auch kein direktes Interesse an der kapitalistischen Ausbeutung.

Freilich, nicht wenige ihrer Mitglieder haben die Aufgabe, diese Ausbeutung zu verteidigen.

Eine Reihe von Berufen der Intelligenz unterscheiden sich neben anderem auch darin vom Proletariat, dass in ihnen die Arbeitskraft für die Bourgeoisie nur dann Wert hat, wenn sie von einer bestimmte Gesinnung begleitet ist. Zahlreiche Kopfarbeiter, Lehrer gewisser Fächer, Journalisten, Gerichtsbeamte, z. B. Staatsanwälte u. s. w., können ihre Tätigkeit nicht entfalten, ohne eine bestimmte Gesinnung gegenüber den verschiedenen Klassen und Parteien in Staat und Gesellschaft zu bekunden; und es ist von vornherein ihre Aufgabe, das Bestehende zu verteidigen und zu rechtfertigen. Dafür werden sie bezahlt, und es können in diesen Berufen nur Leute sich behaupten, die entweder die Gesinnung ihrer „Arbeitgeber“ teilen oder die ihre Gesinnung an diese verkaufen.

Zu den berufsmäßigen Verteidigern der kapitalistische Ausbeutung gehören ferner jene Kopfarbeiter, die als Stellvertreter des Kapitalisten in Produktionsprozess fungieren und als Auspresser von Mehrwert von vornherein den Arbeiter feindlich gegenüber stehen.

Dass diejenigen Mitglieder der Intelligenz, die selbst Kapitalisten sind, aus dem Kreise der an der kapitalistischen Ausbeutung Uninteressierten ausscheiden, ist selbstverständlich.

Aber es gibt doch auch weite Kreise der Intelligenz, die weder durch ihren Besitz, noch durch ihren Beruf gedrängt werden, für die kapitalistische Ausbeutung einzutreten. Allerdings ist es auch für sie nicht leicht, zu völliger Unbefangenheit gegenüber dem kämpfenden Proletariat zu gelangen. Viele unter den Mitgliedern dieser Kreise sind durch zahlreiche Bande gesellschaftlicher und verwandtschaftlicher Natur mit den besitzenden Klassen liiert, während eine solche Verbindung zwischen Intelligenz und Proletariat nur in wenigen Fällen besteht.

Endlich müssen wir uns noch erinnern, dass die Intelligenz als eine privilegierte Klasse eine natürliche Abneigung gegen das Proletariat haben muss, das allen Privilegen feind ist. Da werden wir es begreiflich finden, dass die Masse der Intelligenz dem Klassenkampf zwischen der Kapitalistenklasse und dem Proletariat nicht völlig unbefangen zusieht, sondern auf Seite der Ersteren neigt.

Aber immerhin ist sie meist doch weniger befangen als die direkt bedrohte Kapitalistenklasse selbst. Sie steht im Ganzen und Großen dem Klassenkampf zwischen dieser und dem Proletariat ungefähr ebenso gegenüber, wie Kleinbürgertum und Bauernschaft, die zwar an der kapitalistischen Ausbeutung kein Interesse haben, ihr oft feindlich gegenüber treten, aber auch durch starke Interessen in Gegensatz zum Proletariat gebracht werden. Die Intelligenz unterscheidet sich jedoch von diesen beiden Klassen durch ihren weiteren geistigen Horizont, durch ihr besser geschultes Vermögen abstrakten Denkens und durch den Mangel einheitlicher Klasseninteressen.

Alles das bewirkt, dass sie jene Bevölkerungsschicht ist, die am leichtesten dahin kommt, sich über Klassen- und Standesbornierheit zu erheben, sich idealistisch erhaben zu fühlen über Augenblicks- und Sonderinteressen und die dauernden Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft ins Auge zu fallen und zu vertreten.

Zunächst nur die der bürgerlichen Gesellschaft. Aber schon indem sie deren Interessen in ihrer Gesamtheit vertreten, kommen sie in einen gewissen Gegensatz zur Kapitalistenklasse. Sie erkennen, wie deren kurzsichtige Profitgier nicht bloß das Proletariat, sondern die ganze Gesellschaft bedroht, die Bevölkerung degeneriert, alle konservativen Klassen, alle Seiten Stützen des Bestehenden auflöst, das Proletariat vermehrt, seine Unzufriedenheit steigert und seinen revolutionären Ansturm immer wuchtiger macht. Nicht direkt an der Ausbeutung beteiligt, fordern sie, dass diese eingeschränkt und in Formen gebracht werde, die weniger revolutionierend und auflösend wirken; sie fordern dies als einzige Möglichkeit, die bestehende Gesellschaft zu retten und den Sieg des Proletariats zu verhindern.

Die Intelligenz ist die Erzeugerin des Kathedersozialismus und der Sozialreform, die je nach den verschiedenen politischen und sozialen Verhältnissen, und je nach den verschiedenen Graden von Einsicht die verschiedensten Formen annimmt, Staatssozialismus, Gewerkschafts- und Genossenschaftskultus, Bodenverstaatlichung, Ethisierung des Klassenkampfs u. s. w.

Die Zahl der Sozialreformer in den Reihen der Intelligenz ist in stetem und raschem Wachstum begriffen. Immer krasser wird der Widerspruch zwischen der kapitalistischen Ausbeutung und den Interessen der Gesamtheit, immer dringender eine Beschränkung der kapitalistischen Übermacht durch die Gesellschaft, selbst die bürgerliche, immer offenbarer erscheint mindestens die Bewilligung der nächsten Forderungen des Proletariats unumgänglich notwendig im Interesse der Kultur, ja sogar der Sicherheit der Besitzenden selbst. Und immer machtvoller zeigt sich das Proletariat, immer gefährliche wird es, ihm Alles, auch das Billigste vorzuenthalten.

Das Alles ist heute bereits so offenkundig, dass es kaum noch einen selbständig denkenden und ehrlichen Gebildeten unter denen, die nicht direkt an der kapitalistischen Ausbeutung interessiert sind, gibt, der nicht auf dem „sozial-politischen“ Standpunkt stünde, welcher besagt, es muss etwas geschehen für die Arbeiter – welches „etwas“ allerdings die verschiedensten Dinge bezeichnen kann. Stumm und Eugen Richter, der patriarchalisch-absolutistische Unternehmer und der Manchestermann, haben in der Intelligenz keinen Anhang mehr, der ins Gewicht fiele. Die Anklage gegen das Kapital und die Sympathie mit dem Proletariat – mindestens mit dem ausgebeuteten, wenn auch nicht mit dem kämpfenden Proletariat – sind in die Mode gekommen, und Harcourts Wort: Wir sind heute Alle Sozialisten, beginnt für diese Kreise wahr zu werden. Allerdings ist es nicht der proletarische, revolutionäre Sozialismus, dem unsere Dichter und Maler, unsere Gelehrten und Journalisten usw. in ihren Salons und Cafés, ihren Ateliers und Hörsälen, huldigen, sondern eine Sorte Sozialismus, die verzweifelt viel Ähnlichkeit mit dem „wahren Sozialismus“ hat, den das Kommunistische Manifest 1847 kennzeichnete.

Vielfach erklären diese Elemente, von der Sozialdemokratie trenne sie nichts, als die proletarische Brutalität, aber was sie in Wahrheit abstößt, ist nicht eine Äußerlichkeit, sondern der eigene Mangel an Einsicht oder Charakter. Wenn sie auch an Einsicht den bornierten Kapitalisten weit überragen, so begreifen sie doch noch nicht, dass es unmöglich ist, die bestehende Gesellschaft zu retten und den Sieg des Proletariats aufzuhalten, sie begreifen nicht ihre Ohnmacht den gesellschaftlichen Entwicklungsgang gegenüber, oder es fehlt ihnen die nötige Selbstlosigkeit, Mut und Kraft, sich das einzugestehen und mit der bürgerlichen Gesellschaft zu brechen.

Wo letzteres der Fall, ist natürlich jede Propaganda aussichtslos und zwecklos. Wozu Elemente gewinnen wollen, die für eine kämpfende Partei nur eine lähmende Last sein können?

Anders steht es mit Jenen, die nicht Charakterschwäche, sondern nur Mangel an der nötigen Klarheit von uns fernhält. Sie sind zu gewinnen und es lohnt sich, sie zu gewinnen.

Welches ist aber der beste Weg dazu?

Man hat gemeint, um die sozialpolitisch gesinnte Intelligenz zu gewinnen, sei es geraten, die Punkte, die uns von ihr trennen, in den Hintergrund zu schieben und das Hauptgewicht auf die positive Sozialpolitik zu legen; da könnten Sozialdemokratie und Sozialreformer zusammen arbeiten und einander dadurch näher kommen.

Näher würden die beiden Teile einander wohl kommen, aber nicht die Sozialreformer uns, sondern wir ihnen. Wenn wir aufhören, Kritik an ihnen zu üben, ihre Unzulänglichkeit und ihre Ohnmacht nachzuweisen und zu betonen, dann helfen wir durch unsere Mitarbeit an der Sozialreform nur, jene Illusionen zu stärken, die wir zerstören wollen, und wir ermöglichen es Elementen, bei den Sozialreformen zu bleiben, die sonst zu uns kommen würden und müssten. Selbstverständlich müssen wir für soziale Reformen eintreten, aber wenn wir diese sozialpolitische Propaganda ohne die nötige Kritik den eigenen Vorschlägen gegenüber betrieben, wenn wir es unterlassen, darauf hinzuweisen, dass, so notwendig diese Forderungen auch sein mögen, an den vorhandenen sozialen Gegensätzen durch ihre Gewährung nichts geändert wird, dass es nur einen Weg zum „sozialen Frieden“ gibt, die Aufhebung der Klassen, dass die heutige Gesellschaft unrettbar dem Untergang verfallen ist und keine Mittel den schließlichen Zusammenbruch verhindern können, wenn wir das Alles unterlassen, dann besorgen wir die Arbeit für die Sozialreformer, für die Herren Brentano, Flürscheim, Adolf Wagner und Konsortien, und nicht die Sozialdemokratie. Je schroffer wir die Scheidewand zwischen uns und den Sozialreformern und „wahren“ Sozialisten aufrecht halten, desto deutlicher wird deren Impotenz offenbar und desto eher werden die mutigsten, ehrlichsten und einsichtigsten unter ihnen gedrängt, den letzten und entscheidenden Schritt zu tun, der sie noch von uns trennt.

Nicht alle Mitglieder der Intelligenz werden diesen Schritt offen tun können. Wer nicht eine ökonomisch unabhängige Position einnimmt, etwa als Arzt, oder das Zeug in sich hat, als Parteibeamter, etwa Redakteur, sein Brot zu erwerben, würde durch ein offenes Wirken für seine Überzeugung unsere Sache wenig nützen, sich selbst aber vielleicht völlig zu Grunde richten. Wir haben jedoch kein Interesse an bankrotten Existenzen und haben daher keine Ursache, zu wünschen, dass diese stillen Anhänger ohne Not sich kompromittieren. Unser Anhang in den Kreisen der Intelligenz ist denn auch viel stärker, als man dem Anschein nach annehmen sollte. Wir haben Anhänger in Kreisen, wo unsere Gegner es am allerwenigsten vermuten, und wenn für diese einmal ein Moment kommt, in dem sie aller ihrer Kräfte bedürfen, wenn es heißt: Alle Mann an Bord, dann werden sie mit Entsetzen sehen, wie gelichtet ihre Reihen sind und wie viele von denen, auf die sie rechneten, im entscheidenden Kampfe auf unsere Seite stehen. Alle Unterdrückungsmaßregeln gegen uns können nur den einen Erfolg haben, die falsche Sicherheit zu vermehren, in der sich unsere Gegner wiegen, den Selbstbetrug ihnen zu erleichtern und den endlichen Zusammenbruch um so vernichtender für sie zu gestalten.
 

VI. Die Studenten

Am leichtesten aber für uns zu gewinnen sind die Studenten. Man hat gegen sie eingewendet, dass sie keinen Beruf repräsentieren und daher keine Berufs- bzw. Klasseninteressen besäßen, die mit denen des Proletariats gemeinsam wären. Aber letzteres gilt ja, wie wir wissen, für die gesamte höhere Intelligenz, und die Einzelnen aus ihr, die gewonnen werden können, sind dem Sozialismus um so zugänglicher, je weniger ihre Einsicht durch materielle Interessen getrübt wird. Dies ist aber bei den Studenten am meisten der Fall, eben weil sie keinem Beruf angehören, sondern nur dem vorbereitenden Studium zu einem solchem.

Natürlich bedeutet das nicht, dass die Gesamtheit der Studenten dem Sozialismus zugänglich ist. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen, ja mitunter zwitschern die Jungen noch lauter als die Alten gesungen haben. Dem Bourgeoismilieu können sich viele Studenten nicht entziehen, und ihr jugendlicher Eifer und Tatendrang, der sie ehedem trieb, der politischen Opposition der Väter den entschiedensten und rücksichtslosesten Ausdruck zu geben, treibt sie heute, die Alten an brutaler, geistloser Genusssucht und an Streberei zu übertreffen.

Aber auch der „ideale“, für den Sozialismus begeisterte Student ist nicht immer ein Gewinn für uns. Derselbe Umstand, seine Berufslosigkeit, die ihn leichter für den Sozialismus empfänglich macht, macht ihn auch unzuverlässig. Er bleibt nicht ewig Student, über kurz oder lang tritt der „Ernst des Lebens“ an ihn heran, er gerät in das Bereich von ihm ganz neuen Berufsinteressen und seine Sozialistische Einsicht muss bereits tief gewurzelt und sein Charakter über den Durchschnitt hinaus selbstlos und mutig sein, wenn er bei einem etwaigen Konflikt zwischen seiner Überzeugung und seinem Interesse jene nicht fahren oder wenigstens langsam verblassen läßt und nicht von seinen „Jugendeseleien“ zu „vernünftigen Ansichten“ sich bekehrt.

Der Fall ist nichts weniger als ungewöhnlich. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass diejenigen Element der Intelligenz, die überhaupt für uns gewonnen werden können, dass unter den bewährten offenen oder stillen Parteigenossen aus der Intelligenz neun Zehntel als Studenten zu uns gekommen sind.

Ist es also wichtig, die besten Elemente der Intelligenz für unsere Sache zu gewinnen – und Niemand wird bestreiten wollen, dass dies von großer Wichtigkeit ist – dann ist die sozialistische Studentenbewegung ein Faktor, dessen Bedeutung man nicht zu gering anschlagen darf.

Unsere Partei hat das größte Interesse daran, alles zu fördern, was geeignet ist, die Kenntnis unserer Bewegung in studentischen Kreisen zu verbreiten, und sie hat alle Ursache, den Studenten, die sich uns anschließen wollen, freundschaftlichst entgegenzukommen, sobald sie nur den Bedingungen entsprechen, die an einen Parteigenossen überhaupt gestellt werden.

Ein Fehler aber ist es, wie es mitunter geschieht, jeden Studenten, der zu uns kommt, ohne Weiteres in die Parteitätigkeit hineinzuziehen. Die Parteitätigkeit der Studenten ist im Allgemeinen weder für die Partei, noch für die Studenten von Vorteil. Für die Partei nicht, weil ein Student, der an vielen Kenntnissen den Arbeitern überlegen ist, ihnen leicht imponiert und so bald zur Arbeit an Aufgaben herangezogen wird, zu denen ihm die Reife und die Erfahrung fehlt. Für den Studenten nicht, weil für ihn die Teilnahme an der Parteitätigkeit gleichbedeutend ist mit dem Verbrennen der Schiffe hinter sich. Es liegt weder im Interesse der Betreffenden, noch in dem der Partei, dass er seine ganze Existenz von der Partei abhängig macht, ehe er diese genau kennt und sie ihn erprobt hat.

Nicht als Lehrer und nicht als Kämpfer sollen die Studenten am Klassenkampf des Proletariats teilnehmen, sondern als Lernende, um späterhin Förderer unserer theoretischen Arbeiten zu werden, sowie Förderer der Interessen des Proletariats in ihrer Berufstätigkeit. Ein Beamter kann im Stillen oft Nützliches wirken. Sie sollen zu uns kommen, um zu lernen, unsere Literatur kennen zu lernen, aber auch unsere Bewegung. Sollen sie zum vollen Verständnis des Sozialismus gelangen, dann genügt es nicht, unsere Theorie zu kennen; sie müssen ins Leben hinabsteigen und das Proletariat aus eigener Anschauung kennen lernen, nicht jenes Proletariat, das so viele der „naturalistischen“ Dichter allein kennen, das einzige, dessen Bekanntschaft der Bourgeois macht, wenn er durch die Straßen flaniert oder in Wirtschaften mit Damenbedienung und ähnlichen Institutionen sich amüsiert. Das arbeitende und kämpfende Proletariat bekommt der Durchschnittsbourgeois höchstens bei einem Sonntagsspaziergang zu sehen, wo es seine charakteristischen Eigentümlichkeiten nicht entfaltet.

Aber die Jugend ist die Zeit des Tatendranges und gerade die besten unter den studentischen Genossen begnügen sich nicht mit der Rolle von Zusehern und Zuhörern. Sie wollen wirken für ihre Sache. Will man sie vor dem praktischen Eintreten in den Klassenkampf des Proletariats bewahren, dann muss man ihnen ein anderes Tätigkeitsfeld eröffnen. Und da erscheint uns als das nächstgelegene und passende die Studentenschaft selbst. In der Tat, wer anderer wäre berufen, unter den Studenten sozialistische Propaganda zu treiben, als die sozialistischen Studenten selbst? Ihre Aufgabe ist es, unter ihren Kommilitonen die Kenntnis dessen zu verbreiten, was sie durch Studium und eigene Anschauung, sowie durch den persönlichen Verkehr mit erfahrenen Parteigenossen gelernt. In welcher Weise diese Propaganda betrieben wird, ob sie sich auf die Agitation von Mann zu Mann beschränkt, ob sie in mehr oder weniger losen Vereinigungen, ob in Versammlungen, in besonderen Presserzeugnissen betrieben wird, das hängt natürlich von den Verhältnissen jedes einzelnen Landes ab. Wie immer aber sie sich gestalten mag, wir können in einer besonderen Studentenbewegung, auch wenn sie zu eigenen sozialistischen Studentenorganisationen und Kongressen führt, eine Gefahr für unsere Partei nicht erkennen.

Das heißt nicht etwa, dass wir behaupten wollen, eine sozialistische Studentenbewegung könne nicht unter Umständen schädlich wirken; aber was kann nicht unter Umständen schädlich wirken! Auch die Gewerkschaftsbewegung, auch der Parlamentarismus, auch die Presse. Wo die proletarische Bewegung schwach und unklar ist und neben ihr eine starke sozialistische Studentenbewegung besteht, kann diese allerdings zur Beherrschung und Leitung der ersteren gelangen, und da die Studentenschaft im Großen und Ganzen unzuverlässig und unberechenbar ist, kann dies zu sehr schweren Gefahren, entweder zu toller Experimenten oder zur Versumpfung führen. Aber für Deutschland und die meisten anderen Kulturländer ist die Gefahr ausgeschlossen, dass eine sozialistische Studentenbewegung je der proletarischen über den Kopf wachsen oder auch nur unabhängig von ihr bestehen könnte. Unsere Bewegung ist bereits viel zu kraftvoll und zu selbständig, als dass eine sozialistische Studentenbewegung ihr gegenüber jemals etwas Anderes sein könnte, als ein Anhängsel, das von ihr ins Schlepptau genommen wird und das Elend auf den Sand gerät, sobald es den Versuch macht, einen eigenen Kurs zu steuern: vide die Studenten- und Literatenrevolte der „Unabhängigen“, der Hans Müller, Bruno Wille, Landauer und Konsortien.

Auf jeden Fall erscheint uns die Beschäftigung der studentischen Genossen mit der Propaganda unter ihren Kollegen weniger bedenklich, als ihre Hereinziehung in die eigentliche Parteitätigkeit. Diese Propaganda, weit entfernt, schädlich zu sein, ist höchst notwendig, um unserer so rasch wachsenden Partei den nötigen Nachwuchs und Zuwachs an Kräften aus der Intelligenz zu sichern. Wir haben alle Ursache, sie zu fördern, soweit dies nicht auf Kosten anderer, wichtiger Momente geschieht: sie zu fördern, aber ohne uns Illusionen hinzugeben über den Erfolg, den diese Propaganda haben kann.

Resümieren wir: In der Intelligenz, wie in allen anderen Klassen, ist eine starke und stets wachsende Unzufriedenheit vorhanden; aber es ist nicht zu erwarten, dass diese zum Anschluss der Intelligenz uns als Klasse an das Proletariat führt; denn die Kopfarbeiter haben die Eigentümlichkeit, keine gemeinsamen Klasseninteressen, sonder nur Berufsinteressen zu kennen, und sie stehen als eine privilegierte Bevölkerungsschicht im Gegensatz zum Proletariat, das als unterste Klasse naturgemäß allen Privilegien ein Ende machen will.

Es gibt aber eine Reihe von Berufen und Schichten – und deren Zahl und Ausdehnung wächst täglich an –, die zwischen der Intelligenz und dem Proletariat stehen, aus jener in diese herabsinken und immer mehr aufhören, sich einer privilegierten Stellung zu erfreuen. Ihre entscheidenden Interessen werden die des Proletariats, sie werden fähig, einzutreten in dessen Klassenkampf, und früher oder später werden die meisten unter ihnen in denselben hineingezogen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, die teils ihren traditionellen Vorurteilen, teils ihrer Abhängigkeit entspringen.

Die Aristokratie der Intelligenz dagegen kann ebenso wenig wie de Bourgeoisie als Klasse gewonnen werden; nur Einzelne aus ihrer Mitte können wir zu uns heranziehen; aber dies ist bei der Intelligenz leichter als bei den Fabrikanten, den Kaufleuten etc., weil sie an der Ausbeutung des Proletariats, mit einigen Ausnahmen, direkt nicht beteiligt ist, und weil sie berufsmäßig jene geistigen Fähigkeiten in sich entwickelt, die sie zur Erkenntnis des notwendigen Entwicklungsganges unserer Gesellschaft eher befähigen, als die Mitglieder anderer Klassen, deren Klasseninteresse nicht mit den Bedürfnissen dieser Entwicklung zusammenfällt.

Unter der Intelligenz selbst aber sind am ehesten für den Sozialismus zu begeistern die Studenten. Soweit sich daher unsere Propaganda auf die Intelligenz erstrebt, hat sie vornehmlich der Studentenschaft zu gelten. Sie wird aber am besten durch die bereits gewonnen Studenten selbst betrieben, die, soweit sie propagandistisch tätig sein wollen, nicht in die proletarische Bewegung hineinzuziehen, sondern auf ihre eigenen Kreise zu verweisen sind.


Fußnoten

1. „Wie früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeois-Ideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinausgearbeitet haben.“ [Das Kommunistische Manifest]

2. „Die Heiden, ja die Heiden! ... Sie entschuldigten etwa die Sklaverei des Einen als Mittel zur vollen menschlichen Entwicklung des Anderen. Aber Sklaverei der Massen predigen, um einige rohe oder halbgebildete Parvenüs zu eminent spinners (hervorragenden Spinnern), extensive sausage makers (großen Wurstfabrikanten) und influential shoe black dealers (einflussreichen Stiefelwichshändlern) zu machen, dazu fehlte ihnen das spezifisch christliche Organ.“ (Marx, Kapital, I, 2. Aufl., S. 428)

3. Vergl. über diesen und andere hier berührte Punkte namentlich die ausgezeichnete Artikelserie von Lafargue, Das Proletariat der Handarbeit und der Kopfarbeit, Neue Zeit, V, S. 349 ff., 405 ff., 452 ff. und VI, S. 128 ff.

4. Eine eigenartige Stellung nehmen die Volksschullehrer ein. Sie gehören auch in die Zwischenstufe zwischen Intelligenz und Proletariat, aber ihre schlechte Lage wurde bisher weniger durch Überproduktion an Arbeitskräften erzeugt, obwohl auch diese, namentlich die wachsende Konkurrenz der Frauenarbeit anfängt, sich sehr bemerkbar zu machen, als durch die Geringschätzung, die die herrschenden Klassen für die Volksbildung hegen. Da jeder Machtzuwachs des Proletariats erhöhte Sorge für die Volksbildung bedeutet, haben die Volksschullehrer besonderes Interesse an dem Fortschreiten dieser Klasse, aber weniger als Proletarier, denn als Lehrer. Dieses Interesse hat sich bisher im Allgemeinen nur selten stark genug gezeigt, die Standesborniertheit zu überwinden, die, ganz nach der Weise der übrigen Intelligenz, durch Abschließung nach unten und Servilität nach oben ihre Zwecke am besten zu erreichen glaubt.


Zuletzt aktualisiert am 27. April 2018