Rosa Luxemburg


Liebknecht [1]

(September 1916)


Spartacus, Nr. 1 vom 20. September 1916.
Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 217-220.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 215-218.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Unglaubliche ist also Ereignis geworden: Die Regierung hat es gewagt, das Schandurteil gegen Liebknecht noch zu verschärfen und zum Zuchthaus auch noch die Aberkennung der Ehrenrechte, d. h. des Reichstags- und Landtagsmandats, hinzuzufügen! [2] Die Rache ist süß, namentlich wenn sie so bequem ist, wenn der Gegner an Händen und Füßen gefesselt und das Duell in die Komödie einer „Gerichtsverhandlung“ unter Ausschluss der Öffentlichkeit verkleidet ist. Denn es ist klar: Das furchtbare Urteil ist nicht die „Strafe“ allein für Liebknechts Beteiligung an der Maidemonstration, es ist Vergeltung für sein ganzes Auftreten im Reichs- und Landtag, wo er als einziger vor aller Welt der blutigen Farce des Burgfriedens die Maske vom Gesicht riss, Vergeltung auch für seine Haltung in der Arrestantenzelle und im Gerichtssaal, wo der Gefesselte seinen Schergen trotzte, sie moralisch züchtigte und zum revolutionären Glauben, zum internationalen Sozialismus fest und unerschütterlich stand wie eine Eiche.

Niemals hätten jedoch die Machthaber gewagt, ein solches Schandurteil zu fällen, wären sie nicht seit Ausbruch des Krieges gewöhnt, dass deutsche Sozialdemokraten kuschen. Weil sie die Sozialdemokratie seit zwei Jahren als Schutztruppe und Handlangerin der Regierung betrachten, fielen sie mit schäumender Wut über denjenigen her, der aufrecht blieb.

Denn was tat Liebknecht? Er tat nur, was die Resolutionen der internationalen Kongresse, was das Programm, die Parteitagsbeschlüsse, die Grundsätze, die Traditionen allen Sozialisten zur Pflicht machen. Im Geiste und im Sinne dieser Grundsätze, dieser Resolutionen handelte Liebknecht. Wenn das, was er tat, „Landesverrat“ ist, dann haben sich sämtliche deutsche Delegierte auf den Kongressen und Parteitagen, die für jene Resolution stimmten, die gesamte Partei, die sie nachträglich als für sich bindend anerkannte, der Vorbereitung, Anstiftung, Aufforderung zum Landesverrat strafbar gemacht. Und doch wagten die Staatsanwälte nicht im Traume daran zu denken, die Sozialdemokratie wegen ihrer Beschlüsse zu behelligen. Bis zum 4. August 1914 galt es für Freund und Feind als selbstverständlich, dass die Sozialdemokratie mit allen Kräften sich dem Kriege widersetzen, sich seiner Fortsetzung unerbittlich entgegenstemmen werde. Heute wird Liebknecht für die Erfüllung dieser selbstverständlichen Pflicht ins Zuchthaus gesteckt. Weshalb? Einzig und allein, weil die offizielle Sozialdemokratie den revolutionären Klassenkampf preisgegeben, weil sie sich aus einer Partei des internationalen proletarischen Klassenkampfes in eine Regierungspartei, in einen Fußschemel der imperialistischen Klassenherrschaft verwandelt hat.

Liebknechts Zuchthausurteil ist also ein Kainszeichen auf der Stirn der offiziellen deutschen Sozialdemokratie, ein Siegel ihres Verrates an den Pflichten des internationalen Sozialismus und den historischen Aufgaben des Proletariats.

Als Opfer des Bankrotts der Sozialdemokratie im Kriege verkörpert Liebknecht in seinem persönlichen Schicksale die Geschicke des deutschen Proletariats als Klasse und nimmt sie mit in seine Zuchthauszelle. Liebknechts „Landesverrat“ besteht darin, dass er um den Frieden kämpfte. Aber die ganzen weiteren Schicksale des deutschen und des internationalen Sozialismus hängen davon ab, ob das Proletariat verstehen wird, den Frieden zu erkämpfen und zu diktieren.

Der Sozialismus hat sich beim Ausbruch des Weltkrieges als Faktor der Geschichte ausgeschaltet. Der Krieg brachte deshalb eine ungeheure Stärkung der kapitalistischen Klassenherrschaft, der politischen und sozialen Reaktion und des Militarismus mit sich. Was nach dem Kriege sein wird, welche Zustände und welche Rolle die Arbeiterklasse erwarten, das hängt ganz davon ab, in welcher Weise der Friede zustande kommt. Erfolgt er bloß aus schließlicher allseitiger Erschöpfung der Militärmächte oder gar – was das Schlimmste wäre – durch den militärischen Sieg einer der kämpfenden Parteien, erfolgt er mit einem Wort ohne Zutun des Proletariats, bei völliger Ruhe im Innern des Staates, dann bedeutet ein solcher Friede nur die Besiegelung der weltgeschichtlichen Niederlage des Sozialismus im Kriege. Die radikalsten Parteitags- und Kongressresolutionen können nachträglich nicht ersetzen, was an Taten und Handlungen zur rechten Stunde gefehlt hat. Dann bleibt der Imperialismus auch nach dem Kriege unumschränkter Herr der Situation, und die Sozialdemokratie zählt im Frieden wie im Kriege als Machtfaktor des gesellschaftlicher Lebens nicht mehr mit.

Nach dem Bankrott des 4. August 1914 ist also jetzt die zweite entscheidende Probe für den historischen Beruf der Arbeiterklasse: ob sie verstehen wird, den Krieg, dessen Ausbruch sie nicht verhindert hat, zu beenden, den Frieden nicht aus den Händen der imperialistischen Bourgeoisie als Werk der Kabinettdiplomatie zu empfangen, sondern ihn derBourgeoisie aufzuzwingen, ihn zu erkämpfen.

Aber um Frieden kämpfen heißt nicht, im Reichstag Bethmann Hollweg zuzureden, dass er die Pflicht habe, in Friedensverhandlungen mit Grey einzutreten. Um Frieden kämpfen heißt nicht, untertänige Bittschriften an die Regierung unterzeichnen. Um Frieden kämpfen heißt auch nicht, in polizeilich genehmigten Versammlungen Beifall klatschen und für Friedensresolutionen Hände hochheben, um am anderen Tage ruhig weiter Munition für den Krieg mit eigenen Händen zu bereiten, das „Durchhalten“ zu ermöglichen und mit hungerndem Magen die Militärdiktatur geduldig zu ertragen.

Um Frieden kämpfen heißt alle Machtmittel der Arbeiterklasse rücksichtslos gebrauchen, um im Lande wie draußen im Felde die Fortführung des Völkermordes unmöglich zu machen, heißt wie Liebknecht vor keinen Opfer und keiner Gefahr zurückschrecken, um den Burgfrieden zu sprengen und der Säbeldiktatur in den Arm zu fallen.

Nur wenn ein solcher entschlossener Massenkampf dem Kriege ein Ende macht, kann der Frieden zu einem neuen mächtigen Aufschwung des Sozialismus und zur Wiedergeburt der Internationale als lebendiger Macht führen.

Und nur derselbe entschlossene Massenkampf um den Frieden kam Liebknecht aus seiner Zelle befreien.

Als das englische Volk im siebzehnten Jahrhundert zum Kampf um die politische Freiheit sich erhob, war sein erster Schritt, die Märtyrer der Freiheit zu befreien. Die finsteren Tore des Londoner Towers öffnetet sich, und das Volk führte mit Jubel seine Vorkämpfer durch die Straßen ihnen Rosmarin vor die Füße streuend.

In Paris, als die Sturmglocke der großen Revolution läutete, die den feudalen Mittelalter in Europa ein Ende machte, war die erste Geste der Volksmassen – der Sturm auf die Bastille. Pariser Frauen legten mit eigenen Händen die verhasste Zwingburg nieder, in der der französisch Absolutismus die Freiheitshelden verschmachten ließ.

Und auch in Russland, als die Volksmasse im Jahre 1905 ihren ersten Triumph über den zarischen Absolutismus und über den Krieg mit Japan [3] feierte, eilte sie sofort vor die Tore der Gefängnisse, und unter ihrem gebieterischen Ansturm spieen die Kerker ihre langjährigen Opfer aus.

Auch Liebknecht kann aus seinem Zuchthaus nur durch die Masse des deutschen Proletariats befreit werden, wenn sie ihre Pflicht, ihre Ehre und damit ihre wahre Macht wiedergefunden hat.

Liebknechts Schergen wissen wohl, mit welcher Liebe Hunderttausende im Lande wie im Schützengraben an ihm hängen. Gerade diesen Arbeitern und Soldaten wollte die Militärdiktatur zeigen: „Wir achten eures Schmerzes und eurer Wut nicht, auch können wir euch alles bieten, ihr werdet doch nichts für Liebknechts Befreiung wagen, ihr seid und bleibt Kanonenfutter !“ Jetzt ist es an den Proletariern im Arbeitskittel und im Soldatenrock, die Antwort zu geben.

Liebknecht rief, als man ihm im Oberkriegsgericht am 23. Juli das verschärfte Urteil verkündete, mit stolz erhobenem Haupte: „Und doch wiederhole ich: Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“

Liebknechts Ketten werden fallen, wenn die deutsche Sozialdemokratie das Kainszeichen des Verrats am internationalen Sozialismus von ihrer Stirne wegwischen wird, wenn Millionen Frauen und Männer im Lande wie im Schützengraben den Mut finden, ebenso furchtlos wie Liebknecht den Ruf zu erheben:

Nieder mit dem Krieg!
Nieder mit der Regierung!


Anmerkungen

1. Der Artikel is nicht gezeichnet. In Spartakusbriefe, hrsg. von der Kommunist Partei Deutschlands (Spartakus), Berlin 1920, ist Rosa Luxemburg als Verfasserin angegeben.

2. Die Verhandlung erster Instanz gegen Karl Liebknecht fand am 28. Juni 1916 vor dem Kammergericht Berlin statt. Das Urteil lautete auf 2 Jahre 6 Monate und 3 Tage Zuchthaus. Das Urteil zweiter Instanz, gefällt vom Oberkriegsgericht Berlin am 23. August 1916, lautete auf 4 Jahre 1 Monat Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für 6 Jahre. Dieses Urteil wurde in letzter Instanz am 4. November 1916 vom Reichsmilitärgericht bestätigt und damit rechtskräftig.

3. Der Russisch-Japanische Krieg, der vom Februar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft über Gebiete Chinas geführt wurde, endete mit einer Niederlage des russischen Imperialismus.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012