Rosa Luxemburg


Eine maßlose Provokation

(November 1905)


Vorwärts, Nr. 272, 19. November 1905. [1*]
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 610–618.
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Wenn irgendein Beweis für die völlige Blindheit nötig war, mit der die verantwortlichen Leiter der neudeutschen inneren und äußeren Politik das Land in unabsehbare Verwicklungen stürzen, nun ist er erbracht. Die deutschen arbeitenden Klassen sind zwar seit jeher an die stärksten Proben einer skrupellosen, nackten Interessenherrschaft gewöhnt. Allein eine so brutale Provokation, wie sie in der neuen Flottenvorlage [2*] liegt, ist angesichts der allgemeinen Situation, des weltgeschichtlichen Moments, in der sie dem deutschen Volke präsentiert wird, sogar für den jetzigen Kurs etwas Außergewöhnliches. Wie mit einem grellen Scheinwerfer beleuchtet diese neue Zumutungan die Lammsgeduld der Arbeiterklasse nach allen Seiten hin den ganzen Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Politik, den ganzen Widersinn der heutigen sozialen Zustände.

Seit Wochen und Monaten herrscht in den weitesten Kreisen der proletarischen Bevölkerung Deutschlands direkter Nahrungsmangel. Ganze Schichten fleißiger und ehrlicher Arbeitsmänner und -frauen sind durch einen zynischen Streich der agrarischen Beutepolitik zur Ernährung mit Fleischabfällen und Pilzen, zu langsamem chronischem Verhungern verurteilt. Alle Klagen, alle grollenden Proteste der ausgepowerten Volksmasse werden mit kaltem Lächeln von den mit Ministerportefeuilles ausgestatteten Kommis der agrarischen Sippe abgewiesen.

Und in diesem Augenblick, wo die Not sich zu einer öffentlichen Kalamität gestaltet, wo hunderttausende Proletarier erbarmungs- und rettungslos dem furchtbarsten Elend preisgegeben werden wird gleichzeitig als die erste große Aktion der Regierung und der bürgerlichen Mehrheitsparteien im Reichstag nicht etwa eine Vorlage zur Ausgestaltung der elenden Sozialgesetzgebung, nicht ein Notstandsgesetz zur Rettung der Unzahl bedrohter proletarischer Existenzen, nicht die schleunige Öffnung der Grenze im Osten, sondern – eine Mehrforderung von einer halben Milliarde Mark für Panzerkreuzer, Torpedodivisionen und Vermehrung der Marinemannschaften angekündigt! Auf das stärkste Stück der junkerlichen Beutepolitik wird das stärkste Stück des industriellen Raubzugs aufgetrumpft, nachdem die Volksmasse von den Junkern weißgeblutet worden, wird sie zum „Ausgleich der Interessen“ nunmehr einer Handvoll Panzerplattenfabrikanten und dem sonstigen Häuflein direkter Interessenten unserer Flotten- und Weltpolitik als wehrloses Opfer vorgeworfen.

Doch nicht genug. Die neue ungeheure Vermehrung der Ausgaben für eine abenteuerliche Welt- und Kolonialpolitik wird dem deutschen Volke gerade in einem Augenblick zugemutet, wo neue grauenhafte Enthüllungen über die wilde Roheit der kapitalistischen Kolonialpolitik in den französischen wie in den belgischen Kolonien jede Unterstützung dieses barbarischen Treibens nicht nur zu einem wirtschaftlich und politisch verhängnisvollen, sondern auch zu einem verbrecherischen Unternehmen stempeln. Noch mehr: der neue Sturmlauf einer unverantwortlichen und kopflosen Flottenraserei wagt sich gerade in dem Moment hervor, wo ein kaum abgeschlossenes blutiges Drama der Weltpolitik im Fernen Osten auch dem Blödesten die Augen dafür öffnet, wie sehr die Sozialdemokratie mit ihren Warnungen vor den furchtbaren Gefahren des weltpolitischen Mahlstroms recht hatte. Jeder halbwegs zurechnungsfähige Politiker muß sich darüber klar sein, daß der Ausgang des Russisch-Japanischen Krieges nicht etwa ein Abschluß, sondern umgekehrt bloß der Beginn eines neuen Kapitels weltpolitischer Händel und Kämpfe im Osten ist, die, je weiter, je unübersehbarer, je gewaltiger werden. Sich in diesen todbringenden Strudel durch maß- und endlose Rüstungen stürzen, zugleich aber in der ohnehin gespannten internationalen Lage, nach dem jüngsten Marokkokonflikt [3*], durch provokatorische Flottenvermehrungen neue Konfliktmomente schaffen, das ist ein frevelhaftes Spiel mit dem Schicksal der Millionen, wie es davon sogar in Preußen-Deutschland nicht viel Beispiele gibt.

Allein das wichtigste Moment ist: der derbe Faustschlag der herrschenden kapitalistischen Interessenpolitik wird dem deutschen Proletariat gerade in dem Augenblick verabreicht, wo vom Osten die schönsten Blitze und das herrlichste Donnerwetter der russischen Revolution in die dumpfe Dunkelkammer der preußisch-deutschen Rückständigkeit herüberleuchten und alle schwarzen Winkel der baufälligen Baracke mit erschreckender Deutlichkeit aufzeigen. Die russische Revolution ist, wie jeder denkende Politiker, jeder ernste soziale Beobachter weiß, bloß der Prolog einer stürmischen Periode scharfer Klassenkämpfe in allen kapitalistischen Staaten, in denen eine langjährige skrupellose Klassenherrschaft von der Volksmasse zur Rechenschaft gezogen wird. Und eben jetzt beeilt sich die deutsche Regierung, mit Hilfe der bürgerlichen Parteien der Arbeiterklasse vorzudemonstrieren, daß sie nicht im Traume daran denkt, dem heraufziehenden internationalen Volksgewitter etwa durch eine demokratische, fortschrittliche Gestaltung der inneren politischen Zustände den Wind aus den Segeln zu nehmen, den Sturm hinauszuschieben, ihn milder zu gestalten. Im Gegenteil: mit neuen Rüstungen zu Lande und zu Wasser wird das arbeitende Volk Deutschlands just in dem Augenblicke traktiert, als die russische Revolution ihm wieder einmal die alte Wahrheit unter Blutströmen illustriert, daß Militarismus und Marinismus von der herrschenden Reaktion stets und überall vor allem nicht gegen den äußeren, sondern gegen den inneren Feind, nicht als Schutzwall des „Vaterlandes“, sondern als Bollwerk der Klassen- und dynastischen Herrschaft gebraucht werden.

Weiter: die neue Flottenvorlage ist nur eine „Ergänzung“ zu dem großen Flottengesetz vom Jahre 1900 [4*], mit dem Deutschland den ersten waghalsigen Sprung ins Verderben einer uferlosen abenteuerlichen Weltpolitik getan hat. Diese „Ergänzung“ ist aber, wie auch die früheren, nichts anderes als eine systematische Vernichtung, eine Illusorischmachung des verfassungsmäßigen Bewilligungsrechts der Volksvertretung. Der Reichstag beschließt in seiner bürgerlichen Majorität ein Flottengesetz, eine bestimmte finanzielle Aufwendung, damit nach einem, zwei Jahren die Regierung mit neuen „Ergänzungen“ zu dem Gesetz herausrückt, die wieder von der bürgerlichen Majorität unter dem Vorwand bewilligt werden, daß man durch den bereits begonnenen Bau der neuen Flotte vor ein fait accompli, vor eine fertige Tatsache, gestellt sei, so daß die „unvorhergesehene“ Erhöhung ihrer Kosten gewissermaßen dem Volke ohne weiteres wie eine Pistole auf die Brust gesetzt wird. Die Reichstagsdebatten, die Annahme und die Festlegung neuer Flotten- und Militärgesetze verwandeln sich dadurch in eine schale Farce, an der die „liberalen“ Vertreter des parlamentarischen Kretinismus Geschmack finden mögen, die aber der Arbeiterklasse nur Ekel und Abscheu einflößen kann. Und nun gerade angesichts der grandiosen ersten Probe auf eine revolutionäre Massenaktion des modernen Proletariats in Rußland findet die deutsche Regierung nichts Besseres zu tun, als den deutschen Parlamentarismus vor aller Welt wieder einmal zu verhöhnen, dem deutschen Proletariat mit einem Fingerzeig auf den Tempel der bürgerlichen „gesetzgebenden“ Geschwätzigkeit wieder einmal deutlich zuzurufen: Laß alle Hoffnung fahren! Wenn eine hochwohlweise Aktion extra dazu angetan war, in der Arbeiterklasse Deutschlands noch mehr das Augenmerk, die Sympathien, die Hoffnungen von der rein parlamentarischen Reformaktion auf die direkte Massenaktion zu wenden, dann ist es sicher die neue Flottenvorlage.

Und noch eins! In keinem Stück der heute geltenden Reaktionspolitik des Deutschen Reiches ist der enge Zusammenhang mit der Monarchie, mit dem persönlichen Regiment so stark und so klar zum Vorschein gebracht, wie gerade in der weltpolitichen Schwärmerei. Das deutsche Proletariat weiß zu gut, daß es „unsere herrliche Flotte“ demselben Kurs verdankt wie die unvergeßliche Zuchthausvorlage. [5*] Und es meldet sich dieses spezielle Schoßkind des persönlichen Regiments, der Zwillingsbruder des deutschen Militarismus: die Flottenpolitik, wiederum in einem Augenblick, wo von Rußland her das ganze brandende Stimmengewirr der Revolution immer mehr von dem mächtigen Donnerruf übertönt wird: Es lebe die Republik!

Die neue Flottenvorlage, „nehmt alles nur in allem“, ist ein schlagender Beweis, daß die herrschende Politik in Deutschland blindlings mit verhängten Zügeln drauflos stürmt, ohne die geringste warnende Ahnung von den großen und gewaltigen Dingen zu haben, die da ringsherum vor sich gehen. Denn mit der einen Warnung hätte schließlich die russische Revolution den leitenden Politikern und Parteien Deutschlands doch dienen sollen: sie hat gerade in den letzten Tagen gezeigt, daß in jenen großen historischen Momenten, wo das Maß voll wird und nach Hegelschem Ausdruck „die Quantität in die Qualität übergeht“, auch der innere, zwiespältige Charakter des Militärs umschlägt, der Soldat und Matrose aus einem gedrillten Werkzeuge der Reaktion zum – freiheitsliebenden Bürger und zum treuen Sohn des Volkes wird. Hätten unsere Flottenschwärmer für die gewaltigen Lehren der Zeitgeschichte noch ein offenes Ohr, sie müßten das Wort des wankenden „Admirals des Stillen Ozeans“ [6*] und seiner untergehenden Kamarilla hören, die der ganzen internationalen Reaktion warnend raunen: Morituri te salutant – Dem Tode Geweihte entbieten euch ihren Gruß!

Anmerkungen

1*. dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten Gesammelten Werke Rosa Luxemburgs aufgenommen.

2*. Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September in jena beschlossene resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

3*. Im Januar 1904 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Rußland um die Vorherrschaft im Fernen Osten begonnen. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

4*. Am 31. März 1905 war Wilhelm II. in Tanger gelandet und hatte für den deutschen Imperialismus Konzessionen zur Ausbeutung der Bodenschätze Marokkos gefordert. Dadurch sollte verhindert werden, daß der französische Imperialismus, der diese Rechte für sich beanspruchte, seine Position in Marokko verstärkte. Diese Provokation beschwor eine Krise in den internationalen Beziehungen herauf, die 1906 mit der Niederlage des deutschen Imperialismus endete.

5*. am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juli 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte bei der Verwirklichung der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus.

6*. Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. Novwember 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, das der Vorwärts am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juli 2019