Rosa Luxemburg


Nach dem Jenaer Parteitag

(Oktober 1913)


Geschrieben für die Leipziger Volkszeitung, die Anfang Oktober 1913 den Abdruck verweigerte.
Erstmals veröffentlicht 1927 in der Zeitschrift Die Internationale, 10. Jg., Heft 5, S. 148–153.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 343–353.
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I

Was die letzte Jenaer Tagung unserer Partei [1] von den früheren Parteitagen kennzeichnet, ist, daß im Mittelpunkt ihrer Meinungskämpfe nicht mehr theoretischer oder praktischer Revisionismus standen, sondern zwei neue Probleme, aus neuen Situationen geboren. Solange wir die meiste Zeit und Kraft eines Parteitages auf Auseinandersetzungen mit Bernsteinschen „Mißverständnissen“ über Verelendungstheorie Katastrophentheorie und Freßlegende oder mit süddeutschen Budgetbewilligern und Teilnehmern an monarchistischen Kundgebungen vergeuden mußten – und dies war das Kennzeichen so ziemlich aller Parteitage seit 1898 bis 1910 –, da lief das Resultat schließlich nur auf die Verteidigung des alten Besitzstandes der Partei. Gewiß waren auch jene Auseinandersetzungen kein Zufall, vielmehr ein Symptom des mächtigen Wachstums der Bewegung in die Breite, wodurch ein Teil der Parteigenossen zu Zweifeln an den alten revolutionären Grundsätzen verleitet wurde. Gewiß waren auch jene Debatten von hohem Nutzen und noch mehr von unbedingter Notwendigkeit gewesen, wollte die Partei ihren proletarischen Klassenkampfcharakter nicht preisgeben.

Allein gerade die periodische Notwendigkeit, den alten Besitzstand an theoretischer Klarheit und prinzipieller Festigkeit immer wieder verteidigen zu müssen und so scheinbar auf demselben Fleck zu bleiben, wirkte schließlich niederdrückend und ermüdend auf weite Kreise der Partei. Zumal mußte der theoretische Streit häufig der Masse unserer Genossen lediglich als leerer „Akademikerstreit“ als Haarspalterei erscheinen.

Anders auf dem diesjährigen Parteitag. Was an Streitfragen zur Debatte stand, waren zwei rein praktische Probleme, die jeden aufgeklärten Arbeiter, ob gewerkschaftlich oder politisch tätig, unmittelbar angehen und packen müssen, Probleme, die nicht in der Studierstube von einem irre gewordenen Theoretiker ausgeheckt oder durch irgendeinen Seitensprung unserer süddeutschen Parlamentarier zur Überraschung der Gesamtpartei plötzlich aufs Tapet gebracht worden waren. Es waren veränderte Allgemeine Bedingungen unseres Kampfes, die uns in Jena die Debatte über den Massenstreik wie diejenige über die Steuerfrage aufgenötigt haben.

In der Frage des Massenstreiks nahm der diesjährige Parteitag freilich nur einen Gegenstand auf, der bereits 1905 und 1906 zur Debatte und zur Entscheidung gestanden hatte. Scheinbar war das Problem durch die prinzipielle Anerkennung des Massenstreiks bereits gelöst, und da praktisch niemand eine sofortige Proklamierung des Massenstreiks in Deutschland ins Auge faßte, so mochte die Erörterung zwecklos erscheinen. So ist die Sache auch von den Vertretern des Parteivorstandes und seinen Theoretikern hingestellt worden. Ein zweckloser Streit um Worte, und sogar ein schädlicher Streit, der unsere gegenwärtige Ohnmacht dem Feinde verrät – so wurde die Debatte über den Massenstreik von den Wortführern der Mehrheit auf dem Parteitag gekennzeichnet. Und doch beweist nichts besser als diese Auffassung selbst, wie sehr der Jenaer Beschluß in Sachen des Massenstreiks 1905 [2] für unsere praktischen wie theoretischen „Instanzen“ ein toter Buchstabe geblieben ist, wie sehr eine neue Debatte notwendig war und notwendig bleibt, um diesen Buchstaben des Gesetzes allmählich in den lebendigen Blutkreislauf der Partei zu überführen.

Der Jenaer Beschluß vom Jahre 1905 war unter dem unmittelbaren Einfluß der russischen Revolution und ihres siegreichen Vordringens gefaßt worden. Er fiel in eine Periode großer Kämpfe, revolutionärer Stimmungen und eines allgemeinen Vorrückens der proletarischen Armee in Europa. Im Januar desselben Jahres wurde die deutsche Öffentlichkeit schon durch den Riesenkampf der Bergarbeiter im Ruhrrevier [3] aufs tiefste aufgewühlt. In Österreich schlug der Kampf um das Allgemeine, gleiche Wahlrecht, gleichfalls unter dem Einfluß der russischen Revolution, die höchsten Wellen. [4] Revolutionäre Entschlossenheit und Glaube an die eigene Macht der Arbeiterklasse, die als lebendige Stimmung damals die Arbeiterbewegung durchdrangen, standen Pate bei dem Jenaer Massenstreikbeschluß. Man braucht nur die große Rede Bebels auf dem Parteitag nachzulesen, um jetzt noch die stark vibrierende Note der Revolutionären Entschlossenheit, der größten revolutionären Tradition zu spüren, die die Erörterungen und die Resolution durchdrangen. „Da ist Rußland, da ist die Junischlacht, da ist die Kommune! Bei den Manen dieser Märtyrer solltet Ihr nicht einmal ein paar Wochen hungern, um Eure höchsten Menschenrechte zu verteidigen?“ [5] Dies war der Feuerschein höchsten Idealismus, in dem die erste Resolution über den Massenstreik gefaßt wurde.

Doch wäre es verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, jene Stimmung wäre auch später und auch nur damals schon von allen Kreisen der Arbeiterbewegung geteilt worden. Vergessen wir nicht, daß wenige Monate vor dem Jenaer Parteitag, im Mai desselben Jahres 1905, der Gewerkschaftskongreß zu Köln einen direkt entgegengesetzten Beschluß in Sachen des Massenstreiks gefaßt hatte; dort wurde er als unbrauchbare, ja schädliche Waffe verworfen und nicht bloß seine Propagierung, sondern schon seine Erörterung als gefährliches Spielen mit dem Feuer verboten! Sicher war dies Verbot nicht der breiten Masse der Gewerkschaftsgenossen aus dem Herzen gesprochen – sind sie doch mit der Masse der Parteigenossen identisch, die bald darauf dem Jenaer Beschluß und den Worten Bebels im ganzen Lande zujubelte. Aber der Kölner Gewerkschaftskongreß hatte deutlich gezeigt, wo die schweren Gegensätze für die Idee des Massenstreiks zu suchen sind: in dem bürokratischen Konservatismus der führenden Gewerkschaftskreise. Der Jenaer Parteibeschluß ist damals ausdrücklich gegen die Gewerkschaftsführer angenommen worden, die Rede Bebels war zum größten Teil eine ausgesprochene Polemik gegen die Argumentation des Kölner Gewerkschaftskongresses. Aber die dem Massenstreik feindliche Stellung der Gewerkschaftsführer war damit nicht verschwunden. Sie wagte sich angesichts der entschlossenen Stellung der Partei und der revolutionären Stimmung im Lande nicht an die Oberfläche. Daß sie aber als stille passive Resistenz nach wie vor geblieben ist, das hat mit aller wünschenswerten Klarheit das Korreferat des offiziellen Vertreters der Generalkommission, des Genossen Bauer, auf dem diesjährigen Parteitag gezeigt, das hat auch die Andeutung des Genossen Scheidemann gezeigt, aus der Vorstandsresolution über den Massenstreik sei der „Wille zur Tat“ ausgemerzt worden – offenbar durch die andere mitwirkende Instanz, dieselbe Generalkommission der Gewerkschaften. Dasselbe beweisen fortlaufend Äußerungen von Gewerkschaftsführern in den Parteiversammlungen, die sich mit der Berichterstattung vom Jenaer Parteitag befassen. Das typische Beispiel lieferte wohl die Mitgliederversammlung in Bochum, in der Leimpeters und andere Glückliche ihre Weisheit auf die alte Formel: Generalstreik gleich Generalunsinn reduziert und damit alles Nötige zum Problem geliefert zu haben glaubten.

Mit der prinzipiellen Anerkennung des Massenstreiks im Jahre 1905 war also so wenig die Frage aus der Welt geschafft worden, daß wir vielmehr heute vor demselben prinzipiellen Widerstand stehen wie vor acht Jahren. Und niemand hätte dies mehr empfinden sollen als unser Parteivorstand, der sich ja bei der gemeinsamen Herstellung der mißglückten Resolution mit den Gewerkschaftsführern aus nächster Nähe überzeugen mußte, wie sehr der Jenaer Beschluß für sie ein toter Buchstabe geblieben ist.

Doch auch in Parteikreisen war der Elan des Jahres 1905 in den nachfolgenden Jahren merklich verflogen. Die Niederlage der russischen Revolution hatte allenthalben für den oberflächlich Blickenden, der nur die sichtbaren Erfolge schätzt, eine tiefe Depression zur Folge. Die Niederlage der großen Bergarbeiterbewegung im Ruhrrevier wirkte gleichfalls entmutigend nach. Und dazu kam 1907 die erste Wahlniederlage seit Jahrzehnten, die unsere Partei erlitt. [6] Alle diese Zustände zusammen brachten eine Ebbe in der allgemeinen Zuversicht und Kampfstimmung, wie sie in dem lebendigen historischen Pulsschlag der Arbeiterbewegung von Zeit zu Zeit unvermeidlich ist.

Erst seit 1910, unter dem Drängen des imperialistischen Kurses, erwacht wieder allmählich die Kampflust und macht sich das Zurückgreifen auf schärfere Mittel bemerkbar. Die Auseinandersetzungen über das Ungenügende unserer Parteiaktion gegen die Vorstöße des Imperialismus gaben dem Parteitag 1911 sein besonderes Gepräge. [7]

Und es war im Grunde genommen nicht bloß und nicht in erster Linie der Ausfall der preußischen Landtagswahlen [8], sondern der Eindruck der ungeheuren Militärvorlage [9] und das Gefühl der allgemeinen Verschärfung der Situation, was in den letzten Monaten die Frage des Massenstreiks mit elementarer Kraft auf die Tagesordnung des Parteilebens setzte.

Jetzt wirkten objektive Momente dahin, um dem vor acht Jahren prinzipiell angenommenen Beschluß wieder lebendige Kraft und zunehmende Bedeutung zu verleihen. Jetzt waren Bedingungen gegeben, um das, was vor acht Jahren von 400 Vertrauensmännern der Partei beschlossen war, zum Gedanken und Beschluß der Millionenmasse allmählich zu machen.

Der diesjährige Parteitag war berufen, diese Verschiebung der Situation, diese Verschärfung der Gegensätze im Zeichen des Imperialismus zu signalisieren und den Massen zuzurufen: Befaßt euch mit den schärfsten Waffen, denn nur aus eurer inneren geistigen und politischen Reife können – wenn nötig – der Entschluß zur Tat und die Gewähr des Sieges geboren werden.

Aber hier zeigte sich eben der Wandel in unsern eigenen „Instanzen“. Statt wie Bebel und der Jenaer Parteitag 1905 ganz zielbewußt und unbekümmert um den Widerstand der Gewerkschaftsführer den Willen der Partei in wuchtiger Weise wieder zum Ausdruck zu bringen, erblickte der jetzige Parteivorstand seine Mission darin, sich dem Drucke der Gewerkschaftsinstanzen zu fügen, eine gemeinsame Resolution zustande zu bringen, der jeder Stachel der praktischen Entschlossenheit genommen war, und in der Debatte die ganze Front – nicht gegen die renitenten Gewerkschaftsführer, sondern gegen vorwärtsdrängende Parteigenossen zu richten. Genosse Scheidemann nahm in seinem Referat wie in seinem Schlußwort eine gerade entgegengesetzte Position ein als Bebel 1905. Während dieser gegen die Furcht vor der öffentlichen Erörterung des Massenstreiks und gegen die blutigen Schreckgespenster, die uns als Konsequenz des Massenstreiks vorgemalt wurden, mit schneidender Schärfe und mit bitterem Hohn vorging, bot Scheidemann seine ganze Beredsamkeit auf, um gegen die Erörterung des Massenstreiks zu politisieren und blutige Gespenster an die Wand zu malen!

Mit einem Wort: War das Vorgehen Bebels im Jahre 1905 ein Vorstoß der Partei, um die Gewerkschaften nach links zu drängen, so bestand die Strategie des Parteivorstandes in Jena 1913 darin, sich von den Gewerkschaftsinstanzen nach rechts drängen zu lassen und ihnen als Sturmbock gegen den linken Flügel der Partei zu dienen.

Wenn nun die Debatten des Parteitags erst dem Vertreter der Generalkommission die klipp und klare Absage an den Massenstreik entlockten, wenn sie infolgedessen den Parteivorstand zwangen, in der Schlußrede Scheidemanns endlich von diesem Standpunkt abzurücken und den Willen zur Tat wieder stärker zu betonen, so liegt in dieser Entschleierung der ganzen Situation vor den Blicken der Partei ein unschätzbarer Gewinn. Daß die Debatte über den Massenstreik trotz allem Widerstand auf dem Parteitag stattgefunden hat, daß sie dadurch wieder in alle Parteiversammlungen hineingetragen wird, daß die Massen sich mit der Frage beschäftigen, daß sie erfuhren, was sie von ihren Führern hüben wie drüben zu erwarten haben, daß sie klar einzusehen Gelegenheit hatten, wie sehr es nötig ist, durch eigenen Druck Feuer dahinter zu machen wenn die Kampfweise der Partei vorwärtskommen soll – das sind alles unbestrittene Errungenschaften der Minderheit, die hier gerade von ihrem Standpunkt gesiegt hat, obwohl ihre Resolution [10] von der Mehrheit abgelehnt worden ist.

II

Ebenso wie die Massenstreikfrage ist die Steuerfrage durch die jüngste imperialistische Entwicklung für die Partei aktuell geworden. Denn was ist in der „neuen Ära“ der Besitzsteuer in Deutschland zum Ausdruck gekommen? Doch nichts anderes als die Tatsache, daß der deutsche Militarismus in seinem Vorwärtsstürmen auch die krampfhaftesten Windungen der indirekten Steuerschraube überholt und die teilweise Heranziehung der Bourgeoisie zur Bestreitung seiner Kosten notwendig macht. Dadurch ist die in England längst verwirklichte Besteuerung des Besitzes als eine ganz neue Tatsache vor unsere Parlamentarier getreten und hat unter ihnen im ersten Moment eine ziemliche Verwirrung angerichtet. Daß der Parteitag diese Verwirrung seinerseits nicht beseitigt, vielmehr durch die Art der Behandlung der Frage wie durch die angenommene Resolution zum Gemeingut der Partei gemacht hatte, dürfte jetzt so ziemlich die Empfindung der meisten Genossen sein.

In der Tat ist kaum eine ernste theoretische und praktische Frage auf einem deutschen Parteitag in so überaus mangelhafter Weise behandelt worden wie die Steuerfrage. Seit vier Jahren steht die Frage auf der Tagesordnung. Es scheint, daß inzwischen Zeit genug vorhanden war, eine gründliche Behandlung der Materie vorzubereiten. Doch gerade hier versagte vor allem die dazu berufene wissenschaftliche Revue der Partei, die Neue Zeit, völlig. Statt einzuleiten, hat die Neue Zeit nicht einmal Abhandlungen darüber aus der Feder der Redakteure selbst gebracht, die doch schon auf dem Leipziger Parteitag [11] durch eine sehr prononcierte Stellungnahme – allerdings im entgegengesetzten Sinne als jetzt – in die Steuerdebatten eingegriffen hatten. Von dieser Seite im Stich gelassen, war die Partei zu ihrer Orientierung lediglich auf die Tagespresse angewiesen, mit all ihren Unzulänglichkeiten bei großen, komplizierten Problemen. In den Parteiversammlungen war die Steuerfrage so gut wie gar nicht diskutiert. Dazu kam, daß der eine der Referenten seine Leitsätze und seine Resolutionen knapp einen Monat vor dem Parteitag, der andere aber die seinigen gar nicht veröffentlicht hatte. So kam der Parteitag in die Lage, über eine neue, höchst wichtige, komplizierte Frage zu entscheiden und die Taktik der Partei für die nächste Zukunft festzulegen, ohne auch nur entfernt auf diese verantwortungsvolle Rolle sachlich vorbereitet zu sein. Und um das Verfahrene der Situation zu vollenden, war alles auf dem Parteitag danach angetan, um in diesem Meinungsstreit nur die eine Seite in ausgiebigstem Maße, die andere fast so gut wie gar nicht zu Worte kommen zu lassen.

Daß eine unter solchen beispiellosen Umständen getroffene Entscheidung alle Merkmale der „Vorläufigkeit“, der „Ramscharbeit“ an sich trägt, ergibt sich von selbst. Durch die Resolution Wurm ist die Steuerfrage für die Partei nicht entschieden, sondern erst angeschnitten. Und es gehört nunmehr eine ausgiebige und systematische Arbeit in der Presse dazu, um all das Schiefe und Krause im einzelnen zu beleuchten und zu entwirren, was von den Vertretern der Mehrheit, namentlich vom Genossen Wurm, auf dem Gebiete unserer Steuertaktik improvisiert worden ist, ohne daß auf dem Parteitag die Antwort gegeben werden konnte. Es gehört ferner jetzt eine systematische Behandlung der Steuerfrage in den Parteiversammlungen dazu, um die Masse der Genossen mit all den komplizierten ökonomischen und politischen Zusammenhängen des Problems vertraut zu machen, um ihnen all die fatalen und unabsehbaren Konsequenzen für unsere Taktik zum Bewußtsein zu bringen, zu denen die im „Ramsch“ angenommene Resolution Wurm führen muß.

Ist in der Massenstreikfrage durch die Annahme der Vorstandsresolution [12] eine Konzession an den konservativen Widerstand der Gewerkschaftsführer gemacht worden, so durch die Annahme der Wurmschen Resolution und die Gutheißung der Taktik der Fraktionsmehrheit eine noch viel bedeutsamere Konzession an den parlamentarischen Opportunismus, an die Südekum, David und Noske. Die zum Prinzip erhobene Losung vom „geringeren Übel“ – in dem Sinne, daß die Preisgabe der grundsätzlichen Ablehnung des Militarismus das „geringere Übel“ sei –, die grundsätzliche Zulassung von Bewilligungen für Militärzwecke, „wenn die Militärvorlage bereits beschlossene Sache ist“, all das öffnet Tür und Tor derselben revisionistischen Taktik, der die Partei in ihrer überwältigenden Mehrheit bisher Jahr für Jahr eine schroffe Niederlage bereitete. Die pfiffig ausgeklügelte Wurmsche Formel aber, daß die Bewilligung der Mittel für den Militarismus erlaubt sei, sobald sich die „Verhütung“ einer Volksbelastung durch ungünstigere Steuern „nur noch als ihr Verwendungszweck“ darstellen lasse, bildet eine Generalvollmacht für alle Budgetbewilligungen, da sich selbstverständlich kein Budget denken läßt, das nicht als die „Verhütung“ eines noch ungünstigeren hingestellt werden könnte.

Es genügt, sich diese Konsequenzen vor Augen zu halten, um einzusehen, daß die baldmögliche Revision der Jenaer Gelegenheitsarbeit in Steuersachen von einem der nächsten Parteitage eine dringende Aufgabe ist, der nunmehr eine systematische Vorbereitung in der Presse wie in Versammlungen gewidmet werden muß.

Und doch wäre es unseres Erachtens ein Irrtum, aus den Entscheidungen über den Massenstreik und die Steuerfrage etwa den Schluß zu ziehen, der Jenaer Parteitag habe plötzlich einen heftigen Ruck der Partei nach rechts und eine Zweidrittelmehrheit des revisionistischen Flügels aufgezeigt. Ein so rapides Anwachsen des rechten Flügels, der bis zum letzten Parteitag eine schwache Drittelmehrheit darstellte, wäre ein unbegreifliches Phänomen und ist auch gar nicht eingetreten. Bewußter Revisionismus ist in der Steuerfrage mindestens von der Hälfte der siegreichen Mehrheit ganz gewiß nicht betrieben worden; es war die mangelhafte Orientierung über die wahren Konsequenzen und den wahren Charakter der getroffenen Entscheidung, was für eine große Anzahl der Delegierten mitbestimmend war. In der Massenstreikfrage aber mußte der Parteivorstand sichtbar durch die kräftigere Betonung des Willens zur Tat im letzten Augenblick eine Mehrheit für seine Resolution zusammenwerben.

Demnach haben wir gar keinen Grund anzunehmen, daß das übliche revisionistische Drittel der Parteitage, wie es durch die bewußten und konsequenten Wortführer des Opportunismus vertreten wird, auf diesem Parteitag irgendwie angewachsen wäre. Wer diesmal zusammen mit diesem revisionistischen Drittel die Mehrheit gebildet hat, das war jene unentschlossene und schwankende Schicht der Mitte, die Bebel in Dresden, nach den bekannten Bezeichnungen des Konvents der Großen Französischen Revolution, den Sumpf genannt hat:

Es ist immer und ewig der alte Kampf, hier links, dort rechts, und dazwischen der Sumpf. Das sind die Elemente, die nie wissen, was sie wollen, oder, besser gesagt, die nie sagen, was sie wollen. Das sind die „Schlaumeier“, die immer erst horchen: Wie steht’s da, wie steht’s hier? die immer spüren, wo die Majorität ist, und dorthin gehen sie dann. Diese Sorte haben wir auch in unsrer Partei. Eine ganze Anzahl ist jetzt bei diesen Verhandlungen ans Licht des Tages gekommen. Man muß diese Parteigenossen denunzieren (Zuruf: „Denunzieren!?“), ja, ich sage ja, denunzieren, damit die Genossen wissen, was das für halbe Leute sind. Der Mann, der wenigstens offen seinen Standpunkt vertritt, bei dem weiß ich, woran ich bin, mit dem kann ich kämpfen, entweder er siegt oder ich, aber die faulen Elemente, die sich immer drücken und jeder klaren Entscheidung aus dem Wege gehen, die immer wieder sagen: Wir sind ja alle einig, sind ja alle Brüder, das sind die allerschlimmsten! Die bekämpfe ich am allermeisten. [13]

Die Rolle dieses „Sumpfes“ ist – trotz der Unentschiedenheit der Ansichten seiner einzelnen Mitglieder – in jeder politischen Körperschaft und auch in unserer Partei eine ganz bestimmte. Während der Ganzen letzten Periode der Kämpfe mit dem Revisionismus unterstützte der Sumpf den linken Flügel der Partei und bildete mit ihm die kompakte Mehrheit gegen den Revisionismus, brachte ihm gemeinsam mit der Linken eine eklatante Niederlage nach der anderen bei. Was ihn dazu bewog, war das scheinbar konservative Element, das es zu verteidigen galt. Es mußte doch „die alte bewährte Taktik“ gegen revisionistische Neuerungen geschützt werden. Und was diesem Abwehrkampf die Weihe in den Augen aller mittleren Elemente verleihen mußte: An der Spitze des Kampfes standen oberste Instanzen, anerkannte Autoritäten. Der Parteivorstand, das wissenschaftliche Zentralorgan der Partei, altbewährte Namen, wie Singer, Liebknecht, Bebel, Kautsky, fochten in den ersten Reihen. So war alle beruhigende Gewähr für die Elemente des Sumpfes gegeben, daß sich das Traditionelle und Hergebrachte auf dieser Seite befand.

Die imperialistische Periode, die verschärften Verhältnisse der letzten Jahre stellen uns aber vor neue Situationen und Aufgaben. Die Notwendigkeit, der Partei bei all ihrer massiven Breite eine größere Beweglichkeit, Schlagfertigkeit und Aggressivkraft zu verleihen, die Massen mobil die Fraktionsmehrheit ihre Siege in den entscheidenden Fragen auf dem zu machen und ihren unmittelbaren Druck in die Waagschale der Ereignisse zu werfen, all das erfordert mehr als das krampfhafte Festhalten an den äußeren Formen der „alten bewährten Taktik“. Nämlich es erfordert die Einsicht darein, daß eben diese alte bewährte revolutionäre Taktik nunmehr neue Formen der Massenaktionen erforderlich macht und daß sie auch in neuen Situationen, wie z.B. der Einführung der Besitzsteuer für den Militarismus in Deutschland, aufrechterhalten werden muß.

Hier versagt zunächst der „Sumpf“. Als konservatives Element wendet er sich jetzt genauso gegen die vorwärtsstrebende Linke, wie er sich bis jetzt gegen die rückwärtsstrebende Rechte wendete. Dadurch aber wird er aus einem Schutzwall der Partei gegen den Opportunismus zu einem gefährlichen Element der Stagnation, in deren lauen Gewässern gerade der bis jetzt niedergehaltene Opportunismus wieder üppig ins Kraut wachsen kann. Nicht bloß zeigt die Entscheidung in Steuersachen bei näherem Besehen, wie der siegreiche Sumpf hier unbewußt für sich demselben parlamentarischen Opportunismus einen Triumph [14] bereitet hat, den er auf einem Dutzend Parteitagen zu Paaren getrieben hatte. Die ganze Kampf- weise gegen die Linke, die ganze Argumentation mitsamt der systematischen Verzerrung der Ansichten der Gegenseite und den hartnäckigen „Mißverständnissen“ über angebliche Verachtung der Kleinarbeit, Unterschätzung des Parlamentarismus und der Genossenschaften, putschistische Neigungen und was der schönen Phantasien mehr sind – dieser ganze Apparat ist leibhaftig dem Waffenarsenal des revisionistischen Flügels entnommen. Im Kampfe gegen die Linke bedient sich jetzt der Sumpf wortwörtlich derselben Argumente, die ihm von der Rechten jahrelang entgegengeschleudert wurden.

Und was die Haltung des Sumpfes endgültig bestimmt: Die „Instanzen“ wenden sich gegen die Linke. Der Parteivorstand, der jahrelang unter Bebels Führung gegen die Rechte focht, akzeptiert jetzt die Unterstützung der Rechten, um den Konservatismus gegen die linke zu verteidigen. Endlich auch die wissenschaftliche Revue, die Neue Zeit, hat seit 1910 zusammen mit dem Parteivorstand diese Frontänderung gemacht. In den Kreisen ihrer Freunde ist in der letzten Zeit der beliebte Ausdruck vom „marxistischen Zentrum“ gebraucht worden. Genauer gesprochen besteht dieses angebliche „marxistische Zentrum“ in dem theoretischen Ausdruck für die gegenwärtige politische Funktion des Sumpfes. Auf den Sumpf gestützt und im Bündnis mit der Rechten, haben der Parteivorstand und die Fraktionsmehrheit ihre Siege in den entscheidenden Fragen auf dem Jenaer Parteitag erfochten. Und Kautsky, der über den Sieg der „alten bewährten Taktik“ in Jena triumphiert, hat vergessen, sich über den merkwürdigen Umstand zu besinnen, daß diesmal die Kämpen – die Südekum, David, Noske, Richard Fischer – auftraten, gegen die er, Kautsky, über ein Jahrzehnt jene Taktik verteidigen mußte.

Diese neue Konstellation ist kein Zufall, sie ergibt sich logisch aus den Verschiebungen in den äußeren und inneren Bedingungen unseres Parteilebens, und wir tun gut, das Andauern dieser Konstellation vielleicht für eine Reihe von Jahren in Aussicht zu nehmen, wenn nicht äußere Ereignisse den Gang der Entwicklung plötzlich beschleunigen. So unangenehm die Situation manchem Genossen vorkommen mag, zum Pessimismus und zur Verzagtheit liegt nicht der geringste Grund vor. Auch diese Periode muß, wie jede geschichtlich bedingte Situation, „durchgefressen“ werden. Im Gegenteil, je klarer wir in den Dingen sehen, um so energischer, zielbewußter und fröhlicher kann weitergekämpft werden. Die nächste Aufgabe, die sich aus dem Jenaer Parteitag ergibt, ist das systematische Vorgehen gegen den „Sumpf“, d.h. gegen den geistigen Konservatismus in der Partei. Auch hier ist das einzige wirksame Mittel: die Mobilmachung der breiten Masse der Genossen, die Aufrüttelung der Geister durch die Hineintragung der Diskussion über den Massenstreik wie über die Steuerfragen (über alle taktischen Differenzen) in die Parteiversammlungen, in die Gewerkschaftsversammlungen, in die Presse. Der Gang der Dinge selbst führt mit historischer Notwendigkeit dahin, den taktischen Bestrebungen der Linken mit jedem Tage mehr Recht zu geben, und wenn die Entwicklung selbst zum Niederkämpfen der Elemente der Stagnation in der Partei führt, dann kann die Minderheit des Jenaer Parteitages guten Mutes in die Zukunft blicken. Daß der Jenaer Parteitag die Klarheit über das gegenseitige Kräfteverhältnis in der Partei gebracht und die Linke zum erstenmal in geschlossener Reihe gegen den Block des Sumpfes mit der Rechten geführt hat, ist als ein erfreulicher Beginn der weiteren Entwicklung nur zu begrüßen.

Anmerkungen

1. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Jena fand vom 14. bis 20. September 1913 statt.

2. Der Jenaer Parteitag von 1905 beschloß, das allgemeine Reichstagswahlrecht und Koalitionsrecht notfalls mit Massenstreiks zu verteidigen, beschränkte allerdings die Anwendung des Massenstreiks auf diesen Zweck.

3. Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215.000 Bergarbeiter im Ruhrrevier für den Achtstundentag, für höhere Löhne und für Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Der Streik vereinigte Arbeiter aus allen Bergarbeiterverbänden sowie Unorganisierte. die von reformistischen und bürgerlichen Gewerkschaftsbürokraten beherrschte Streikleitung beschloß den Abbruch des Streiks und machte ihn dadurch ergebnislos.

4. Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum, ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 dem Parlament ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.

5. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 305.

6. Unter der Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 25. Januar 1907 durch eine Hetzkampagne der Reaktion gegen alle oppositionellen Kräfte, besonders gegen die Sozialdemokratie, und durch chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros in Südwestafrika gekennzeichnet. Obwohl die SPD die größte Stimmenzahl erreichte, erhielt auf Grund der veralteten Wahlkreise sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie nur 43 Sitze gegenüber 81 im Jahre 1903.

7. Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 10. bis 16. September 1911 in Jena stand die Abwartepolitik des Parteivorstandes im Zusammenhang mit der Marokkokrise im Mittelpunkt der Debatten.

Im Frühjahr 1911 hatte der französische Imperialismus den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahmen die deutschen Imperialisten zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe Panther und Berlin nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das eingreifen Großbritanniens zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

8. Die SPD bekam wegen dem reaktionären Dreiklassenwahlrecht bei den preußischen Landtagswahlen vom 3. Juni 1913 mit 775.171 Stimmen (28,38 %) nur 10 Sitze, die Deutschkonservative Partei z.B. dagegen mit nur 402.988 Stimmen (14,75 %) 147 Sitze.

9. Die Militärvorlage vom März 1913 brachte die größten Rüstungssteigerungen der deutschen Geschichte. Da ein Teil der Kosten durch Vermögenssteuern aufgebracht werden sollte, wollten Teile der SPD diesen Steuererhöhungen trotz ihres Zwecks zustimmen. Durch Anwendung der Fraktionsdisziplin unterdrückten diese Revisionisten den Widerstand von 37 Abgeordneten und die Fraktion stimmte für das neue Gesetz. Dadurch wurde das sozialdemokratische Grundsatz – „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ – aufgegeben.

10. Siehe Rosa Luxemburg, Antrag zur Resolution über den politischen Massenstreik, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 328–329.

11. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Leipzig fand vom 12. bis 18. September 1909 statt.

12. Siehe Rosa Luxemburg, Die Massenstreikresolution des Parteivorstands, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 323–324.

13. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 319.

14. In der Quelle: Trumpf.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012