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„Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die man aus dem Studium der Geschichte ziehen kann, ist diese, dass die Regierungsform die entscheidende Ursache des Volkscharakters ist; dass die Tugenden oder Laster der Nationen, ihre Kraft oder Trägheit, ihre Talente, ihre Aufgeklärtheit oder Unwissenheit fast nie Wirkungen des Klimas, Merkmale einer besonderen Rasse – sondern das Werk der Gesetzgebung sind; dass die Natur allen alles gab, während die Regierungsform in den Menschen, die ihr unterworfen sind, jene Eigenschaften, die zuerst das Erbteil des Menschengeschlechts bildeten, bewahrt oder aber zerstört.“
In Italien fand weder im Klima noch in der Rasse (der Zustrom der Barbaren war viel zu unbedeutend, ihre Eigenschaften zu verändern) eine Veränderung statt:
„Die Natur ist für die Italiener aller Zeitalter dieselbe geblieben; nur die Regierungsform hat gewechselt, immer haben ihre Umwälzungen die Veränderung des Nationalcharakters eingeleitet oder begleitet.“
So bestritt Sismondi die Lehre, die das historische Geschick der Völker in ausschließliche Abhängigkeit vom geographischen Milieu bringt. [A] Seine Ausführungen sind nicht unbegründet. Tatsächlich, die Geographie erklärt bei weitem nicht alles in der Geschichte – gerade weil letztere Geschichte ist, das heißt, weil die Regierungen, nach den Worten Sismondis, wechseln, ungeachtet dessen, dass das geographische Milieu unverändert bleibt. Doch das nur nebenbei; uns interessiert hier eine ganz andere Frage.
Der Leser hat wahrscheinlich schon bemerkt, dass Sismondi, als er das unveränderliche geographische Milieu dem veränderlichen historischen Geschick der Völker gegenüberstellte, dieses Geschick mit einem seiner Hauptfaktoren verknüpfte, mit der „Regierungsform“, das heißt mit der politischen Ordnung des Landes. Der Volkscharakter wird ganz und gar durch den Charakter der Regierung bestimmt. Allerdings, kaum hat Sismondi diesen Satz kategorisch ausgesprochen, da mildert er ihn auch schon ganz wesentlich: Politische Veränderungen, so sagt er, leiteten die Veränderungen des Nationalcharakters ein oder begleiteten sie. Daraus geht schon hervor, dass der Charakter der Regierung manchmal vom Volkscharakter bestimmt wird. Doch hier stößt die Geschichtsphilosophie Sismondis auf den bereits bekannten Widerspruch, der die französischen Aufklärer verwirrte: die Sitten eines Volkes hängen von seiner politischen Ordnung ab; die politische Ordnung hängt von den Sitten ab. Sismondi war ebenso wenig fähig, diesen Widerspruch zu lösen, wie die Aufklärer; er musste seinen Überlegungen abwechselnd dieses oder jenes Glied der Antinomie zugrunde legen. Wie dem auch sei, sobald er erst eines ausgewählt hatte, und namentlich jenes, welches aussagt, dass der Charakter eines Volkes von seiner Regierung abhänge, maß er dem Begriff „Regierung“ eine übertrieben weite Bedeutung bei; er umfasste bei ihm ausnahmslos alle Eigenschaften des bestehenden sozialen Milieus, alle Eigenarten der bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen. Genauer wäre es, zu sagen, dass bei ihm ausnahmslos alle Eigenschaften des bestehenden sozialen Milieus ein Werk der „Regierung“, ein Ergebnis der politischen Ordnung sind. Das ist der Standpunkt des 18. Jahrhunderts. Als die französischen Materialisten ihre Überzeugung von dem allmächtigen Einfluss des Milieus auf den Menschen kurz und prägnant ausdrücken wollten, sagten sie: c’est la legislation qui fait tout (von der Gesetzgebung hängt alles ab). Wenn sie aber auf die Gesetzgebung zu sprechen kamen, meinten sie fast ausschließlich die politische Gesetzgebung, die Staatsordnung. Unter den Werken des berühmten G. B. Vico gibt es einen kleinen Aufsatz mit der Überschrift Versuch eines Systems der Jurisprudenz, in dem das Zivilrecht der Römer durch ihre politischen Revolutionen erklärt wird. [B] Obwohl dieser „Versuch“ ganz am Anfang des 18. Jahrhunderts geschrieben worden ist, herrschte die dort vertretene Ansicht über das Verhältnis des Zivilrechts zur Staatsordnung bis zur französischen Restauration; die Aufklärer führten alles auf die „Politik“ zurück.
Die politische Tätigkeit des „Gesetzgebers“ ist aber in jedem Falle eine bewusste, wenn natürlich auch nicht immer zweckmäßige Tätigkeit. Die bewusste Tätigkeit des Menschen hängt von seinen „Ansichten“ ab. So kehrten die französischen Aufklärer unversehens zum Gedanken der Allmacht der Ansichten auch dann zurück, wenn sie die Idee der Allmacht des Milieus klar zum Ausdruck bringen wollten.
Sismondi steht noch auf dem Standpunkt des 18. Jahrhunderts. [C] Die jüngeren französischen Historiker huldigen bereits anderen Ansichten.
Verlauf und Ende der Französischen Revolution mit ihren Überraschungen, die selbst „aufgeklärteste“ Denker in Verlegenheit brachten, war die offensichtlichste Widerlegung des Gedankens der Allmacht der Ansichten. Viele verzweifelten damals an der Kraft der „Vernunft“, andere, die dieser Enttäuschung nicht unterlagen, begannen um so mehr, sich dem Gedanken der Allmacht des Milieus und dem Studium seiner Entwicklung zuzuwenden. Aber auch das Milieu betrachtete man mit dem Beginn der Restauration von einem neuen Gesichtspunkt aus. Die großen historischen Ereignisse hatten sowohl der „Gesetzgeber“ als auch der politischen Verfassungen derart gespottet, dass es jetzt als sonderbar erschienen wäre, alle Eigenschaften des bestehenden gesellschaftlichen Milieus mit diesen Verfassungen als dem entscheidenden Faktor zu verknüpfen; man begann jetzt, die politischen Verfassungen als etwas Abgeleitetes, als Folge, nicht aber als Ursache anzusehen.
„Der größte Teil der Schriftsteller, Gelehrten, Historiker oder Publizisten“, sagt Guizot in seinen «Essais sur l’histoire de France» [D], „hat durch das Studium der politischen Einrichtungen versucht, den Zustand der Gesellschaft, den Grad oder die Art ihrer Zivilisation zu erkennen. Es wäre klüger, erst die Gesellschaft selbst zu erforschen, um ihre politischen Einrichtungen zu erkennen und zu verstehen. Institutionen sind Wirkung, ehe sie Ursache werden; die Gesellschaft schafft sie, ehe sie durch sie verändert wird; und anstatt in dem System oder den Formen der Regierung zu suchen, welches der Zustand eines Volkes sei, muss man vor allem den Zustand des Volkes untersuchen, um zu wissen, welcher Art die Regierung sein müsse, welcher Art sie sein könne ... Die Gesellschaft, ihre Zusammensetzung, die Lebensweise der einzelnen Menschen entsprechend ihrer sozialen Lage, die Beziehungen der verschiedenen Klassen von Individuen, kurz, die Lebensweise der Menschen (l’état des personnes) – das ist ganz gewiss die erste Frage, die die Aufmerksamkeit des Historikers beansprucht, der das Leben der Völker erforschen will, und des Publizisten, der wissen will, wie sie regiert wurden.“ [E]
Das ist eine Ansicht, die der Vicos direkt entgegen gesetzt ist. Bei jenem wird die Geschichte des Zivilrechts aus politischen Revolutionen erklärt, bei Guizot erklärt sich die politische Ordnung aus der Lebensweise, das heißt aus dem Zivilrecht. Aber der französische Historiker geht in der Analyse der „gesellschaftlichen Zusammensetzung“ noch weiter. Seiner Meinung nach steht die „zivile Lebensweise“ bei allen Völkern, die die Bühne der Geschichte nach dem Untergang des Weströmischen Reiches betreten haben, in enger Beziehung zu den Grund- und Bodenverhältnissen (état des terres), und darum muss das Studium dieser Bodenverhältnisse dem Studium des Zivillebens vorangehen: „Um die politischen Einrichtungen zu begreifen, muss man die verschiedenen in der Gesellschaft bestehenden Schichten und ihre gegenseitigen Beziehungen untersuchen. Um diese verschiedenen Schichten zu begreifen, muss man die Natur der Bodenverhältnisse kennen.“ [F] Von diesem Standpunkt aus studiert Guizot auch die Geschichte Frankreichs während der ersten zwei Dynastien. Sie erscheint bei ihm als die Geschichte eines Kampfes verschiedener Schichten der damaligen Gesellschaft. In seiner Geschichte der englischen Revolution geht er noch einen Schritt weiter, indem er dieses Ereignis als den Kampf der Bourgeoisie gegen die Aristokratie darstellt und stillschweigend anerkennt, dass man zur Erklärung des politischen Lebens eines Landes nicht nur die dort herrschenden Grund- und Bodenverhältnisse, sondern auch alle seine Besitzverhältnisse überhaupt erforschen müsse. [G]
Diese Ansicht über die politische Geschichte Europas war damals keineswegs eine ausschließliche Eigenart Guizots. Sie wurde von vielen anderen Historikern geteilt, unter denen wir auf Augustin Thierry und Mignet hinweisen wollen.
In seiner «Vue des révolutions d6rsquo;Angleterre» stellt Augustin Thierry die Geschichte der englischen Revolutionen als den Kampf der Bourgeoisie gegen die Aristokratie dar. „Jeder, dessen Vorfahren zu den Eroberern Englands gehörten“, sagte er über die erste Revolution, „verließ sein Schloss und begab sich ins königliche Lager, wo er das seinem Rang entsprechende Kommando übernahm. Die Bewohner der Städte und der Häfen gingen in hellen Haufen ins gegnerische Lager. Man könnte sagen: Das Feldgeschrei der beiden Armeen war auf der einen Seite Müßiggang und Macht, auf der anderen Seite Arbeit und Freiheit; denn die Müßiggänger, welcher Schicht sie auch angehörten, jene, die keine andere Beschäftigung im Leben wollten, als ohne Mühe zu genießen, schlossen sich den königlichen Truppen an, um Interessen zu verteidigen, die mit den ihren übereinstimmten; im Gegensatz dazu schlossen sich jene Nachfahren der Eroberer, die ein Gewerbe betrieben, der Partei der Gemeinden an.“ [H]
Die religiöse Bewegung jener Zeit war nach Thierrys Ansicht nur eine Widerspiegelung der positiven Lebensinteressen. „Um diese positiven Interessen wurde der Krieg auf beiden Seiten geführt. Alles andere war äußerer Schein oder Vorwand. Die für die Sache der Untertanen kämpften, waren größtenteils Presbyterianer, das heißt, sie lehnten, auch in der Religion, jeden Zwang ab. Die der gegnerischen Partei folgten, waren Anglikaner oder Papisten, das heißt, sie strebten, selbst in den Formen des religiösen Kults, nach Machtausübung und nach Besteuerung der Menschen.“ Hier zitiert Thierry folgende Worte aus Fox’ History of the reign of James the Second
„... alle religiösen Ansichten betrachteten die Whigs unter dem Blickwinkel der Politik. Sogar bei ihrem Hass gegen den Papismus ging es ihnen nicht so sehr um den Aberglauben oder die behauptete Götzenanbetung jener unpopulären Sekte als vielmehr um deren Bestreben, die unumschränkte Macht im Staat zu errichten.“
Nach Mignets Ansicht „bestimmen die herrschenden Interessen den Gang der sozialen Bewegung. Diese Bewegung geht durch alle ihr entgegenstehenden Hindernisse hindurch auf ihr Ziel zu, sie hört auf, wenn sie ihr Ziel erreicht hat, und wird durch eine andere abgelöst, die zunächst ganz unmerklich vor sich geht und sich erst dann bemerkbar macht, wenn sie mächtiger wird. Das war der Gang der Feudalordnung. Dieser Ordnung bedurfte die Gesellschaft, bis sie sich durchgesetzt hatte – das war ihre erste Periode; dann existierte sie faktisch, hatte aber aufgehört, notwendig zu sein – zweite Periode. Und dies führte dazu, dass sie aufhörte, ein Faktum zu sein. Noch nie ist eine Revolution auf andere Art erfolgt.“ [I]
In seiner Geschichte der Französischen Revolution betrachtet Mignet die Ereignisse gerade vom Standpunkt der „Bedürfnisse“ verschiedener Gesellschaftsklassen. Der Kampf dieser Klassen ist bei ihm die Haupttriebfeder der politischen Ereignisse. Diese Ansicht konnte den Eklektikern selbst in jener guten alten Zeit, als ihre Köpfe besser arbeiteten als jetzt, natürlich nicht zusagen. Die Eklektiker warfen den Anhängern neuer Geschichtstheorien Fatalismus, das Streben nach System (esprit de Systeme) vor. Wie es in solchen Fällen immer zu sein pflegt, fanden die Eklektiker die wirklich schwachen Seiten der neuen Theorien gar nicht heraus, fielen aber mit um so größerer Energie über ihre unbestreitbar starken Seiten her. Im Übrigen ist das so alt wie die Welt und darum wenig interessant. Bedeutend interessanter ist der Umstand, dass der Saint-Simonist Bazard, einer der glänzendsten Vertreter des damaligen Sozialismus, diese neuen Ansichten verteidigt hat.
Bazard hielt Mignets Buch über die Französische Revolution für nicht ganz einwandfrei. Der Mangel dieses Buches lag seiner Ansicht nach darin, dass es ein Ereignis als Einzeltatsache beschreibt, ohne jeglichen Zusammenhang mit „jener langen Kette von Bemühungen, die nach dem Sturz der alten Gesellschaftsordnung die Errichtung der neuen Ordnung erleichtern mussten“. Das Buch hat jedoch auch unanzweifelbare positive Eigenschaften. „Der Verfasser setzt sich zum Ziel, jene Parteien zu charakterisieren, die eine nach der anderen die Revolution lenken, die Beziehung dieser Parteien zu verschiedenen gesellschaftlichen Klassen aufzudecken, zu zeigen, welche Kette von Ereignissen sie eine nach der anderen an die Spitze der Bewegung stellt und wie sie schließlich verschwinden.“ Derselbe „Geist des Systems und des Fatalismus“, den die Eklektiker den Historikern der neuen Richtung vorwerfen, unterscheidet nach Bazards Ansicht die Werke Guizots und Mignets so vorteilhaft von den Werken „der Historiker-Literaten (das heißt Historiker, die sich nur um den schönen ‚Stil« bemühen), die trotz ihrer großen Zahl die Geschichtswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert auch nicht um einen Schritt vorwärts gebracht haben“. [J]
Hätte man Augustin Thierry, Guizot oder Mignet gefragt, ob nun die Sitten eines Volkes seine Staatsordnung schüfen oder, umgekehrt, die Staatsordnung seine Sitten hervorrufe – jeder würde geantwortet haben: So groß und unbestreitbar die Wechselwirkung zwischen den Sitten eines Volkes und seiner Staatsordnung auch sein möge, letzten Endes verdanke sowohl das eine als auch das andere seine Existenz einem dritten, tieferen Faktor, der „zivilen Lebensweise der Menschen, ihren Eigentumsverhältnissen“.
So wurde der Widerspruch gelöst, in den sich die Philosophen des 18. Jahrhunderts verstrickt hatten; und jeder unvoreingenommene Mensch hätte zugeben müssen, dass Bazard recht und dass die Wissenschaft durch die Vertreter der neuen Ansichten über die Geschichte einen Fortschritt gemacht hat.
Wir wissen aber schon, dass der genannte Widerspruch nur ein Sonderfall des Grundwiderspruchs in den gesellschaftlichen Ansichten des 18. Jahrhunderts ist: 1. Der Mensch mit all seinen Gedanken und Gefühlen ist das Ergebnis der Umwelt; 2. die Umwelt ist eine Schöpfung des Menschen, die Frucht seiner „Ansichten“. Kann man nun behaupten, die neue Geschichtsauffassung habe diesen grundlegenden Widerspruch des französischen Materialismus gelöst? Sehen wir uns näher an, wie sich die französischen Historiker der Restaurationsepoche die Entstehung jener zivilen Lebensweise, jener Eigentumsverhältnisse erklären, deren sorgfältiges Studium ihrer Ansicht nach allein imstande ist, den Schlüssel zum Verstehen geschichtlicher Vorgänge zu liefern.
Die Eigentumsverhältnisse der Menschen gehören in das Gebiet ihrer Rechtsbeziehungen; Eigentum ist vor allem eine Rechtsinstitution. Zu sagen, dass man den Schlüssel zum Verstehen geschichtlicher Erscheinungen in den Eigentumsverhältnissen der Menschen suchen müsse, heißt sagen, dieser Schlüssel liege in den Rechtsinstitutionen. Woher kommen aber diese Institutionen? Guizot sagt ganz richtig, dass die politischen Verfassungen zunächst Wirkung waren, ehe sie Ursache wurden; dass die Gesellschaft sie zunächst schuf und sich dann erst unter deren Einfluss zu verändern begann. Kann man das gleiche nicht von den Eigentumsverhältnissen sagen? Waren sie ihrerseits nicht auch erst Wirkungen, ehe sie Ursachen wurden? Musste die Gesellschaft sie nicht erst schaffen, um später ihren entscheidenden Einfluss auf sich zu verspüren?
Alle diese sinnvollen Fragen beantwortet Guizot höchst unbefriedigend.
Bei den Völkern, die nach dem Untergang des Weströmischen Imperiums die Bühne der Geschichte betraten, stand die zivile Lebensweise in enger Kausalbeziehung zum Bodenbesitz [K]: Das Verhältnis des Menschen zum Grund und Boden bestimmte seine gesellschaftliche Stellung. Während der ganzen Epoche des Feudalismus wurden alle gesellschaftlichen Einrichtungen letzten Endes durch die Bodenverhältnisse bedingt. Was jedoch diese Verhältnisse betrifft, so wurden sie, nach den Worten des gleichen Guizot, „ursprünglich, nach dem ersten Einbruch der Barbaren“, durch die gesellschaftliche Stellung der Grundbesitzer bestimmt: „Der Boden erhielt diesen oder jenen Charakter – je nachdem, wie stark der Grundbesitzer war.“ [L] Was bestimmte aber in diesem Falle die gesellschaftliche Stellung der Grundbesitzer? Was bedingte „ursprünglich, nach dem ersten Einbruch der Barbaren“, den größeren oder geringeren Freiheitsgrad, die größere oder geringere Macht der Grundbesitzer? Die früheren politischen Verhältnisse unter den Eroberer-Barbaren? Guizot hat uns doch schon gesagt, dass die politischen Verhältnisse Wirkung und nicht Ursache sind. Um die politische Lebensweise der Barbaren in der Epoche, die dem Untergang des Römischen Reiches voranging, zu verstehen, müssten wir, den Rat unseres Verfassers befolgend, ihre zivile Lebensweise, ihre soziale Ordnung, das Verhältnis der verschiedenen Klassen usw. untersuchen; diese Untersuchung würde uns aber wiederum vor die Frage stellen, was die Eigentumsverhältnisse der Menschen bedinge, wodurch die innerhalb einer Gesellschaft bestehenden Eigentumsformen hervorgerufen werden. Es ist doch verständlich, dass wir nichts gewinnen würden, beriefen wir uns, wenn wir die Stellung der gesellschaftlichen Klassen erklären, auf den relativen Grad ihrer Freiheit und Macht. Das wäre keine Antwort, sondern die Wiederholung der Frage in einer neuen Form, mit einigen Einzelheiten.
Die Frage nach der Herkunft der Eigentumsverhältnisse ist in Guizots Kopf wohl kaum als eine streng und exakt gestellte wissenschaftliche Frage entstanden. Wir haben gesehen, dass es ihm zwar völlig unmöglich war, diese Frage außer acht zu lassen, doch schon die Verworrenheit der Antworten, die er darauf gibt, bezeugt die Unklarheit seiner Formulierung. In der letzten Analyse versucht Guizot die Entwicklung der Eigentumsformen durch äußerst nebelhafte Hinweise auf die menschliche Natur zu erklären. So nimmt es nicht wunder, wenn sich dieser Historiker selbst, dem die Eklektiker überflüssige Systematisierung seiner Ansichten vorwerfen, als ein gehöriger Eklektiker erwiesen hat – zum Beispiel in seinen Werken über die Geschichte der Zivilisation.
Augustin Thierry, der den Kampf der religiösen Sekten und politischen Parteien vom Standpunkt der „positiven Interessen“ verschiedener Gesellschaftsklassen betrachtet und der mit dem Kampf des dritten Standes gegen die Aristokratie leidenschaftlich sympathisiert, erklärt die Entstehung dieser Klassen und Stände durch Eroberungen. «Tout cela date d’une conquête, il y a une conquête là dessous» (das alles stammt aus der Zeit der Eroberung, es liegt ihm eine Eroberung zugrunde), sagt er über die Klassen- und Standesverhältnisse bei den neueren Völkern, über die er ja ausschließlich spricht. Diesen Gedanken entwickelt er unermüdlich auf jede Art und Weise, sowohl in publizistischen Aufsätzen als auch in seinen späteren wissenschaftlichen Werken. Ungeachtet dessen, dass die „Eroberung“ – als internationale politische Handlung – Thierry auf den Standpunkt des 18. Jahrhunderts zurückwarf, als das gesamte gesellschaftliche Leben durch die Tätigkeit des Gesetzgebers, das heißt der politischen Macht, erklärt wurde, erweckt doch jede Tatsache einer Eroberung unvermeidlich die Frage: Warum waren die sozialen Folgen gerade diese und nicht andere? Vor dem Einbruch der germanischen Barbaren hatte Gallien schon die römische Eroberung erlebt. Die sozialen Folgen dieser Eroberung unterschieden sich wesentlich von jenen, die die germanische Eroberung mit sich gebracht hat. Die sozialen Folgen der Eroberung Chinas durch die Mongolen ähneln sehr wenig den sozialen Folgen der Eroberung Englands durch die Normannen. Woher diese Unterschiede? Wenn man sagt: aus der unterschiedlichen sozialen Ordnung verschiedener Völker, die zu verschiedenen Zeiten aufeinanderstoßen, sagt man eigentlich nichts, denn es bleibt nach wie vor unbekannt, was ihre soziale Ordnung bedingt. Wenn man sich in diesem Zusammenhang auf irgendwelche früheren Eroberungen beruft, bewegt man sich nur in einem fehlerhaften Kreis. So viele Eroberungen man auch aufzählt, letztlich gelangt man doch zu der unausbleiblichen Schlussfolgerung, dass es im gesellschaftlichen Leben der Völker irgendein x gibt, irgendeinen unbekannten Faktor, der nicht nur nicht durch Eroberungen bedingt wird, sondern, ganz im Gegenteil, die Wirkungen der Eroberungen selber bedingt und häufig, vielleicht auch immer, die Eroberungen als solche bestimmt, weil er die Hauptursache internationaler Zusammenstöße bildet. Thierry weist in seiner Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen auf Grund alter Zeugnisse selbst auf die Antriebe hin, von denen sich die Angelsachsen in ihrem verzweifelten Kampf um ihre Unabhängigkeit leiten ließen. „Wir müssen kämpfen“, sprach einer ihrer Herzöge, „wie groß die Gefahr für uns auch sei; denn es geht hier nicht um die Anerkennung eines neuen Herrn ..., sondern um etwas ganz anderes. Der Normanne hat unseren Grund und Boden bereits an seine Heerführer, Ritter und alle seine Mannen verteilt, und die meisten von ihnen haben ihm dafür bereits gehuldigt. Sie werden ihre Lehen antreten wollen, wenn der Herzog unser König wird; er aber wird gezwungen sein, ihnen unsere Güter, unsere Frauen, unsere Töchter zu übergeben; das alles hat er ihnen schon im Voraus versprochen. Sie wollen nicht nur uns, sondern auch unsere Nachkommen vernichten und uns das Land unserer Ahnen rauben“ usw. Wilhelm der Eroberer seinerseits sprach zu seinem Gefolge: „Kämpft tapfer und erschlagt sie alle; wenn wir siegen, werden wir alle reich sein. Was ich erwerben werde, erwerbt ihr; was ich erobere, erobert ihr; wenn ich Land nehme, wird es euch gehören.“ [M] Hier wird es mehr als deutlich, dass die Eroberung nicht Selbstzweck war, dass ihr gewisse „positive“, das heißt ökonomische, Interessen „zugrunde“ lagen. Es fragt sich nur: Was verlieh diesen Interessen die Form, die sie damals besaßen? Warum neigten sowohl die Einheimischen als auch die Eroberer gerade zur feudalen und zu keiner anderen Art des Bodenbesitzes? Die „Eroberung“ erklärt in diesem Falle nichts.
In der «Histoire du tiers état» des gleichen Thierry und in allen seinen Abhandlungen über die Geschichte der inneren Zustände Frankreichs und Englands haben wir schon ein recht vollständiges Bild der historischen Entwicklung der Bourgeoisie. Es genügt, dieses Bild kennenzulernen, um einzusehen, in welchem Maße eine Ansicht unbefriedigend ist, die die Entstehung und Entwicklung einer bestimmten sozialen Ordnung an Eroberungen knüpft – stand doch diese Entwicklung ganz und gar im Gegensatz zu den Interessen und Wünschen der Feudalaristokratie, das heißt der Eroberer und ihrer Nachkommen.
Ohne zu übertreiben, kann man sagen, Augustin Thierry habe selbst dafür gesorgt, dass seine Ansichten von der historischen Rolle der Eroberungen durch seine eigenen geschichtlichen Untersuchungen widerlegt werden. [N]
Bei Mignet herrscht die gleiche Verworrenheit. Er spricht vom Einfluss des Grundbesitzes auf die politischen Formen. Wovon aber die Formen des Grundbesitzes abhängen, warum sie sich in diese oder jene Richtung entwickeln, das weiß Mignet nicht. Letzten Endes beziehen sich die Formen des Grundbesitzes auch bei ihm auf die Eroberung. [O]
Er fühlt, dass wir es auch in der Geschichte der internationalen Zusammenstöße nicht mit abstrakten Begriffen wie „Eroberer“, „Eroberte“ zu tun haben, sondern mit Menschen von Fleisch und Blut, die bestimmte Rechte und gesellschaftliche Verhältnisse aufweisen; allerdings geht seine Analyse auch nicht besonders tief. „Wenn sich zwei Völker, die den gleichen Grund und Boden bewohnen, miteinander vermischen“, sagt er, „verlieren sie ihre schwachen Seiten und verleihen einander ihre starken.“ [P]
Das ist oberflächlich und nicht einmal ganz klar.
Der Frage nach der Herkunft der Eigentumsverhältnisse von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt, würde ein jeder der genannten französischen Historiker der Restaurationsepoche sicherlich versuchen, den Schwierigkeiten, wie Guizot, durch mehr oder weniger scharfsinnige Hinweise auf die „menschliche Natur“ zu entrinnen.
Die Ansicht von der „menschlichen Natur“ als der höchsten Instanz, vor der alle „Sonderfälle“ aus dem Bereich des Rechts, der Moral, der Politik, der Wirtschaft entschieden werden, haben die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts völlig von den Aufklärern des vorangegangenen Jahrhunderts übernommen.
Wenn der Mensch, da er das Licht der Welt erblickt, keinen fertigen Vorrat angeborener „praktischer Ideen“ mitbringt; wenn die Tugend nicht deswegen geschätzt wird, weil sie den Menschen angeboren, sondern weil sie, wie Locke behauptet, nützlich ist; wenn das Prinzip des gesellschaftlichen Nutzens das höchste Gesetz ist, wie Helvétius sagt; wenn der Mensch überall, wo es sich um menschliche Wechselbeziehungen handelt, das Maß aller Dinge ist – dann muss man natürlich folgern, dass gerade die Natur des Menschen jener Gesichtspunkt sei, unter dem wir über Nutzen und Schaden, über Vernunft und Unsinn bestimmter Verhältnisse zu befinden haben. Gerade unter diesem Gesichtspunkt beurteilten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts sowohl die damalige Gesellschaftsordnung als auch die von ihnen gewünschten Reformen. Die menschliche Natur ist ihr Hauptargument in den Diskussionen mit ihren Gegnern. Wie bedeutend dieses Argument in ihren Augen war, wird zum Beispiel durch folgende Ausführungen Condorcets ausgezeichnet veranschaulicht: „Die Ideen der Gerechtigkeit und des Rechts entstehen bei allen Wesen, die fähig sind, zu empfinden und Ideen zu entwickeln, unbedingt auf gleiche Art. Daher werden sie gleichartig sein.“ Zwar kommt es vor, dass die Menschen sie entstellen (les altèrent). „Doch jeder richtig denkende Mensch wird ebenso unvermeidlich zu den gleichen Ideen in der Moral kommen wie in der Mathematik. Diese Ideen sind die notwendige Schlussfolgerung aus der unbestreitbaren Wahrheit, dass Menschen empfindende und denkende Wesen sind.“ Natürlich haben die französischen Aufklärer ihre gesellschaftlichen Ansichten in Wirklichkeit nicht aus dieser mehr als dürftigen Wahrheit abgeleitet, sondern ihre Umwelt hat sie ihnen eingegeben: Der „Mensch“, den sie meinten, zeichnete sich nicht allein durch die Fähigkeit aus, zu empfinden und zu denken; seine „Natur“ forderte schon eine bestimmte bürgerliche Ordnung (gerade die Werke Holbachs enthalten Forderungen, die später von der Verfassunggebenden Versammlung verwirklicht wurden); sie schrieb die Freiheit des Handels vor, die Nichteinmischung des Staates in die Eigentumsverhältnisse der Bürger (laissez faire, laissez passer! [1]) [Q] usw. usw. Die Aufklärer betrachteten die menschliche Natur durch das Prisma der bestehenden gesellschaftlichen Bedürfnisse und Verhältnisse. Aber sie ahnten nicht einmal, dass die Geschichte ein Prisma vor ihre Augen gesetzt hatte, und bildeten sich ein, aus ihrem Munde spreche die von den aufgeklärten Vertretern der Menschheit endlich verstandene und gewürdigte „Natur des Menschen“ selbst.
Nicht alle Schriftsteller des 18. Jahrhunderts hatten die gleiche Vorstellung von der menschlichen Natur. Mitunter gingen sie in ihren diesbezüglichen Ansichten wesentlich auseinander. Sie waren jedoch alle in gleichem Masse überzeugt, dass nur die richtige Ansicht über diese Natur den Schlüssel zur Erklärung der gesellschaftlichen Erscheinungen liefere.
Oben haben wir es schon ausgesprochen, dass viele französische Aufklärer in der Entwicklung der menschlichen Vernunft bereits eine bestimmte Gesetzmäßigkeit verspürten. Der Gedanke dieser Gesetzmäßigkeit wurde ihnen vor allem durch die Geschichte der Literatur eingegeben: „Welches Volk“, so fragen sie, „ist nicht anfänglich Poet gewesen, um als Philosoph zu enden?“ [R] Wie erklärt sich diese Reihenfolge? Durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, durch die selbst die Entwicklung der Sprache bedingt wird, antworten die Aufklärer. „Die Kunst der Rede ist, wie alle Künste, die Frucht gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interessen“, bewies Abbé d’Arnaud in seiner soeben in der Fußnote erwähnten Rede. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse ändern sich, darum ändert sich auch der Entwicklungsverlauf der „Künste“. Wodurch sind aber die gesellschaftlichen Bedürfnisse bestimmt? Die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die Bedürfnisse der die Gesellschaft bildenden Menschen werden durch die Natur des Menschen bedingt. Folglich muss man in dieser Natur auch die Erklärung dieses und keines anderen Verlaufs der geistigen Entwicklung suchen.
Die menschliche Natur, damit sie die Rolle des höchsten Maßes aller Dinge spielen könne, muss selbstverständlich als ein für allemal gegeben, als unveränderlich angesehen werden. Und die Aufklärer hielten sie wirklich dafür, was der Leser den obenerwähnten Worten Condorcets entnehmen konnte. Wenn aber die menschliche Natur unveränderlich ist, wie kann man aus ihr den Verlauf der geistigen oder gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit erklären wollen? Was ist denn hier der Entwicklungsprozess? Eine Reihe von Veränderungen. Kann man aber diese Veränderungen mit Hilfe eines Unveränderlichen, ein für allemal Gegebenen erklären? Ändert sich das Veränderliche, weil das Konstante unveränderlich bleibt? Die Aufklärer begriffen, dass das nicht der Fall sei, und wiesen – um den Schwierigkeiten zu entgehen – darauf hin, dass sich das Konstante als in gewissen Grenzen veränderlich erweise. Der Mensch durchlebt verschiedene Altersstufen: Kindheit, Jugend, Reife usw. Während dieser verschiedenen Altersstufen hat er verschiedenartige Bedürfnisse: „In seiner Kindheit hat der Mensch nur Sinne, Einbildung und Gedächtnis; er will nur unterhalten werden und braucht dazu nur Lieder und Fabeln. Es folgt das Alter der Leidenschaften, und die Seele will bewegt und erschüttert werden; der Geist entwickelt sich dann, und die Vernunft gewinnt an Stärke: diese beiden Fähigkeiten verlangen ihrerseits geübt zu werden, und ihre Tätigkeit richtet sich auf alles, was die Neugierde ... interessiert.“
So entwickelt sich der einzelne Mensch: Die Übergänge sind durch seine Natur bedingt; und gerade weil sie in seiner Natur liegen, können sie auch in der geistigen Entwicklung der ganzen Menschheit beobachtet werden; durch sie, durch diese Übergänge erklärt sich die Tatsache, dass die Völker mit dem Epos beginnen und mit der Philosophie enden. [S]
Man wird unschwer erkennen, dass solche „Erklärungen“ einfach nichts erklären und nur dem Verlauf der geistigen Entwicklung der Menschheit eine gewisse Bildlichkeit verleihen (Vergleiche heben die Eigenarten des zu beschreibenden Gegenstandes stets deutlicher hervor). Ebenso leicht wird man erkennen, dass sich die Denker des 18. Jahrhunderts in dem uns bereits bekannten fehlerhaften Kreis bewegten: die Umwelt schafft den Menschen, der Mensch schafft die Umwelt. Tatsächlich, einerseits ergibt es sich, dass die geistige Entwicklung der Menschheit, das heißt, mit anderen Worten, die Entwicklung der menschlichen Natur, durch gesellschaftliche Bedürfnisse bedingt wird, anderseits erklärt sich die Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse aus der Entwicklung der menschlichen Natur.
Diesen Widerspruch konnten, wie wir sehen, auch die französischen Historiker der Restaurationsepoche nicht überwinden; sie gaben ihm nur eine neue Form.
A. «Histoire des républiques italiennes du moyen âge», Nouvelle édition, v. I, Paris, Introduction, pp. V/VI.
B. Wir übertragen den Titel des Aufsatzes aus dem Französischen und beeilen uns zu bemerken, dass uns der Aufsatz selbst nur aus einigen französischen Auszügen bekannt ist. Eines italienischen Textes konnten wir nicht habhaft werden, da er, soweit uns bekannt, nur in einer einzigen Ausgabe der Werke Vicos (1818) erschienen ist; in der sechsbändigen Mailänder Ausgabe von 1835 ist er schon nicht mehr enthalten. In diesem Falle ist aber auch nicht wichtig, wie Vico seine Aufgabe löste, sondern welche Aufgabe er sich stellte.
Übrigens wollen wir hier einem Vorwurf vorgreifen, der uns seitens scharfsinniger Kritiker sicherlich gemacht werden wird: „Ihr benutzt die Ausdrücke ,Aufklärer‘ und ,Materialisten‘ ohne Unterschied“, wird man zu uns sagen, „dabei waren längst nicht alle ‚:Aufklärer‘ Materialisten; viele unter ihnen, zum Beispiel Voltaire, traten den Materialisten eifrig entgegen.“ – So ist es; anderseits hat aber schon Hegel gezeigt, dass die gegen den Materialismus auftretenden Aufklärer selbst inkonsequente Materialisten waren.
C. Er begann seine Arbeit über die italienischen Freistaaten schon im Jahre 1796.
D. Die erste Auflage erschien im Jahre 1821.
E. «Essais», 10me edit., Paris 1860, pp. 73/74.
F. Ebenda, pp. 75/76.
G. Der Kampf der religiösen und politischen Parteien im England des 17. Jahrhunderts „verdeckte eine gesellschaftliche Frage, den Kampf der verschiedenen Klassen um Einfluss und Macht. Nicht als ob diese Klassen in England zutiefst geschieden und einander feindlich gewesen wären wie in anderen Ländern. Zusammen mit den eigenen Freiheiten hatten die großen Barone die Freiheiten des Volkes behauptet, und das Volk hatte das nicht vergessen. Landadel und Städtebürger saßen seit drei Jahrhunderten im Namen der Gemeinden Englands gemeinsam im Parlament. Aber seit einem Jahrhundert waren im Kräfteverhältnis der verschiedenen Klassen große Veränderungen im Schoß der Gesellschaft eingetreten, ohne dass entsprechende Veränderungen in der Regierung bewirkt worden wären. Bourgeois, Landadlige, Farmer und kleine Grundbesitzer, damals sehr zahlreich, übten auf die öffentlichen Angelegenheiten nicht den Einfluss aus, der ihrer Bedeutung im Lande entsprochen hätte. Sie waren größer geworden, aber nicht emporgestiegen. Dadurch kam bei ihnen und in den Schichten unter ihnen ein überaus starker Ehrgeiz auf, der jede Gelegenheit zum Losbrechen zu benutzen bereit war.“ «Discours sur l’histoire de la revolution d’Angleterre», Berlin 1850, pp. 9/10. – Siehe auch beim gleichen Verfasser alle sechs Bände über die Geschichte der ersten englischen Revolution sowie die Biographien verschiedener Staatsmänner jener Zeit. Guizot verlässt dort nur selten den Standpunkt des Klassenkampfes.
H. «Dix ans d’études historiques», im sechsten Band der vollständigen Sammlung von Thierrys Werken, 10. Ausgabe, S. 66.
I. «De la féodalité des institutions de St.-Louis et de l’influence de la législation de ce prince», Paris 1822, pp. 76/77.
J. «Considérations sur l’histoire», im IV. Teil von «Le Producteur».
K. Also nur bei den jüngeren Völkern? Diese Einschränkung ist um so sonderbarer, als schon griechische und römische Schriftsteller die enge Bindung der zivilen und politischen Lebensweise und der Grund- und Bodenverhältnisse erkannten. Diese sonderbare Einschränkung hinderte Guizot indes nicht, den Untergang des Römischen Reiches in Beziehung zu seiner Staatswirtschaft zu setzen. Siehe seinen ersten „Versuch“: «Du régime municipal dans l’empire romain au Vme siècle de l’ère chrétienne».
L. Das heißt, der Grundbesitz hatte diesen oder jenen rechtlichen Charakter; anders ausgedrückt, sein Besitz hing – je nach Macht und Freiheit des Grundbesitzers – mit einer größeren oder geringeren Abhängigkeit zusammen. Loc. cit., p. 75.
M. «Histoire de la conquête» usw., Paris, v. I, pp. 295 et 300. 56
N. Interessant ist es, dass schon die Saint-Simonisten diese schwache Seite in den Geschichtsansichten Thierrys erkannten. So bemerkt Bazard in dem oben zitierten Aufsatz, dass die Eroberung in Wirklichkeit einen viel geringeren Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Gesellschaft ausübte, als Thierry glaubt. „Jeder, der die Entwicklungsgesetze der Menschheit versteht, sieht, dass die Rolle der Eroberung völlig untergeordnet ist.“ In diesem Falle aber kommt Thierry den Ansichten seines einstigen Lehrers Saint-Simon näher als Bazard: Bei Saint-Simon wird die Geschichte Westeuropas seit dem 15. Jahrhundert vom Standpunkt der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse betrachtet, die mittelalterliche Gesellschaftsordnung aber wird einfach als das Ergebnis einer Eroberung erklärt.
O. Siehe «De la féodalité», p. 50.
P. Ibid., p.212.
1. Lasst machen, lasst geschehen!
Q. Wenn auch nicht immer! Manchmal empfehlen die Philosophen dem „Gesetzgeber“, im Namen derselben Natur „die Ungleichheit des Besitzes auszugleichen“. Darin liegt einer der zahlreichen Widersprüche der französischen Aufklärer. Aber das geht uns hier nichts an. Für uns ist nur von Bedeutung, dass die abstrakte „Natur des Menschen“ in jedem Falle ein Argument zugunsten durchaus konkreter Bestrebungen dieser oder jener Schichten der Gesellschaft war, und zwar ausschließlich der bürgerlichen Gesellschaft.
R. Grimm, «Correspondance littéraire» vom August 1774. Mit dieser Frage wiederholt Grimm nur den Gedanken des Abbé d’Arnaud, den dieser in seiner Rede vor der Französischen Akademie entwickelt hatte.
S. Suard, loc. cit., p. 383.
Zuletzt aktualiziert am 20. Mai 2025