Alexandra Kollontai

Die Situation der Frau in der
gesellschaftlichen Entwicklung

* * *

8. Vorlesung

Die Frauenarbeit in der
Entwicklungsperiode der
kapitalistischen Großindustrie


In der letzten Vorlesung diskutierten wir die früheste Akkumulationsperiode des Kapitals. Es war eine Periode langwieriger und blutiger Kämpfe zwischen der aufsteigenden Bourgeoisie und einer Feudalwelt, die sich selbst überlebt hatte.

Wir untersuchten die Stellung der Frau in dieser Übergangsperiode vom geschlossenen Naturhaushalt des Mittelalters zur modernen Geldökonomie, Heimindustrie und Manufaktur. Dabei stellten wir fest, wie Ihr Euch sicher erinnert, dass die Majorität der armen und arbeitenden Frauen nach der Einführung der unqualifizierten Arbeit immer häufiger in die Industrie abwanderte. Wir dürfen dabei jedoch nicht die Tatsache außer acht lassen, dass während der Manufakturperiode und der Heimindustrie die überwiegende Mehrheit aller Frauen sich nicht besonders eifrig darum bemüht hatte, ein eigenes Einkommen durch Arbeit zu sichern. Diese Frauen führten keine gesellschaftlich produktive Arbeit aus. Natürlich war die Hausarbeit damals wichtig und vervollständigte den Volkshaushalt, solange die Industrie noch kaum entwickelt war. Dennoch wurde Hausarbeit bei den volkswirtschaftlichen Berechnungen nicht berücksichtigt. Die Frau war trotz ihrer relativ schwierigen Arbeit in den Augen von Staat und Gesellschaft kein nützliches Mitglied. Sie diente mit ihrer Arbeit ja nur der eigenen Familie. Zum Nationaleinkommen wurde nicht die Arbeit der einzelnen Familienmitglieder gerechnet, sondern nur das Resultat dieser Arbeit, d. h. das gesamte Familieneinkommen, wobei die Familie die wirtschaftliche Grundeinheit war.

Auf dem Lande ist es auch heute noch so, dass man nur die Arbeit des „Hausherrn“ berechnet, während man die der einzelnen Familienmitglieder völlig übersieht. Das heißt aber nichts anderes, als dass man die gesamte Familie als eine ungeteilte ökonomische Einheit betrachtet. Da die Frauenarbeit für das gesamte Volksvermögen als bedeutungslos galt, so war das Los der Frau nach wie vor das einer unmündigen Dienstmagd.

Die Epoche der Manufaktur und des sich entfaltenden Großkapitals führte nicht zur Befreiung der Frau, sondern ganz im Gegenteil nur zu erneuter Unterdrückung in Gestalt der Lohnarbeit im Dienst des Kapitals. Lasst uns noch einmal feststellen, aus welchen Produktionsformen die Manufaktur hervorgegangen ist: aus der handwerklichen Heimarbeit. Warum wurde durch die Ausbeutung der Arbeit in Form von Heimarbeit die Entwicklung der Produktivkräfte, verglichen mit dem langsamen Entwicklungstempo der handwerklichen Produktionsperiode, wesentlich beschleunigt? Die Erklärung ist denkbar einfach: die Heimarbeiter waren nämlich gezwungen, sich wesentlich mehr anzustrengen als die Handwerker, um auch nur das Existenzminimum zu erreichen, und zwar deshalb, weil sie einen Teil ihres Arbeitseinkommens an ihren Aufkäufer abgeben mussten. Der Handwerker lieferte direkt an seinen Auftraggeber. Deshalb kam ihm auch der gesamte Mehrwert zugute. Der Kontakt zwischen dem Heimarbeiter und dem Absatzmarkt wurde von einem Zwischenhändler, dem Aufkäufer, besorgt. Mit der Entfaltung des Handels wuchs rein geographisch immer mehr der Abstand zwischen Produzenten und Absatzmarkt und die Bedeutung des Zwischenhändlers, des Aufkäufers oder Kaufmannes, nahm folglich zu. Der Mehrwert wurde nun zwischen dem Produzenten und dem Kaufmann geteilt, jedoch immer eindeutiger zum Vorteil des Aufkäufers, da dieser in der Lage war, die Armut und die schwierige Lage der Heimarbeiter auszunützen. Der Händler raffte auf diese Art einen „schönen Batzen Geld“ zusammen und wurde ein wohlhabender Mann, während das schwer schuftende, einfache Volk nur immer ärmer wurde. Je mehr sich dieser Verarmungsprozess beschleunigte, desto größer wurde die Ausbeutung. Zuletzt wurden sämtliche Familienangehörigen eines solch ruinierten Bauern oder Handwerkers – Mann wie Frau und Kinder – auf den freien Lohnmarkt getrieben. Das waren goldene Zeiten voll günstiger Gelegenheiten für die Profiteure, d. h. die ersten Fabrikanten und Unternehmer von Manufakturbetrieben.

Durch die weitgehende Arbeitsteilung öffnete die Manufaktur unqualifizierten Arbeitern die Tür, und wenn der Unternehmer schon unerfahrene Produzenten anstellte, so war es für ihn nur logisch, dass er sich für die billigste und hierfür am besten geeignete „Arbeitskraft“ entschied. Das waren aber Frauen und Kinder. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert können wir deshalb parallel zur Entfaltung der Manufakturbetriebe ein rasches Anwachsen der Frauenarbeit registrieren. Gewinnbringend für den Unternehmer ist ja nicht so sehr die Qualität des einzelnen Arbeiters (was unter der handwerklichen Produktionsform der Fall gewesen war), sondern hier ist die Menge der von ihm angestellten Arbeiter entscheidend, die Quantität. Seinen Gewinn zieht er aus der Summe sämtlicher unbezahlter Arbeitsstunden, die von seinen Arbeitern und Arbeiterinnen geleistet werden. Je mehr Arbeiter und je längere Arbeitstage, desto größer ist natürlich die totale Anzahl der unterbezahlten Arbeitsstunden und damit sein Profit, der wie ein Goldregen und ohne Umwege in die Tasche der Unternehmer fließt.

Die ursprüngliche Kapitalakkumulation näherte sich in rasender Fahrt ihrer Vollendung, und die Menschheit trat in das System der großkapitalistischen Produktion ein. Die Welt bekam ein neues Gesicht. Die Städte hatten schon längst die abseits gelegenen Ritterburgen als Handels- und Produktionszentren verdrängt. Die untereinander ewig verzankten Fürsten und Grafen mussten sich einem absolutistischen Monarchen unterwerfen, und die Volksstämme schlossen sich zu Nationen zusammen. Nach wie vor war zwar die Landwirtschaft wichtig für die Ökonomie, mit der Zeit jedoch verschob sich der Schwerpunkt auf die Fabrikindustrie als der nun bedeutendsten Quelle allen Reichtums. Holland, England und Frankreich – später kamen dann auch noch Deutschland und Österreich und zuletzt Russland hinzu – gingen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nacheinander zur kapitalistischen Großproduktion über.

Wir, die Kinder dieses Jahrhunderts des Kapitals, haben uns so an den Gedanken gewöhnt, dass die Produktion auf dem kapitalistischen Großbetrieb aufbaut, dass wir uns kaum vorstellen können, dass alle diese gigantischen Unternehmen, Fabriken und Werkstätten, in denen tausende und abertausende von Arbeitern beschäftigt sind, eigentlich erst zu einem recht späten Zeitpunkt entstanden sind. Den uns bekannten Typ von Werkstätten und Fabriken gibt es erst seit knapp 150 Jahren und in Russland nicht einmal so lange. Im 16. Jahrhundert konkurrierten in Russland die Fabriken noch nicht mit der Heimarbeit und der Manufaktur. Sogar in dem hochentwickelten kapitalistischen Amerika wurde noch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts darüber diskutiert, ob die Vereinigten Staaten sich auf die Seite der Länder mit Fabrikproduktion in Großbetrieben schlagen sollten oder zu jenen, deren Ökonomie von der Entwicklung der eigenen Landwirtschaft abhängig war.

Vor weniger als hundert Jahren kannte die Menschheit also noch gar nicht die Gesetzmäßigkeiten, die wirtschaftliche Entwicklung steuern, und viele rückständige Länder gaben sich deshalb der Illusion hin, gerade sie würden einen eigenen Weg gehen können. Wir brauchen nur einen flüchtigen Blick auf das rasche Entwicklungstempo des immer mächtiger werdenden Kapitalismus in solchen asiatischen Ländern wie Japan, China und Indien zu werfen, um mit Sicherheit voraussagen zu können, dass auch dort die Großindustrie die Heimarbeit verdrängen wird und die Städte sich das Hinterland für ihre Bedürfnisse unterwerfen werden.

Die großen wissenschaftlichen und technischen Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts trugen natürlich in hohem Grade zu den gewaltigen Erfolgen des kapitalistischen Systems bei. Eine Welt ohne Eisenbahnen, riesigen Fabrikhallen, Elektrizität und Telefon können wir uns heute kaum noch vorstellen. Dennoch hätten unsere Vorfahren diese Erfindungen sicher mit größter Überraschung und einer guten Portion Misstrauen begrüßt.

Die kapitalistische Produktion nahm im 18. Jahrhundert auf Grund einer Serie von Erfindungen, die die Arbeitsproduktivität verbesserten, einen gewaltigen Aufschwung. Da haben wir z. B. die Dampfmaschine, die wahrhaft geniale Erfindung von Watt. Durch diese Erfindung wurde der Grundstein für die Mechanisierung des Produktionsprozesses in der Manufaktur gelegt, und bisher von Menschen ausgeführte Arbeiten wurden durch Maschinen ersetzt. Gleichzeitig wurde nun die Aufgliederung eines Arbeitsvorganges in unerhört einfache Handbewegungen möglich. Der mechanische Webstuhl, die Strumpfstrickmaschine, die Wollkardätschmaschine und zahllose andere Erfindungen folgten einander Schlag auf Schlag und unterstützten seit Ende des 18. Jahrhunderts die Entfaltung der industriellen Produktion wesentlich. Die Perfektionierung der Technik wurde zu einem Faktor, der für die Profitmaximierung wichtig war. Während aller früheren Entwicklungsstadien wurde größtmögliche Produktivität durch manuelle Arbeit erreicht, und zwar indem man diese zweckmäßig organisierte. Um seinen Profit zu erhöhen, versuchte nun der Unternehmer, die Prinzipien, die bei der Arbeitsteilung in der Manufaktur gegolten hatten, zu verändern. Die Profitmaximierung war nicht mehr ausschließlich von der Anzahl der Arbeiter, die in einem Betrieb arbeiteten, abhängig, sondern auch von den mechanischen Maschinen und Motoren. Die Technik erhöhte die Arbeitsproduktivität in Dimensionen, die man sich zuvor nicht hätte träumen lassen: anstelle einer Spule konnte die Arbeiterin an einem mechanischen Spinnrad bis zu 1,200 Spulen wickeln. Eine Spulerin, die bisher nicht mehr als ein paar Spulen am Tag angefertigt hatte, war nun imstande, bis zu hundert Stück herzustellen. Eine einzige Arbeiterin, die maschinell 600.000 Nadeln am Tag fertigstellte, ersetzte 135 Arbeiterinnen. Mit Hilfe der Strumpfstrickmaschine konnte eine Arbeiterin ihre Arbeitsproduktivität von 20 Paar auf 1.200 Paar erhöhen. Maschinen ersetzten eine Form der Handarbeit nach der anderen. Die Arbeitsproduktivität nahm ungeheuer schnell zu und der Markt wurde von Waren überschwemmt, die in einem mechanisierten Produktionsprozess für den Massenverbrauch hergestellt wurden. Das Produktionstempo, die Lageraufstockung und das Vermögen der Unternehmer, Fabrikanten und Hüttenbarone wuchsen ins Unermessliche.

Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch die mechanischen Maschinen und Motoren verbesserte jedoch nicht den allgemeinen Lebensstandard der Arbeiter. Ganz im Gegenteil, ihre Unterjochung und Ausbeutung durch das Kapital verschlimmerten sich zusätzlich. Natürlich hätte die Mechanisierung der Produktion die Situation der Bevölkerung verbessern können, wenn z. B. eine Arbeiterin, die zuvor ohne Maschine 20 Paar Strümpfe hergestellt hatte und nun mit Hilfe der Maschine sechzig mal mehr produzierte, auch wirklich für 1.200 Paar Strümpfe bezahlt worden wäre. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Menschheit nach wie vor in einer Welt lebte, in der das Privateigentum fest verwurzelt war. Der Kapitalist betrachtete die Maschine, die er von einem Erfinder gekauft hatte, als einen Bestandteil seines Betriebes, als einen Teil seines Inventariums. Wenn er einen Arbeiter anstellte, so zwang er diesen, mit den Arbeitswerkzeugen zu arbeiten, die er ihm zur Verfügung stellte. Der Unternehmer hatte sein Glück gemacht, falls er ein Arbeitsgerät ergattern konnte, das die Produktivität seines Arbeiters um das Sechsfache oder noch mehr erhöhte. Der Fabrikant bezahlte den Arbeiter nicht für dessen Produktivität, sondern für dessen Arbeitskraft. Es lag also in seinem Interesse, größtmöglichen Nutzen aus seiner gekauften Arbeitskraft zu ziehen. Aus diesem Grunde führte die Mechanisierung der Produktion, die die Produktivität der männlichen und weiblichen Lohnsklaven bis zum Äußersten steigerte, nicht etwa zu einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, sondern eher zu deren Verschlechterung. Die Mechanisierung ließ die gelehrten Ökonomen und Unternehmer der Bourgeoisie auf den „strahlenden“ Gedanken kommen, die lebendige menschliche Arbeit sei keineswegs die Urheberin und Herstellerin aller Werte; solche Fähigkeit hatte in ihren Augen nur die tote mechanische Kraft der Maschine. Selbst wenn ein Unternehmer lediglich Maschinen besaß, so wusste er doch genau, dass die Beschaffung lebendiger Arbeitskraft ihm keine besonderen Schwierigkeiten bereiten würde. Fehlten ihm jedoch die notwendigen Maschinen, so hatte er nicht die geringsten Aussichten, nur durch die Arbeitsleistung der ihm zur Verfügung stehenden lebendigen Arbeitskräfte im Konkurrenzkampf auf dem allgemeinen Markt standhalten zu können. Deshalb gewöhnte sich der Kapitalist daran, die menschliche Arbeitskraft nur als lebendiges Anhängsel und Ergänzung zu den Maschinen zu betrachten. Ihr erinnert Euch doch, dass wir vor einiger Zeit schon festgestellt hatten, dass die Frauenarbeit bei den viehzüchtenden Volksstämmen unterbewertet wurde? Man betrachtete nämlich damals die Viehherde als die Quelle des Stammesvermögens, die Frau aber, die die Viehherde hütete, als ein Nebending. Dasselbe passierte, als die Fabriken zur Maschinenproduktion übergingen: die Arbeit wurde unterbewertet. Die Arbeiter und Arbeiterinnen verbesserten trotz Einführung der Maschinen ihr Einkommen in keiner Weise. Im Gegenteil, der Lebensstandard der Arbeiterklasse ging weiter zurück, und die rasch anwachsenden Profite waren dem Besitzer der Maschine, also dem Unternehmer vorbehalten. Die Entwicklung der Fabrikindustrie führte einerseits zu einer weiteren Kapitalakkumulation und andererseits zur verschärften Konkurrenz zwischen den Unternehmern selbst. Schließlich wollte jeder Unternehmer den größtmöglichen Profit einstreichen. Deshalb erhöhte er den Umsatz, überschwemmte den Markt mit seinen Produkten und verkaufte sie billiger als seine Konkurrenten, die noch nicht mit den modernsten Maschinen arbeiteten. Die kleineren Unternehmer und ganz besonders die Handwerker gingen in Konkurs und wurden selbst gezwungen, zusammen mit ihren Familienmitgliedern beim Großunternehmer um einen Arbeitsplatz zu betteln, obwohl der sie ruiniert hatte. Die Konzentration des Kapitals, d. h. die Ansammlung von Produktionsmitteln in den Händen von Großunternehmern, die sehr schnell reich wurden, und die Verarmung der Arbeiterschaft sind die beiden wichtigsten Prozesse, die die Entwicklung des kapitalistischen Großbetriebes gegen Ende des 19. Jahrhunderts auszeichneten. Im 20. Jahrhundert hat der Kapitalist als Gegengewicht zur blinden Konkurrenz einen neuen Machtfaktor auf die Beine gestellt: das Bündnis nämlich zwischen mehreren Unternehmern, die sogenannten Trusts. Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital spitzte sich zu.

Die Verarmung und der Bankrott der kleinen Unternehmer führte dazu, dass der Arbeitsmarkt mit billiger Arbeitskraft überschwemmt wurde. Die Aussaugermentalität der Großgrundbesitzer, die brutale Besteuerung und die Rückständigkeit der Landwirtschaft vertrieben die Bauern von ihrem Grund und Boden, und durch diese Landflucht erhöhte sich die totale Anzahl der Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich. Die Arbeitslosigkeit wuchs im 19. Jahrhundert in solch bedrohliche Dimensionen, dass sie den Anstoß zu einer speziellen theoretischen Schule gab, dem Malthusianismus, Malthus predigte die Geburtenkontrolle für die Arbeiterschaft, weil er dadurch den Zustrom zusätzlicher Arbeiter auf den Arbeitsmarkt dämpfen wollte. Dies wiederum sollte zu einer Abschwächung der Konkurrenz und dadurch zu einer allgemeinen Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse führen. Diese Theorie hat natürlich kein Echo gefunden. Sie ist jedoch auf ihre Art typisch, da sie uns zeigt, wie die Vorstellungen der Menschen von deren ökonomischer Lage abhängig sind. Während der Periode des Naturalhaushaltes und der Manufaktur, als wirtschaftlicher Erfolg in höchstem Grade abhängig war von der Anzahl der vorhandenen Arbeiter, wurde eine große Familie als eine „Gabe Gottes“ angesehen. Je mehr Arbeiter, desto größere Reichtümer. Die maschinelle Produktion führte dazu, dass nun die Maschinen als die Schöpfer allen Reichtums betrachtet wurden. Folglich wollte man die Arbeit ausmerzen, indem man den Nachwuchs der Arbeiter reduzierte. Diese Theorie ist zutiefst reaktionär und außerdem völlig falsch, außerdem ist sie schon längst durch die Geschichte selbst widerlegt worden. Wir befinden uns heute ganz im Gegenteil in der gerade entgegengesetzten Gefahr: der Mangel an Arbeitern gefährdet in der jetzigen Periode die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, deshalb kann es nicht Aufgabe der Menschen sein, die Geburtenrate zu senken. Jetzt gilt es im Gegenteil, sie zu stimulieren.

Doch lasst uns dazu übergehen, die Arbeit in der Fabrikproduktion näher zu untersuchen. Der Arbeitsmarkt wurde also, wie bereits gesagt, dauernd von frei verfügbaren Arbeitskräften überschwemmt. Seit dem 18. Jahrhundert treffen wir unter den Arbeitslosen auch einen zunehmenden Anteil von Frauen. Diese versuchten das einzige, was sie hatten, ihre eigene Arbeitskraft, an den Unternehmer zu verkaufen. Verweigerte ihnen der Unternehmer die Anstellung, so gab es für sie nur noch einen Ausweg, die Prostitution. Deshalb folgte der Lohnarbeit wie ein Schatten die Prostitution der Frau. Je normaler die Lohnarbeit für Frauen wurde, desto steiler stieg auch die Kurve an, die uns über die Ausbreitung dieses Kommerzes mit dem Frauenkörper berichtet.

Der Alltag der arbeitenden Frauen in der Auflösungsperiode des Handwerks und der Manufaktur war freudlos, rechtlos und voller Schwerarbeit. Sie waren den Gaunereien der Mächtigen schutzlos ausgeliefert. Doch die gesamten Leiden der vergangenen Jahrhunderte verblassten angesichts der Fabrikhölle, in die der Kapitalismus die Frau gezwungen hatte. Ihr braucht ja nur Engels Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England zu studieren. Obwohl es in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, sind auch heute noch viele der Verhältnisse, die in jenem Buch geschildert werden, in den kapitalistischen Ländern nicht abgeschafft. Kurz umschrieben sah das Leben einer Fabrikarbeiterin während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen aus: ein endloser Arbeitstag, der für gewöhnlich länger als 12 Stunden dauerte, schlechte Bezahlung, abstoßende, ungesunde Wohnverhältnisse – die Menschen lebten wie Vieh zusammengepfercht - kein Arbeitsschutz und keine Sozialversicherung, Zunehmen von Berufskrankheiten, hohe Sterblichkeitsrate und ständige Furcht vor Arbeitslosigkeit. So waren also die Verhältnisse, bevor die Arbeiterklasse anfing, sich zu organisieren und in ihrer Klassenpartei und ihren Gewerkschaften begann, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Die Unternehmer benutzten mit Vorliebe weibliche Arbeitskräfte, da diese billiger waren als die männlichen. Die Fabrikanten behaupteten kurzerhand, die Frauenarbeit sei eben mit der Arbeit der Männer qualitativ nicht vergleichbar. Die bürgerlichen Denker verschafften der Unternehmerschaft bereitwillig den erwünschten Vorwand, indem sie frech behaupteten, die Frau sei dem Manne von Natur aus auf sämtlichen Gebieten unterlegen. Doch die Unterbewertung der Frauenarbeit bis zum heutigen Tage lässt sich nicht mit irgendwelchen biologischen Eigenschaften erklären, sondern dahinter stecken soziale Ursachen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts arbeitete die Majorität aller Frauen nicht etwa in der Produktion für den Weltmarkt, sondern nach wie vor im Haushalt, einer wenig produktiven Arbeit. Daraus wurde die falsche Schlussfolgerung gezogen, Frauenarbeit sei weniger produktiv.

Auch die Tatsache, dass man bei der Berechnung des Arbeitsverdienstes die Versorgungspflichten des Mannes gegenüber seiner Familie berücksichtigte, trug zusätzlich zur größeren Unterbezahlung der weiblichen Arbeitskräfte bei. Sobald der Arbeitslohn das Existenzminimum einer Arbeiterfamilie unterschritt, konnte man entweder eine starke Abwanderung von Arbeitern aus diesem Produktionszweig feststellen oder aber sinkende Lebenserwartung für diese Arbeiter und deren Familie. Normal war es auch, dass nun Frauen und Kinder zur Lohnarbeit gezwungen wurden. Da jedoch die Versorgung der Frau nach wie vor die Angelegenheit ihres Mannes – „des Versorgers“ – war und die Frau selbst nur „nebenbei“ arbeitete, um das Familienbudget aufzubessern, so setzte sich die Auffassung allgemein durch, dass Frauenarbeit nichts anderes sei als ein Nebenverdienst. Die Unternehmer unterstützten bereitwillig diese Vorstellung. Das taten jedoch auch die Arbeiter selber, da sie noch nicht begriffen hatten, was eigentlich in ihrem Interesse lag. Die Arbeiter sahen nicht von heute auf morgen ein, dass die Frauenarbeit aus der großkapitalistischen Ökonomie nicht mehr wegzudenken war. Sie begriffen nur sehr langsam, dass die Frauen, die in der Großindustrie produktiv arbeiteten und Werte schufen, für immer ihr Leben hinter dem häuslichen Herd aufgegeben hatten. Während des ganzen 19. Jahrhunderts stand die Frauenarbeit im Vergleich zu der Männerarbeit niedrig im Kurs, und das, obwohl die Anzahl der berufstätigen Frauen, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre unmündigen Kinder und greisen Eltern und bisweilen einen arbeitslosen oder kranken Ehemann zu versorgen hatten, ständig zunahm. Diese Missstände herrschen in den kapitalistischen Staaten bis auf den heutigen Tag und das, obwohl die Gewerkschaften in dieser Frage aktiv geworden sind und einen Arbeitslohn für die geleistete Arbeit fordern, der für Männer und Frauen gleich ist. Doch auch die mangelnde Qualifizierung der Frauenarbeit trug zusätzlich zur schlechteren Bezahlung der Arbeiterinnen bei, und zwar ganz besonders vor 1850. Nur ein verschwindend kleiner Teil jener arbeitslosen Frauen, die sich nach einem Arbeitsplatz umsahen, hatte bereits früher einen Beruf ausgeübt, mit dem er sich versorgen konnte. Die Majorität aller Frauen war, unmittelbar nachdem sie die Trümmer ihres Heimes hinter sich gelassen hatten, in die Manufakturbetriebe gegangen. Sie hatten weder eine Ausbildung noch einen Zweitberuf. Da sie unter Armut und Hunger litten, und nie eine eigenständige Existenz gekannt hatten und sowieso seit Jahrhunderten an ein rechtloses Dasein und Kadavergehorsam gewöhnt waren, akzeptierten sie ohne zu protestieren auch noch die unmöglichsten Arbeitsbedingungen. Obwohl die Unternehmer theoretisch darüber räsonierten, dass die Frau dem Manne von Natur aus unterlegen sei, „ihre Arbeit deshalb weniger wert sei, als die des Mannes“, so scheuten sie sich doch in der Praxis nicht im geringsten, männliche Arbeiter auf die Straße zu setzen, wenn sie die Möglichkeit hatten, billige weibliche Arbeitskräfte an ihrer Stelle zu bekommen. Die Profitakkumulation litt darunter nicht im Geringsten. Wir können also daraus den Schluss ziehen, dass Frauenarbeit im Allgemeinen der Männerarbeit, was die Produktivität betrifft, nicht nachstand. Mit der Entwicklung der Maschinenproduktion verlor die Arbeitsqualifikation mehr und mehr an Bedeutung. In bestimmten Produktionszweigen (Textil-, Tabak-, chemische Industrie usw.) hatte die unqualifizierte Frauenarbeit ein solches Ausmaß angenommen, dass sie von der männlichen Arbeiterschaft als eine direkte Bedrohung betrachtet wurde. Die Frauen verdrängten durch ihre billigere Arbeitskraft nicht nur die Männer aus der Werkstätte, sondern sie ermöglichten auch den Unternehmern eine wesentliche Senkung der Arbeitslöhne. Je mehr Frauen in einem Produktionszweig angestellt wurden, desto niedriger wurde das Arbeitseinkommen der Männer. Je niedriger aber das Einkommen der Männer wurde, desto mehr Frauen, Töchter und Gattinnen der Proletarier waren gezwungen, sich einen Nebenverdienst zu beschaffen. Ein böser Kreislauf war entstanden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermochte die Arbeiterklasse durch den Kampf ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen diesen bösen Zirkel zu durchbrechen. Das Klassenbewusstsein der Arbeiter verdeutlichte auch den Männern, dass die Arbeiterin alles andere als eine „boshafte Konkurrentin“ des Arbeiters war, sondern dass sie, genau wie der Arbeiter, der Arbeiterklasse abgehörte. Nur durch gemeinsame organisatorische Anstrengungen konnte das Proletariat die immer unverschämteren Angriffe des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse abwehren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnete der Arbeiter jedoch seinen weiblichen Rivalen um den Arbeitsplatz mit Unwillen und Feindseligkeit. Die Organisationen, die eigentlich die Interessen des gesamten Proletariats verteidigen sollten, verboten den weiblichen Kollegen meistens die Mitgliedschaft. Die Löhne der Arbeiterinnen betrugen normalerweise nur die Hälfte der Lohne ihrer männlichen Kollegen Erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts begann in den mehr entwickelten kapitalistischen Staaten langsam eine Angleichung der Löhne der Arbeiterinnen; Resultat des Druckes, der von starken Arbeiterorganisationen ausgeübt wurde. In Russland jedoch verdiente die Frau vor der Revolution nur zwei Drittel oder sogar nur ein Drittel dessen, was der Arbeiter erhielt. So sind die Verhältnisse bis auf den heutigen Tag in Asien, also in Japan, Indien und China.

Die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen in der Entwicklungsperiode des Großkapitalismus wurden einerseits charakterisiert durch die unerhört niedrigen Arbeitslöhne und andererseits durch haarsträubend ungesunde Arbeitsbedingungen, die schwere Schäden am weiblichen Organismus zur Folge hatten, was häufig zu Fehl- oder Totgeburten und einer ganzen Reihe von Frauenkrankheiten führte. Je rosiger also die Zukunftsaussichten für den Kapitalismus waren, desto unerträglicher wurde das Leben für die Frauen. Doch die produktive Arbeit außerhalb des Heimes, die für die Gesamtgesellschaft nützliche Werte schuf und auch von der Nationalökonomie entsprechend gewürdigt wurde, war letzten Endes trotz allem jene Kraft, die der Frau den Weg zur Befreiung ermöglichte.

Wir wissen, dass die Stellung der Frau durch ihre Rolle in der Produktion bestimmt wird. Solange die Mehrheit aller Frauen durch die recht unproduktive Haushaltsarbeit gebunden war, scheiterten alle Versuche und Initiativen der Frauen nach Gleichheit und Unabhängigkeit. Diese Versuche hatten ja keinerlei Basis in den ökonomischen Verhältnissen. Die Großproduktion in den Fabriken, die Millionen von Arbeiterinnen verschlang, veränderte jedoch nachträglich den Stand der Dinge. Die Haushaltsarbeit kam jetzt an zweiter Stelle und die Frauenarbeit wurde, nachdem sie so lange nur Zufallscharakter gehabt hatte, die Regel und ein normaler und notwendiger Zustand. Das 20. Jahrhundert ist der Wendepunkt in der Geschichte der Frau. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch erlebten jene Frauen, die zur Arbeit als „Fabrikmädchen“ gezwungen waren, dies als eine persönliche Katastrophe. Aber bereits Ende des 19. und erst recht im 20. Jahrhundert arbeiteten in den kapitalistischen Staaten zwischen 30 und 45 % sämtlicher Frauen. Während der Manufakturperiode waren es nur Witwen, alte Jungfern und sitzengelassene Frauen gewesen, die erwerbstätig waren. Im 19. Jahrhundert waren hingegen nahezu die Hälfte der Arbeiterinnen verheiratet. Warum? Na klar, der Verdienst des Mannes reichte hinten und vorne nicht mehr aus. Nun war endgültig Schluss mit der Ehe als Versorgungseinrichtung für die Frau. Um sich und die Kinder ernähren zu können, mussten sowohl Mann als auch Frau arbeiten. Der Mann war nicht mehr der „Alleinversorger“. Nur zu häufig war es ganz im Gegenteil die Frau, die jetzt ganz allein die Last schleppen musste, und das ganz besonders in Krisenzeiten und bei langwährender Arbeitslosigkeit des Mannes. Es kam in Arbeiterfamilien vor, dass die Ehefrau zur Arbeit ging, während ihr Mann zu Hause blieb, die Kinder hütete und die Hausarbeiten machte. Das waren in den Textilindustriegebieten der USA zeitweise recht typische Verhältnisse. In bestimmten Städten zogen die Unternehmer es vor, billige Arbeitskräfte einzustellen, so kam es, dass die Frau z. B. in einer Webfabrik arbeitete, während der Mann zu Hause saß. Diese Kleinstädte wurden zeitweise sogar „she towns“ (Frauen-Städte) genannt. Die allgemeine Anerkennung der Frauenarbeit zwang mit der Zeit die ganze Arbeiterklasse, ihren bisherigen Standpunkt den Frauen gegenüber zu überprüfen und sie schließlich als Kameraden und gleichberechtigte Mitglieder ihrer proletarischen Kampforganisationen anzuerkennen.

Die Frauenarbeit wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkenswert rasch an. In den Jahren zwischen 1871 und 1901 stieg in England zum Beispiel in einer Branche der Anteil der männlichen Arbeiter um 23 % und der der weiblichen Arbeiter um 25 % an. Während dieser Periode fiel der Löwenanteil der Zuwachsrate innerhalb der gesamten englischen Arbeiterklasse auf die Gruppe der Arbeiterinnen, die sich um 21 % erhöhte, während in der gleichen Periode der Anteil der männlichen Arbeitskräfte nur um 8 % zunahm. Im Jahre 1901 waren 34 % der französischen Frauen berufstätig, im Jahre 1906 waren es 39 %. Im Jahre 1881 schätzte man in Deutschland die Anzahl der berufstätigen Frauen auf 5,5 Millionen, in den Jahren 1890 bis 1895 auf 6,5 Millionen und im Jahre 1907 auf 9,5 Millionen. Während des 1. Weltkrieges gab es in Deutschland mehr als 10 Millionen berufstätige Frauen. Bereits im Jahre 1882 arbeiteten in Deutschland bereits 23 % aller Frauen in der Produktion und im Jahre 1907 stieg dieser Anteil auf 30 % an. Während des 1. imperialistischen Weltkrieges arbeiteten dann 30 % aller Frauen in der Industrie. (Vor dem Krieg dominierte die Frauenarbeit nur in 17 Industriebranchen, während des Krieges in 30 Industriebranchen.) In Russland verzwanzigfachte sich die Anzahl der berufstätigen Frauen während des 1. Weltkrieges. Wenn man die Anzahl der berufstätigen Frauen in Europa und den Vereinigten Staaten vor dem 1. Weltkrieg auf 60 Millionen einschätzt, so sind es heute ohne jede Übertreibung mindestens 70 Millionen. Hinzu kommt eine wachsende Anzahl von Arbeiterinnen in Asien, das heute eine starke Industrialisierung erlebt. Von den 2 Millionen japanischen Proletariern sind bereits heute 750.000 Arbeiterinnen und bei der letzten Volkszählung in Indien wurde die Zahl der in den Fabriken, Hütten, in Heimarbeit, Landwirtschaft und Tee-, Kaffee- und Baumwollplantagen berufstätigen Frauen auf 19 Millionen geschätzt. In China sind grob geschätzt zehntausende von Frauen entweder in Fabriken beschäftigt oder aber sie versorgen sich durch Heimarbeit oder als Angestellte in privatem oder öffentlichem Dienst. Zu den westlichen Ländern gesellt sich also der erwachende und entwicklungsfähige Osten, und überall finden wir die Frau-Arbeiterin, Schulter an Schulter mit dem Mann-Arbeiter. Die kapitalistische Weltwirtschaft kann gar nicht mehr auf den Einsatz der Frauen verzichten, d. h. aber, die Frau hat als Arbeitskraft endgültig Anerkennung gefunden.

Von diesen Frauen ist beinahe die Hälfte verheiratet. Diese Tatsache ist für uns außerordentlich interessant, da sie mit der alten Vorstellung aufräumt, dass die Frau, wenn sie erst einmal verheiratet ist, auf ein gewisses Arbeitseinkommen verzichten kann. In Deutschland, England und Russland betrug z. B. der Anteil der verheirateten Frauen mehr als ein Drittel sämtlicher erwerbstätigen Frauen. In den höchsten Entwicklungsstufen des Kapitals ist also die Frau nicht mehr bloß ein lebendiges Anhängsel ihres Mannes. Sie hat aufgehört, sich einzig und allein mit unproduktiver Haushaltsarbeit zu beschäftigen, und deshalb ist auch das Ende der Tage ihrer jahrhundertealten Versklavung abzusehen.

Was treibt die Frau in die Fabriken und Werkstätten? Wer von Euch kann mir meine Frage beantworten? Arbeitet die Frau freiwillig in der Fabrik oder bei fremden Leuten, oder war es eine unabhängige soziale Kraft, die sie dazu zwang?

Studentin: Die Arbeit des Arbeiters wurde immer schlechter bezahlt, so dass er schließlich nicht mehr imstande war, alleine seine Familie zu versorgen.

Kollontai: Das ist völlig richtig. In der Periode der Maschinenproduktion nimmt man nicht mehr Rücksicht darauf, ob ein Arbeiter eine Familie zu versorgen hat, wenn man seinen Lohn berechnet. Der Fabrikant kümmert sich einen Dreck darum, unter welchen Bedingungen die Kinder der Arbeiterschaft leben müssen. Der technische Fortschritt sorgte ja dafür, dass ihm für seine Produktion jederzeit genügend Arbeitslose zur Verfügung stehen, und wenn der Arbeitslohn so gering ist, dass sich der Arbeiter knapp selbst davon ernähren kann, so muss sich eben auch seine Frau hinter die Maschine stellen. Die stumme Statistik zeigt, dass 90 % aller verheirateten Arbeiterinnen auf Grund nackter Not, Hunger und größter Armut zur Arbeit gezwungen werden. Dieses Millionenheer arbeitender Frauen hat sich also nicht freiwillig verkauft, sondern wurde durch die Verhältnisse dazu gezwungen.

Die Arbeit in jenen Fabriken und Werkstätten, die für den weiblichen Organismus anstrengend oder oft sogar gefährlich ist, hat ein neues Problem geschaffen, das früher nicht existiert hatte: das Problem der Mutterschaft. Anders ausgedrückt: ist die Mutterschaft vereinbar mit der Lohnarbeit im Dienste des Kapitals? Die Mutterschaft und der Beruf, d. h. die Teilnahme der Frau an der produktiven Arbeit, sind in der Tat unter dem kapitalistischen System unvereinbar. Die Familie des Arbeiters löst sich auf, die Kinder werden sich selbst überlassen und das Heim verwahrlost. Außerdem ist die Frau keine gesunde Mutter, solange sie in einem Produktionszweig mit ungesunden Arbeitsbedingungen arbeitet, minderwertige Nahrung zu sich nimmt, solange kein Mutterschutz besteht und die Lebensverhältnisse überhaupt ganz miserabel sind. Fehlgeburten und Totgeburten häufen sich. Die Säuglingssterblichkeit in den Industriestädten erreicht ein Niveau von 30 bis 50 % und in einigen besonders gefährlichen Berufen, wie z. B. bei der Zubereitung von Bleiweiß und Quecksilber für die Spiegelfabrikation übersteigt sie sogar 60 %. Könnte der Kapitalismus auch weiterhin ungestört existieren, d. h. wäre die Arbeiterklasse nicht auf dem Wege, die Macht und die Kontrolle über die Produktion an sich zu reißen, so würde die Menschheit in naher Zukunft von einer echten Degeneration bedroht. Glücklicherweise jedoch hat das Proletariat aus der Geschichte die richtigen Schlüsse für das eigene Handeln gezogen. Der Sieg der russischen Revolution macht den Weg – auch in anderen Ländern – frei für die soziale Revolution. Mit der Planung auf der Grundlage der kommunistischen Prinzipien hat die Menschheit zugleich den Schlüssel für die Lösung des Mutterschaftsproblems gefunden. In der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wird jede lebendige Arbeitskraft, also auch die der weiblichen Arbeiter, produktiv und im Interesse der Gesellschaft ausgenützt. Deshalb schützt unsere Gesellschaft die schwangere und stillende Frau und garantiert ihr einen Lebensstandard, der es ihr ermöglicht, auch andere soziale Aufgaben befriedigend wahrzunehmen. Nach wie vor lebt jedoch die Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern unter dem Joch des Kapitalismus, und die Mutterschaft lastet wie ein Bleigewicht auf den Schultern der Frauen, die außerdem bereits unter der doppelten Belastung durch Beruf und Haushalt stehen. Kann man damit rechnen, dass das Einkommen des Arbeiters sich so verbessert, dass die verheiratete Frau von dem Zwange, Geld zu verdienen, befreit wird? Natürlich nicht! Die Lohnerhöhungen, die von den Arbeitern und ihren Klassenorganisationen erkämpft werden, hinken im Wettlauf mit den permanenten Preiserhöhungen für notwendige Gebrauchsartikel immer nach. Selbst wenn die Arbeiterklasse einen Lohnkampf so erfolgreich abschließt, dass die entsprechende Preiserhöhung aufgefangen würde – ein solcher Lohnabschluss wäre tatsächlich ein echter Erfolg –, so wäre trotzdem das grundsätzliche Problem noch lange nicht gelöst. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Bedürfnisse der Arbeiterfamilie sich auch weiterentwickeln. Sobald nämlich die Armut als direkte Ursache für die Erwerbstätigkeit der Frau wegfällt. wächst automatisch auch das kulturelle Anspruchsniveau des Arbeiters und der Arbeiterin: sie wollen für ihre Kinder die bestmögliche Erziehung und Ausbildung, sie wollen selber mal ein Buch kaufen oder ins Theater gehen. Dieser Prozess wiederum zwingt die Frau erneut, erwerbstätig zu sein. Die wachsende Nachfrage der entwicklungsfähigen Produktion nach weiblicher Arbeitskraft ist ein weiterer wichtiger Faktor, der zusätzlich eine Einschränkung der wachsenden Frauenarbeit durch Gesetze effektiv verhindert. Der Krieg hat der Gesellschaft unzweideutig klargemacht, dass sie auf die Frauenarbeit nicht länger verzichten kann. Man kann die Frauen weder durch ein Gesetz noch durch andere staatliche Eingriffe zwingen, in den Haushalt zurückzugehen. Ein Rückzug in die Familie ist nicht mehr möglich. (Eine solche Lösung wurde übrigens noch vor 50 Jahren ernsthaft von bürgerlichen Wissenschaftlern diskutiert und in proletarischen Kreisen unterstützt.) Und was zum Kuckuck hat die Frau in der Familie überhaupt noch zu suchen, wenn ein Großteil ihrer traditionellen Funktionen schon längst von Institutionen außerhalb der eigenen Familie übernommen worden sind?

Falls Ihr Euch noch für weitere Informationen über die Situation der berufstätigen Frauen interessiert, dann empfehle ich Euch das Kapitel Der Beruf und die Mutterschaft in meinem Buch Die Gesellschaft und die Mutterschaft. In diesem Buch habe ich mich auch ausführlich mit den feindlichen Reaktionen gegenüber der Frauenarbeit im Proletariat auseinandergesetzt. Außerdem habe ich in diesem Buch die Statistiken über die Beschäftigungszahlen der verheirateten Frauen in den verschiedenen Ländern veröffentlicht.

Wir wollen heute noch eine andere Frage in die Diskussion aufnehmen, eine Frage, die von größter Wichtigkeit für die Einschätzung der Frauenarbeit im Kapitalismus ist. In welchen Branchen werden eigentlich die meisten Frauen beschäftigt? Zur Zeit – und ganz besonders nach dem Ersten Weltkrieg – gibt es keinen Industriezweig, in dem Frauen nicht tätig wären. Die Frauenarbeit hat sich nicht nur in Industrie und Landwirtschaft durchgesetzt, sie hat sich auch im Transportwesen, in sämtlichen staatlichen Ämtern und in der Gemeindeverwaltung durchgesetzt. Im Handel und besonders im Kleinhandel haben die Frauen schon seit dem Mittelalter gearbeitet. Ganz allgemein lässt sich jedoch sagen, dass die Frauenarbeit in solchen Branchen besonders typisch ist, die nur geringe Forderungen an die Qualifikation ihrer Arbeitskraft stellen und dann selbstverständlich in Branchen, die bestimmte Funktionen des früheren erweiterten Haushaltes übernommen haben. Die meisten Frauen finden wir in der Textil-, Tabak- und chemischen Industrie, aber auch im Handel, also in Branchen, die verhältnismäßig geringe Berufsqualifikationen erfordern.

In vielen Ländern – u. a. in Russland, England, Deutschland, Japan – gibt es mehr weibliche als männliche Arbeiter in diesen Produktionszweigen. Industriezweige, die sich zu einem relativ späten Zeitpunkt aus der häuslichen Arbeit entwickelt haben, sind unter anderem: die Herstellung von Bekleidung und Stoffen, die Lebensmittelherstellung, Dienstleistungen für den Haushalt, Arbeiten in Wäschereien, Wirtshäusern und Cafés. Dass eine Frau nicht nähen, bügeln oder den Tisch decken kann, ist äußerst ungewöhnlich. In diesen Branchen wird also die nicht vorhandene Berufsausbildung ganz einfach durch praktische Erfahrung ersetzt. Es ist jedoch typisch, dass bei der Umstellung dieser Branchen auf Mechanisierung der Arbeit (elektrische Wäschereien oder Dampfwäschereien, Nähfabriken usw.) die weibliche Arbeitskraft auch in diesen reinen Frauenberufen durch ihre männlichen Kollegen verdrängt wird. Die Arbeitskräfte werden umverteilt. Die Männer infiltrieren traditionell weibliche Arbeitszweige, und die Frauen gehen in Berufe, die seit jeher als Männerberufe angesehen wurden. Diese Umgruppierung hat ein und dieselbe Ursache: die Mechanisierung der Produktion. Der Mann übernimmt die Nähmaschine und das elektrische Bügeleisen. Die Frau stellt sich an die Drehbank und die Setzmaschine. Die Mechanisierung der Arbeit durch die Maschine erreicht hier ihre Vollendung. Diese Mechanisierung der Produktion führt zu einer Gleichstellung der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte und dies führt zur Anerkennung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Frau und Mann. Die Anzahl der berufstätigen Frauen im Kommunikationssektor hat in den letzten zwanzig Jahren kräftig zugenommen. Diese Arbeit erforderte eine Berufsausbildung ebenso wie die Büroarbeit. Beide Berufsgruppen erlebten einen lawinenartigen Zustrom von Frauen. Dass die Frau heute auf ein Gebiet vordringt, das gründliche Berufskenntnisse voraussetzt, beweist uns, dass die Frauenarbeit aus der produktiven Produktion gar nicht mehr wegzudenken ist. Die Frau hat gelernt, ihre Arbeit als notwendig und nicht als zufällig zu betrachten. Sie baut sich keine Luftschlösser. Ihre Zukunft soll nicht mehr durch Eheschließung, sondern durch einen eigenen Beruf garantiert werden. Heutzutage bemühen sich deshalb auch die Eltern und ganz besonders in hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften – ihren Söhnen und Töchtern eine ordentliche Berufsausbildung zu geben. Diese Ausbildung als Handwerker oder in einem anderen Beruf soll den Kindern später das Brot verdienen ermöglichen. Im 19. Jahrhundert verlor die Frauenarbeit also ihren Zufälligkeitscharakter, sie setzte sich allgemein durch. Der Weltkrieg hat diese Entwicklung nur noch vorangetrieben, indem er die letzten Illusionen der Frau zerschlug, dass es noch möglich sei, sich eines Tages ins eigene Heim und in die eigene Familie zurückzuziehen. Nur noch einmal kurz eine Zusammenfassung unseres heutigen Gesprächs. Wir haben das Schicksal der Frauen in der Geschichte untersucht. Im 20. Jahrhundert schloss sich der Kreis. In grauer Vorzeit stand die Frau an der Seite des Mannes als ein gleichberechtigter Produzent von Werten und Gebrauchsartikeln für das Gesamtkollektiv. Sie wurde ganz besonders geachtet, weil sie nicht nur wie der Mann ihre Pflichten der Gesellschaft gegenüber erfüllte, indem sie arbeitete, nein, zusätzlich gebar und erzog sie ja auch noch neue Stammesmitglieder. Ihre Bedeutung für die Urgemeinschaft war deshalb größer als die des Mannes. Die Arbeitsteilung und das Privateigentum ketteten die Frau jedoch an das eigene Heim, und sie wurde von nun an als lebendiges Anhängsel betrachtet. Dieselben Produktionskräfte aber, die auf einem bestimmten Stadium der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die Einführung des Privatvermögens ermöglicht haben, brachten dann eine völlige und allseitige Befreiung der Frau. Durch die Teilnahme der Frau an der Produktion wird ein Fundament für ihre Befreiung auf sämtlichen gesellschaftlichen Gebieten gelegt. Doch erst in der neuen ökonomischen Gesellschaftsordnung, dem Kommunismus, kann die Befreiung auch praktisch durchgeführt werden.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020