Rosa Luxemburg

 

Marokko

(August 1911)


Die Gleichheit (Stuttgart), 21. Jg. 1911, Nr. 23, S. 353/354.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 21–25.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Eine imperialistische Gewitterwolke ist in der kapitalistischen Welt aufgezogen. Vier Großmächte Europas – Frankreich Deutschland, England und Spanien – sind unmittelbar in einen Handel verwickelt, in dem es zunächst um die Schicksale Marokkos [1], in weiterer Folge um mehrere große Gebiete des „schwarzen Erdteils“ geht, die als „Kompensationen“ hin und her erwogen werden. Jeder Tag bringt neue Drahtmeldungen über den Stand des Handels, und mit ihnen gehen die Hoffnungen und die Befürchtungen in jähen Sprüngen auf und ab. Wird aus der neuen Gewitterwolke der Blitz eines mörderischen Krieges auf zwei Weltteile herniederzucken, oder wird sich das drohende Ungewitter verziehen, so dass das Ende „bloß“ der „friedliche“ Schacher ist, der einige Fetzen der Welt aus einer gepanzerten Faust des europäischen Militarismus in eine andere überträgt? Das ist die Frage, die jetzt Millionen Menschen bewegt. Und um eine Antwort auf diese Frage zu finden, richten sich alle Blicke mit banger Erwartung auf die verschlossene Tür eines Zimmers, in dem zwei „Staatsmänner“ miteinander konferieren: der französische Botschafter Cambon und der deutsche Staatssekretär Kiderlen-Wächter. [2] In der ganzen weiten Welt gibt es keinen Menschen, für den es ein Geheimnis wäre, dass den beiden „Staatsmännern“ auch der beste Freund keine besonderen geistigen Zauberkräfte nachrühmen könnte, ja, dass sie einfach armselige Hampelmänner sind, deren pappene Ärmchen und Köpfchen durch einen Bindfaden automatisch bewegt werden, dessen Enden hier wie dort die Hände einiger großkapitalistischer Cliquen halten. Krieg oder Frieden, Marokko für Kongo oder Togo für Tahiti, das sind Fragen, bei denen Leben oder Tod für Tausende, das Wohl und Wehe ganzer Völker auf dem Spiele steht. Um diese Frage lässt ein Dutzend raffgieriger Industrieritter seine politischen Kommis feilschen und erwägen, wie in der Markthalle um Hammelfleisch und Zwiebeln gefeilscht wird, und die Kulturvölker warten in banger Unruhe wie zur Schlachtbank geführte Hammelherden auf die Entscheidung. Es ist dies ein Bild von so empörender Brutalität und plumper Niedertracht, dass es mit tiefem Grimm jeden erfüllen müsste, der nicht an dem Schacher direkt interessiert ist. Doch die moralische Entrüstung ist nicht der Maßstab und die Waffe, mit denen man Erscheinungen von der Art der kapitalistischen Weltpolitik beikommen kann. Für das klassenbewusste Proletariat handelt es sich vor allem darum, den Marokkohandel in seiner symptomatischen Bedeutung zu begreifen, ihn in seinen umfassenden Zusammenhängen und Konsequenzen zu würdigen. An Lehren aber für die politische Aufklärung des Proletariats ist das neueste weltpolitische Abenteuer reich.

Die Marokkokrise ist vor allem eine unbarmherzige Satire auf die vor wenigen Monaten von den kapitalistischen Staaten und ihrem Bürgertum aufgeführte Abrüstungsfarce. [3] In England und in Frankreich sprachen Staatsmänner und Parlamente in volltönenden Phrasen erst im Januar von der Notwendigkeit, die Ausgaben für Mordwerkzeuge einzuschränken, den barbarischen Krieg durch die zivilisierteren Formen des schiedsgerichtlichen Verfahrens zu ersetzen. In Deutschland stimmte der freisinnige Chor enthusiastisch in die Klänge dieser Friedensschalmeien ein. Heute erhitzen sich dieselben Staatsmänner und dieselben Parlamente für ein kolonialpolitisches Abenteuer, das die Völker dicht an den Rand des Abgrundes eines Weltkrieges bringt, und der freisinnige Chor in Deutschland begeistert sich ebenso für dieses kriegsschwangere Abenteuer wie früher für die Friedensdeklamationen. Dieser plötzliche Szenenwechsel zeigt wieder einmal, dass Abrüstungsvorschläge und Friedenskundgebungen der kapitalistischen Welt nichts anderes sind und sein können als gemalte Kulissen, die zuweilen in den Kram der politischen Komödie passen mögen, die aber zynisch auf die Seite geschoben werden, wenn das Geschäft ernst wird. Von dieser kapitalistischen Gesellschaft irgendwelche Friedenstendenzen erhoffen und im Ernst auf sie bauen wäre für das Proletariat die törichteste Selbsttäuschung, der es anheimfallen könnte.

Ferner kommt bei der Marokkofrage wieder deutlich der innige Zusammenhang der Weltpolitik mit den inneren politischen Zuständen der Staaten zum Ausdruck. Das Marokkoabenteuer, das Deutschland um ein Haar in einen blutigen Krieg stürzen kann und dessen Schlussergebnis auf jeden Fall die auswärtige Lage und den Kolonialbesitz Deutschlands stark verändern wird, fällt, genau wie vor elf Jahren der Chinafeldzug [4] und später die Algecirasaffäre [5], in die Zeit der parlamentarischen Ferien. Die oberste gewählte Vertretung des deutschen Volkes, der Reichstag, ist ganz ausgeschaltet von den wichtigsten und folgenschwersten Ereignissen und Entscheidungen.

Das persönliche Regiment allein mit seinen Handlangern – selbst bloß ein unverantwortliches Werkzeug in den Händen unverantwortlicher Cliquen – schaltet und waltet mit den Schicksalen von 64 Millionen Deutschen, wie wenn Deutschland eine orientalische Despotie wäre. Die Kaiserreden von Königsberg und Marienburg [6] sind Fleisch geworden: Das Instrument des Himmels spielt in seiner eigenen Selbstherrlichkeit oder wird vielmehr hinter dem Rücken des Volkes von ein paar beutehungrigen kapitalistischen Cliquen gespielt. Der Monarchismus und seine Hauptstütze, das kriegshetzende konservative Junkertum, sind vornehmste Schuldige bei dem Marokkoabenteuer.

Nicht minder kommt aber in dem dreisten Eingreifen der deutschen Diplomatie in den marokkanischen Handel die treibende Kraft der wahnwitzigen militaristischen und marinistischen Rüstungen zum Durchbruch. Es ist nichts anderes als das brutale Pochen auf die seit Jahrzehnten angehäuften Kanonen und Panzerschiffe, die angeblich als Schutzwehr des Friedens notwendig waren, was jetzt die Lenker der deutschen auswärtigen Politik so wagemutig und kriegslustig macht. Diesen „Panthersprung“ der Weltpolitik, der in seiner weiteren Folge für das deutsche Volk vielleicht von den allerverhängnisvollsten Konsequenzen sein wird, verdanken wir vor allem jenen bürgerlichen Parteien, die durch ihre Unterstützung der unaufhörlichen Rüstungen den deutschen Imperialismus direkt großgepäppelt haben. Allen voran marschiert, mit diesem blutigen Mal an der Stirne die scheinheilige Zentrumspartei, die 1900 die denkwürdige Verdoppelung der deutschen Schlachtflotte benutzt hat, um sich als Regierungspartei in den Sattel zu schwingen. Nicht minder fällt aber die Verantwortlichkeit auf den jämmerlichen Liberalismus, dessen stufenweiser politischer Verfall seit einem Vierteljahrhundert unmittelbar an den einzelnen großen Militärvorlagen gemessen werden kann. Das gänzliche Versagen angesichts des vorwärtsstürmenden Militarismus, der die Demokratie, den Parlamentarismus, die soziale Reform mit Füßen tritt und zermalmt, ist das letzte klägliche Ende des bürgerlichen Liberalismus.

Doch gerade weil der jüngste weltpolitische Kurs mitsamt seinem gegenwärtigen Abenteuer nur ein logischer Ausfluss der inneren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft ist, so hat er, wie diese ganze Entwicklung selbst, eine revolutionäre Kehrseite, die über den unmittelbaren Jammer und das Verächtliche seines momentanen Treibens hinausführt. Der historische Sinn des Marokkokonflikts, auf seinen einfachsten und gröbsten Ausdruck zurückgeführt, ist der Konkurrenzkampf darum, welcher von den Vertretern des europäischen Kapitalismus sich zuerst auf die nordwestliche Ecke des afrikanischen Kontinents stürzen darf, um sie kapitalistisch zu verschlingen – was der Sinn jedes Bruchstücks der weltpolitischen Entwicklung ist. Doch die Nemesis des Kapitalismus will, dass je mehr er von der Welt schluckt, um sein Leben zu fristen, um so mehr untergräbt er seine Lebenswurzel selbst. In demselben Augenblick, wo er sich anschickt, in die primitiven Verhältnisse der weltabgeschiedenen Hirtenstämme und Fischerdörfer Marokkos kapitalistische „Ordnung“ einzuführen, kracht bereits die von ihm geschaffene Ordnung an allen Ecken und Enden anderer Weltteile, und die Flammen der Revolution zucken lichterloh auf in der Türkei, in Persien, in Mexiko, in Haiti, sie lecken still am Staatsgebäude in Portugal, in Spanien, in Russland. Überall Anarchie, überall rebellieren die Lebensinteressen der Völker, die Mächte des Fortschritts und der Entwicklung gegen das loddrige Pfuschwerk der kapitalistischen Ordnung. Und so wird auch der jüngste Feldzug des Kapitals zu neuen Eroberungen nur ein Zug in jenes Feld sein, in dem das Kapital selbst vom Tode ereilt wird. Das Marokkoabenteuer wird, wie jeder weltpolitische Vorstoß, letzten Endes nur ein Schritt zur Beschleunigung des kapitalistischen Zusammenbruchs sein.

Das klassenbewusste Proletariat ist nicht berufen, in diesem Prozess der Schlussentwicklung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bloß den passiven Beobachter zu spielen. Das bewusste Erfassen des inneren Sinnes der Weltpolitik und ihrer Konsequenzen ist bei der Arbeiterklasse nicht abstraktes Philosophieren, sondern die geistige Grundlage einer tatkräftigen Politik. Und die moralische Entrüstung der Massen ist zwar an sich keine Waffe gegen die verbrecherische Wirtschaft des Kapitalismus, sie ist aber, wie Friedrich Engels sagt, ein wichtiges Symptom, dass die herrschende Gesellschaft mit den Rechtsempfindungen und den Interessen der Volksmassen bereits in Widerspruch geraten ist. Diesen Widerspruch so deutlich wie möglich zum Ausdruck zu bringen ist jetzt Pflicht und Aufgabe der Sozialdemokratie. Nicht bloß die organisierte Vorhut des Proletariats, sondern die breitesten Schichten des arbeitenden Volkes müssen zu einem Proteststurm gegen den neuen Vorstoß der kapitalistischen Weltpolitik aufgepeitscht werden. Das einzige wirksame Mittel, um die Verbrechen des Krieges und der Kolonialpolitik zu bekämpfen, ist die geistige Reife und der entschlossene Wille der Arbeiterklasse, einen durch ruchlose Kapitalsinteressen angezettelten Weltkrieg in eine Rebellion der Ausgebeuteten und Beherrschten zur Verwirklichung des Weltfriedens und der sozialistischen Völkerverbrüderung zu verwandeln.

Fußnoten

1. Im Frühjahr 1911 hatte der französische Imperialismus den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahmen die deutschen Imperialisten zum Anlass für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen (siehe Fußnote 5) gebunden. Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe Panther und Berlin nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiss geschlossen.

2. Während der Marokkokrise verhandelten der französische Botschafter in Deutschland Jules Cambon und der Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz. Diese Verhandlungen führten am 4. November 1911 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip der „offenen Tür“ für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt.

3. Im Februar 1911 hatte die Deputiertenkammer die französische Regierung in einem Antrag aufgefordert sich im Einvernehmen mit den verbündeten Mächten darum zu bemühen, daß die Frage der Rüstungseinschränkung auf die Tagesordnung der nächsten Friedenskonferenz gesetzt werde. Im englischen Unterhaus waren der Außenminister und der Kriegsminister demagogisch für eine Verständigung mit Deutschland und für eine Rüstungseinschränkung eingetreten, während gleichzeitig der Marineetat erhöht wurde.

4. Im Jahre 1900 hatten die deutschen Imperialisten die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlass genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.

5. Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet worden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluss Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine imperialistische Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.

6. Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg das angebliche Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung betont, die nicht von Parlamenten oder Volksbeschlüssen abhängig sei, und seinen Willen zur Stärkung des persönlichen Regiments bekundet. Dieses provokatorische Auftreten hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung hervorgerufen, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur angesehen wurde.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012