Rosa Luxemburg


Sozialdemokratie und Parlamentarismus

(4.–5. Dezember 1904)


Sächsische Arbeiterzeitung, 5. und 6. Dezember 1904.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., Berlin 1979, S. 447–455.
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I

Der Reichstag ist wieder unter sehr bezeichnenden Begleiterscheinungen zusammengetreten. Einerseits erneute freie Ausfälle der Reaktionspresse – vom Kaliber der Post – gegen das allgemeine Wahlrecht, andererseits deutliche Zeichen der „Parlamentsmüdigkeit“ in den bürgerlichen Kreisen selbst, dabei die immer auffälligere Hinausschiebung in der Einberufung des Reichstages durch die Regierung bis ganz kurz vor den Weihnachtsferien – alles das gibt ein krasses Bild des rapiden Verfalls des wichtigsten deutschen Parlaments und seiner politischen Bedeutung. Es ist nunmehr klar, daß der Reichstag in der Hauptsache nur zusammentritt, um den Etat, eine neue Heeresvorlage, neue Kredite für den afrikanischen Kolonialkrieg [1], im Hintergrund winkende unvermeidliche neue Marineforderungen und die Handelsverträge anzunehmen – lauter fertige Tatsachen, Ergebnisse der außerparlamentarischen Wirkung politischer Faktoren, vor die der Reichstag gestellt wird, um als automatische Jasagemaschine die Kosten dieser außerparlamentarischen Politik zu beschaffen. Wie sehr das Bürgertum diese klägliche Rolle seines Parlaments mit vollem Bewußtsein und voller Ergebenheit mitmacht, zeigt klassisch die Äußerung eines linksliberalen Berliner Blattes, das angesichts der neuen exorbitanten Militärforderungen, die eine Erhöhung der Präsenzstärke um mehr als 10.000 Mann und der Aufwendungen dafür im kommenden Quinquennal [Jahrfünft] um 74 Millionen bedeuten und mit der üblichen Drohung, sonst die dreijährige Dienstzeit wieder einzuführen, dem Reichstag wie eine Pistole auf die Brust gesetzt werden, mit einem stillen Seufzer im voraus sagt: Da die Volksvertretung das (die dreijährige Dienstzeit) nicht wünschen könne, dürfe man die Heeresvorlage „wohl schon heute als genehmigt ansehen“. Und diese heldenhafte Prophezeiung des Liberalismus wird natürlich ebenso glänzend stimmen wie jede Rechnung, die die schmachvolle Selbstentäußerung der bürgerlichen Reichstagsmehrheit zu ihrem Ausgangspunkt nimmt.

Wir haben da vor uns in den Schicksalen des deutschen Reichstages ein wichtiges Stück der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus überhaupt, über deren Tendenzen und innere Zusammenhänge sich vollkommen klarzuwerden, durchaus im Interesse der Arbeiterklasse liegt.

Es ist eine historisch nicht bloß erklärliche, sondern notwendige Illusion des um die Herrschaft kämpfenden und noch mehr des zur Herrschaft gelangten Bürgertums, daß sein Parlament die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibende Macht der Weltgeschichte sei. Eine Auffassung, deren natürliche Blüte jener famose „parlamentarische Kretinismus“ ist, der über dem selbstgefälligen Redegeplätscher von ein paar hundert Abgeordneten in einer bürgerlichen Gesetzgebungskammer die weltgeschichtlichen Riesenkräfte übersieht, die draußen im Schoße der gesellschaftlichen Entwicklung, ganz unbekümmert um die parlamentarische Gesetzmacherei, wirksam sind. Es ist aber gerade dieses Spiel der blinden Elementarkräfte der sozialen Entwicklung, an der die bürgerlichen Klassen selbst mittun, ohne es zu wissen und zu wollen, das zur unaufhaltsamen Unterwühlung nicht bloß der eingebildeten, sondern jeglicher Bedeutung des bürgerlichen Parlamentarismus führt.

Es ist nämlich – wie dies an den Schicksalen des deutschen Reichstages schlagender als in irgendeinem anderen Lande geprüft werden kann – die doppelte Einwirkung der internationalen wie der innerpolitischen Entwicklung, die den Verfall der bürgerlichen Parlamente herbeiführt. Einerseits reißt die in den letzten zehn Jahren mächtig emporgekommene Weltpolitik das ganze wirtschaftliche und soziale Leben der kapitalistischen Länder in einen Strudel unübersehbarer, unkontrollierbarer, internationaler Wirkungen, Konflikte, Umgestaltungen, in dem die bürgerlichen Parlamente wie ein Balken auf stürmischem Meere ohnmächtig hin- und hergezerrt werden.

Andrerseits wird die Gefügigkeit und Ohnmacht des bürgerlichen Parlaments gegenüber diesem vernichtenden Anprall der weltpolitischen Brandung, dem Militarismus, Marinismus, der Kolonialpolitik, durch die innere Klassen- und Parteientwicklung der kapitalistischen Gesellschaft vorbereitet und zur Reife gebracht.

Der Parlamentarismus ist – weit entfernt ein absolutes Produkt der demokratischen Entwicklung, des Fortschritts im Menschengeschlechte und dergleichen schöner Dinge zu sein – vielmehr die bestimmte historische Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie und – dies nur die andere Seite dieser Herrschaft – ihres Kampfes mit dem Feudalismus. Der bürgerliche Parlamentarismus bleibt nur lebendig, solange der Konflikt zwischen der Bourgeoisie und dem Feudalismus währt. Erlischt das belebende Feuer dieses Kampfes, so verliert der Parlamentarismus vom bürgerlichen Standpunkt den historischen Zweck. Seit einem Vierteljahrhundert ist aber der allgemeine Zug der politischen Entwicklung in den kapitalistischen Ländern ein Kompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudalismus. Die Verwischung des Unterschiedes zwischen den Whigs und den Tories in England, zwischen den Republikanern und dem klerikal-monarchistischen Adel in Frankreich sind Produkte und Äußerungen dieses Kompromisses. In Deutschland stand der Kompromiß bereits an der Wiege der bürgerlichen Klassenemanzipation, erstickte schon ihren Ausgangspunkt – die Märzrevolution – und gab dem deutschen Parlamentarismus im voraus die verkrüppelte Gestalt einer ständig zwischen Tod und Leben schwebenden Mißgeburt. Der preußische Verfassungskonflikt [2] war das letzte Aufflackern des Klassenkampfes des deutschen Bürgertums wider die feudale Monarchie. Seitdem wird die Grundlage des Parlamentarismus: die politische Übereinstimmung der Volksvertretung mit der Regierungsgewalt nicht in der Weise reguliert wie in England, Frankreich, Italien, den Vereinigten Staaten, daß die Regierung der jeweiligen Parlamentsmehrheit entnommen wird, sondern durch einen umgekehrten, der preußisch-deutschen Spezialmisere entsprechenden Modus: indem nämlich jede bürgerliche Partei, die im Reichstag zur Macht gelangt, eo ipso [eben dadurch] zur Regierungspartei, das heißt zum Werkzeug der feudalen Reaktion wird. Siehe die Schicksale der Nationalliberalen und des Zentrums.

Der so perfekt gewordene feudal-bürgerliche Kompromiß, der den Parlamentarismus selbst vom historischen Standpunkt zu einem Rudiment, zu einem funktionsberaubten Organ gemacht, hat auch all die heute auffallenden Merkmale des parlamentarischen Verfalls mit zwingender Logik produziert. So lange der Klassenkonflikt zwischen Bürgertum und Feudalmonarchie dauert, ist der offene Parteikampf im Parlament sein natürlicher Ausdruck. Auf dem Boden des perfekt gewordenen Kompromisses dagegen sind bürgerliche Parteikämpfe im Parlament unnütz. Die Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der herrschenden bürgerlich-feudalen Reaktion werden nicht mehr durch Kraftproben im Parlament, sondern in der Form des Kuhhandels hinter den Kulissen des Parlaments ausgetragen. Was an bürgerlichen offenen Parlamentskämpfen noch übriggeblieben ist, sind nicht mehr Klassen- und Parteikonflikte, sondern höchstens in zurückgebliebenen Ländern, wie Österreich, Nationalitäten-, d. h. Cliquenhader, dessen adäquate parlamentarische Form die Raufszene, der Skandal ist.

Mit dem Absterben der bürgerlichen Parteikämpfe schwinden auch ihre natürlichen Organe: die markanten parlamentarischen Persönlichkeiten, die großen Redner und die großen Reden. Die Redeschlacht als parlamentarisches Mittel hat überhaupt nur für eine Kampfpartei Zweck, die im Volke einen Rückhalt sucht. Das Reden im Parlament ist dem Wesen nach immer ein Reden „durch das Fenster“. Vom Standpunkte des Kuhhandels in der Kulisse, als dem normalen Austragsmittel der Interessenkonflikte auf dem Boden des bürgerlich-feudalen Kompromisses, sind Redeschlachten zwecklos, ja zweckwidrig. Daher der Unwille der bürgerlichen Parteien über das „viele Reden“ im Reichstag, daher das lähmende, matte Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit, das über den Redekampagnen der bürgerlichen Parteien wie eine bleierne Decke lastet und den Reichstag in ein Haus der tödlichsten Geistesöde verwandelt.

Und schließlich hat der bürgerlich-feudale Kompromiß den Eckstein des Parlamentarismus – das allgemeine Wahlrecht selbst – in Frage gestellt. Auch dieses hatte vom bürgerlichen Standpunkt historischen Sinn nur als Waffe im Kampfe zwischen den zwei großen Fraktionen der besitzenden Klassen. Es war nötig für die Bourgeoisie, um „das Volk“ gegen den Feudalismus ins Feld zu führen. Es war nötig für den Feudalismus, um das flache Land gegen die Industriestadt mobil zu machen. Nachdem der Konflikt selbst in ein Kompromiß ausgelaufen und aus den beiden Polen [3], aus Stadt und Land, statt liberaler und agrarischer Truppen etwas Drittes – die Sozialdemokratie – hervorgegangen ist, wurde das allgemeine Wahlrecht vom Standpunkt der bürgerlich-feudalen Herrschaftsinteressen zu einem Nonsens.

So hat der bürgerliche Parlamentarismus den Zyklus seiner geschichtlichen Entwicklung durchlaufen und ist bei der Selbstnegation angelangt. Aber als Ursache und Folge zugleich dieser Schicksale des Bürgertums hat die Sozialdemokratie im Lande und im Parlament Posto genommen. Hat der Parlamentarismus für die kapitalistische Gesellschaft jeden Inhalt verloren, so ist er für die aufstrebende Arbeiterklasse eines der mächtigsten und unentbehrlichen Mittel des Klassenkampfes geworden. Den bürgerlichen Parlamentarismus vor der Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie zu retten, ist eine der dringenden politischen Aufgaben der Sozialdemokratie.

Die so formulierte Aufgabe erscheint in sich selbst wie ein Widerspruch. Allein, sagt Hegel, der Widerspruch ist das Fortleitende. Aus der widerspruchsvollen Aufgabe der Sozialdemokratie gegenüber dem bürgerlichen Parlamentarismus ergibt sich für sie die Pflicht, diese verfallende Ruine der bürgerlich-demokratischen Herrlichkeit in einer solchen Weise zu schützen und zu unterstützen, die zugleich den schließlichen Untergang der gesamten bürgerlichen Ordnung und die Machtergreifung des sozialistischen Proletariats beschleunigt.

II

Es herrscht in unseren Reihen vielfach die Auffassung, eine unumwundene Darlegung des inneren Verfalls des bürgerlichen Parlamentarismus und eine offene scharfe Kritik dieses letzteren sei ein politisch gefährliches Beginnen, da man dadurch das Volk über den Wert des Parlamentarismus enttäuschen und der Reaktion in ihrer Minierarbeit wider das allgemeine Wahlrecht das Spiel erleichtere.

Für denjenigen, der mit der Gedankenwelt der Sozialdemokratie innerlich verwandt und verwachsen ist, liegt die Schiefheit solcher Rücksichten von vornherein auf der Hand. Nie können wirkliche Interessen der Sozialdemokratie, wie der Demokratie überhaupt, durch das Verschleiern tatsächlicher Zusammenhänge vor der großen Volksmasse besorgt werden. Diplomatische Schlaumeiereien können wohl hie und da als Mittel für kleine parlamentarische Schachzüge bürgerlicher Cliquen taugen. Die große weltgeschichtliche Bewegung der Sozialdemokratie kennt nur die rücksichtsloseste Offenheit und Aufrichtigkeit gegen die Arbeitermasse. Besteht doch ihr eigentliches Wesen, ihr historischer Beruf gerade darin, dem Proletariat das klare Bewußtsein über die sozialen und politischen Triebfedern der bürgerlichen Entwicklung im ganzen wie in allen Einzelheiten beizubringen.

Speziell in bezug auf den Parlamentarismus ist die möglichst klare Erkenntnis der wirklichen Ursachen seines Verfalles, wie sie sich aus der bürgerlichen Entwicklung mit eiserner Logik ergeben, durchaus notwendig, um die klassenbewußte Arbeiterschaft vor jener verderblichen Illusion zu warnen, als könne man durch eine Milderung und Abstumpfung des sozialdemokratischen Klassenkampfes der bürgerlichen Demokratie und Opposition im Parlament künstlich zu neuem Leben verhelfen.

Die äußersten Konsequenzen in der Anwendung dieser Methode, den Parlamentarismus zu retten, erleben wir gegenwärtig in der ministerialistischen Taktik Jaurès’ in Frankreich. Sie beruht auf einem zweifachen Kunstgriff. Einerseits darauf, in den Arbeiterkreisen übertriebenste Hoffnungen und Illusionen in bezug auf die positiven Errungenschaften zu verbreiten, die sie vom Parlament überhaupt erwarten dürfen. Das bürgerliche Parlament wird nicht bloß als das berufene Werkzeug des sozialen Fortschritts und der Gerechtigkeit, der Hebung der Arbeiterklasse, des Weltfriedens und dergleichen Wunderdinge gepriesen; es wird sogar als das berufene Mittel zur Verwirklichung auch der Endziele des Sozialismus hingestellt. So werden alle Erwartungen, alles Streben, alle Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse auf das Parlament konzentriert.

Andrerseits wird im Parlament selbst das Verhalten der ministeriellen Sozialisten ausschließlich darauf gerichtet, den traurigen, innerlich toten Rest bürgerlicher Demokratie zur Herrschaft zu bringen und am Leben zu erhalten. Zu diesem Behufe wird der Klassengegensatz der proletarischen Politik zur bürgerlich-demokratischen Politik ganz verleugnet, die sozialistische Opposition aufgegeben, und schließlich treten die Jauresistischen Sozialisten in ihrer parlamentarischen Taktik selbst als rein bürgerliche Demokraten auf. Von den echten unterscheiden sich diese verkleideten Demokraten nur noch durch das sozialistische Schild und – durch eine größere Mäßigung.

Mehr an Selbstverleugnung, an Aufopferung des Sozialismus auf dem Altar des bürgerlichen Parlamentarismus kann wohl nicht mehr getan werden. Und die Ergebnisse?

Die verhängnisvolle Wirkung der Jauresististen Taktik auf die Klassenbewegung des französischen Proletariats: Die Auflösung der Arbeiterorganisationen, die Verwirrung der Begriffe, die Demoralisierung der sozialistischen Abgeordneten, ist allgemein bekannt. Aber nicht darauf kommt es uns hier an, sondern auf die Folgen der bezeichneten Taktik für den Parlamentarismus selbst. Und diese sind äußerst fatal. Die bürgerlichen Demokraten, die Republikaner, die „Radikalen“, sind nicht bloß nicht in ihrer Politik gestärkt und verjüngt worden, sondern sie haben im Gegenteil jede Achtung und jede Furcht vor dem Sozialismus verloren, der ihnen noch halbwegs früher den Rücken stärkte. Noch viel gefährlicher ist aber ein anderes Symptom, das in den letzten Tagen in die Erscheinung getreten ist, und das ist die zunehmende Enttäuschung der französischen Arbeiter selbst in bezug auf den Parlamentarismus. Die im Proletariat durch die Jauresistische Phrasenpolitik genährten übertriebenen Illusionen mußten naturgemäß zu einem heftigen Rückschlag führen, und sie haben auch tatsächlich dazu geführt, daß heute ein guter Teil der französischen Arbeiter nicht bloß vom Jauresismus, sondern vom Parlament, von der Politik überhaupt nichts mehr wissen will.

Soeben hat das sonst so gescheite und nützliche Organ der jungen französischen Marxisten, der Mouvement Socialiste, mit einer Reihe von Artikeln überrascht, in denen es eine Abkehr vom Parlamentarismus zur reinen Gewerkschafterei predigt, und in dem rein wirtschaflclichen Kampfe der Arbeiter den „wahren Revolutionismus“ erblickt. Gleichzeitig bringt ein anderes sozialistisches Blatt in der Provinz, der Travailleur de l’Yonne, eine noch originellere Idee zum Vorschlag, indem es darlegt, daß die parlamentarische Aktion für das Proletariat gänzlich unfruchtbar und uns korrumpierend sei, weshalb es auch besser wäre, von nun an auf die Wahl sozialistischer Abgeordneter überhaupt zu verzichten und nur etwa bürgerliche Radikale ins Parlament zu schicken.

Dies also die schönen Früchte der Jauresistischen Rettungsaktion am Parlamentarismus: ein zunehmender Ekel im Volke vor jeder parlamentarischen Aktion, eine Abkehr zum Anarchismus, mit einem Worte: die größte wirkliche Gefahr für den Bestand des Parlaments und auch der Republik überhaupt.

In Deutschland sind solche Abirrungen der sozialistischen Praxis vom Boden des Klassenkampfes freilich unter den gegebenen Bedingungen undenkbar. Aber die äußersten Konsequenzen, bis zu denen sich diese Taktik in Frankreich entwickelt hat, dienen auch für die gesamte internationale Bewegung des Proletariats als deutliche Warnung, daß es seiner Aufgabe, den verfallenden bürgerlichen Parlamentarismus zu schützen, nicht auf diesem Wege folgen dürfe. Der wirkliche Weg führt vielmehr nicht durch Vertuschung und Preisgabe des proletarischen Klassenkampfes, sondern gerade umgekehrt durch die schärfste Betonung und Entfaltung dieses Kampfes, und zwar im Parlament wie außerhalb desselben. Dazu gehört sowohl die Kräftigung der außerparlamentarischen Aktion des Proletariats, wie eine bestimmte Gestaltung der parlamentarischen Aktion unserer Abgeordneten.

In direktem Gegensatz zu der irrigen Annahme der Jauresistischen Taktik sind die Grundlagen des Parlamentarismus um so besser und sicherer geschützt, je mehr unsere Taktik nicht auf das Parlament allein, sondern auch auf die direkte Aktion der proletarischen Masse zugeschnitten ist. Die Gefahr für das allgemeine Wahlrecht wird in dem Maße geringer, wie wir den herrschenden Klassen deutlich zum Bewußtsein bringen, daß die eigentliche Macht der Sozialdemokratie durchaus nicht auf der Wirkung ihrer Abgeordneten im Reichstag beruht, sondern daß sie draußen, im Volke selbst, „auf der Straße“ liegt, und daß die Sozialdemokratie nötigenfalls imstande und willens ist, das Volk zum Schutze seiner politischen Rechte auch direkt mobil zu machen. Wir meinen damit nicht, daß es zum Beispiel genügt, den Generalstreik sozusagen wie ein automatisches Mittel in der Tasche parat zu halten, um sich für alle Eventualitäten der Politik gerüstet zu glauben. Der politische Generalstreik ist gewiß eine der wichtigeren Äußerungen der Massenaktion des Proletariats, und es ist durchaus notwendig, daß die deutsche Arbeiterklasse sich gewöhnt, auch dieses bis jetzt nur in romanischen Ländern erprobte Mittel ohne jeden Dünkel und ohne vorgefaßten Doktrinarismus als eine der Kampfformen zu betrachten, die eventuell auch in Deutschland versucht werden könnten. Noch wichtiger ist aber die allgemeine Gestaltung unserer Agitation, unserer Presse in dem Sinne, daß die Arbeitermasse immer mehr auf die eigene Macht, auf die eigene Aktion hingewiesen wird und nicht die parlamentarischen Kämpfe als die Zentralachse des politischen Lebens betrachtet.

Damit im engsten Zusammenhang steht unsere Taktik im Reichstag selbst. Was unseren Abgeordneten jedesmal ihre glänzende Kampagne und ihre hervorragende Rolle so sehr erleichtert, ist ja – darüber muß man sich ganz klar werden – der Mangel im deutschen Reichstag an jeglicher bürgerlichen Demokratie und Opposition, die dieses Namens wert wäre. Gegenüber der reaktionären Majorität hat die Sozialdemokratie leichtes Spiel, als die einzige konsequente und zuverlässige Vertreterin der Interessen des Volkswohlstandes und des Fortschrittes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens.

Allein aus derselben eigenartigen Situation ergibt sich für die sozialdemokratische Fraktion die schwierige Aufgabe, nicht bloß als Vertreterin einer oppositionellen Partei, sondern auch als Vertreterin einer revolutionären Klasse aufzutreten. Mit anderen Worten: es ergibt sich die Aufgabe, nicht bloß die Politik der herrschenden Klassen vom Standpunkte der Gegenwartsinteressen des Volkes, das heißt vom Standpunkte der bestehenden Gesellschaft selbst zu kritisieren, sondern ihr auch auf Schritt und Tritt das sozialistische Gesellschaftsideal, das über die fortschrittlichste bürgerliche Politik hinausgeht, entgegenzuhalten. Und wenn das Volk bei jeder Debatte im Reichstag sich zweifellos überzeugen kann, um wieviel gescheiter, fortschrittlicher, wirtschaftlich vorteilhafter sich die Zustände im Gegenwartsstaat gestalten würden, wenn jedesmal die Wünsche und Anträge der Sozialdemokratie erfüllt wären, so soll es sich noch viel häufiger wie bis jetzt aus den Reichstagsdebatten überzeugen, wie nötig es sei, diese gesamte Ordnung umzustürzen, um den Sozialismus zu verwirklichen.

In der neuesten Nummer der Sozialistischen Monatshefte schreibt einer der Führer der italienischen Opportunisten, Bissolati [4], in einem Artikel über die italienischen Wahlen unter anderem diesen Satz: „Meiner Meinung nach ist es ein Beweis für die Rückständigkeit des politischen Lebens, wenn der Kampf der einzelnen Parteien sich noch um ihre Grundtendenzen dreht, statt um einzelne Fragen, die der Wirklichkeit des täglichen Lebens entspringen und jene Tendenzen zum Ausdruck kommen lassen.“ Es ist klar, daß dieses typische Räsonnement des Opportunismus die Wahrheit auf den Kopf stellt. Mit der Entwicklung und der Erstarkung der Sozialdemokratie wird es immer notwendiger, daß sie namentlich im Parlament nicht in den einzelnen Fragen des täglichen Lebens untertaucht und nur politisch Opposition treibt, sondern daß sie immer kräftiger ihre „Grundtendenz“ hervorkehrt: die Bestrebung zur politischen Machtergreifung durch das Proletariat zum Zwecke der sozialistischen Umwälzung.

Je mehr im Reichstag in schroffer Dissonanz mit dem trivial-nüchternen Ton und der platten Geschäftsmäßigkeit aller bürgerlichen Parteien die frische großzügige Agitation der Sozialdemokratie nicht bloß für ihr Minimalprogramm, sondern auch für ihre sozialistischen Endziele ertönt, um so mehr wird der Reichstag in der Achtung der großen Volksmasse steigen. Um so sicherer auch die Gewähr, daß sich die Volksmasse nicht ruhig diese Tribüne und das allgemeine Wahlrecht von der Reaktion wird entreißen lassen.

Anmerkungen

1. Anfang 1904 hatten sich die Hereros in Südwestafrika gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die deutschen Kolonialbehörden erhoben. Im Oktober 1904 schlossen sich die Hottentotten den Aufstand an. Erst Anfang 1907 gelang es den deutschen Kolonialtruppen, den Aufstand mit militärischer Übermacht brutal niederzuschlagen.

2. 1862 war Otto Fürst von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden mit dem Auftrag, die Heeresreform gegen den Widerstand der Bourgeoisie im preußischen Abgeordnetenhaus, die die Mittel dazu verweigert hatten, durchzusetzen. Mit dem Ausschalten des Parlaments löste er in Preußen eine politische Krise aus, die günstige Voraussetzungen für ein revolutionäre-demokratische Einigung Deutschlands schuf. die Bourgeoisie ließ aus Furcht vor dem Proletariat diese Möglichkeit ungenützt..

3. In der Quelle: Proben.

4. Leonida Bissolati, Das Ergebnis der italienischen Wahlen, in Sozialistische Monatshefte (Berlin), 1904, 2. Bd., 12. Heft, S. 955.


Zuletzt aktualisiert am 12.1.2012