G. W. Plechanow

Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung

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Fünftes Kapitel

Der moderne Materialismus

Die Unzulänglichkeit des idealistischen Standpunktes bei der Erklärung von Erscheinungen in der Natur und im gesellschaftlichen Leben musste denkende Menschen (das heißt keine Eklektiker oder Dualisten) veranlassen, zur materialistischen Weltanschauung zurückzukehren, und veranlasste sie tatsächlich dazu. Der neue Materialismus konnte aber nicht einfach die Lehren der französischen Materialisten des ausgehenden 18. Jahrhunderts wiederholen. Der Materialismus, bereichert durch alle Errungenschaften des Idealismus, erlebte eine Auferstehung. Die wichtigste dieser Errungenschaften war die dialektische Methode, die Betrachtung der Erscheinungen in ihrer Entwicklung, in ihrem Entstehen und Vergehen. Der geniale Vertreter dieser neuen Richtung war Karl Marx.

Marx war nicht der erste, der sich gegen den Idealismus auflehnte. Das Banner der Erhebung war von Ludwig Feuerbach entrollt worden. Darauf, etwas später als Feuerbach, betraten die literarische Arena die Gebrüder Bauer, deren Ansichten die besondere Beachtung des modernen russischen Lesers verdienen.

Die Ansichten der Gebrüder Bauer waren eine Reaktion auf Hegels Idealismus. Dessen ungeachtet waren sie selber völlig von einem höchst oberflächlichen, einseitigen, eklektischen Idealismus durchsetzt.

Wir haben gesehen, dass es den großen deutschen Idealisten nicht gelungen war, das wahre Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, ihre reale Grundlage zu entdecken. Sie betrachteten die gesellschaftliche Entwicklung als einen notwendigen, gesetzmäßigen Prozess und waren in diesem Falle durchaus im Recht. Sobald aber die Rede auf die Haupttriebkraft der historischen Entwicklung kam, wandten sie sich der absoluten Idee zu, deren Eigenschaften die letzte, tiefgründigste Erklärung dieses Prozesses geben sollten. Hier lag die schwache Seite des Idealismus, gegen die sich die philosophische Revolution vor allem richtete: der äußerste linke Flügel der Hegelschen Schule lehnte sich entschieden gegen die „absolute Idee“ auf.

Die absolute Idee existiert (natürlich nur, falls sie existiert) außerhalb von Zeit und Raum und, wirklich in jedem Falle, außerhalb des Kopfes jedes einzelnen Menschen. Wenn die Menschheit in ihrer historischen Entwicklung den Verlauf der logischen Entwicklung der Idee reproduziert, gehorcht sie einer ihr fremden, außerhalb ihrer selbst stehenden Kraft. Als sich die Junghegelianer gegen die absolute Idee auflehnten, lehnten sie sich vor allem auf im Namen der Selbständigkeit des Menschen, im Namen der endlichen menschlichen Vernunft.

„Die spekulative Philosophie“, schrieb Edgar Bauer, „begeht darin einen großen Fehler, dass sie von der Vernunft als von einer abstrakten, absoluten Macht spricht ... Die Vernunft ist nicht das Objektive, Abstrakte, gegen welches der Mensch das bloß Subjektive, Zufällige, Vergängliche ist: nein, der Mensch, sein Selbstbewusstsein ist das Herrschende, und die Vernunft ist nur eine Macht innerhalb dieses Selbstbewusstseins. Es gibt also keine absolute Vernunft, sondern nur eine sich ewig neu mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins gestaltende, keine seiende, sondern nur eine werdende.“ [A]

Also gibt es keine absolute Idee, keine abstrakte Vernunft, sondern es gibt nur das Selbstbewusstsein der Menschen, eine endliche, sich ewig ändernde menschliche Vernunft. Das ist unbedingt richtig; selbst Herr Michailowski würde das nicht bestreiten, der, wie wir schon wissen, alles mit mehr oder weniger zweifelhaftem Erfolg „bestreiten kann“. Doch sonderbar! Je stärker wir diesen richtigen Gedanken hervorheben, desto schwieriger wird unsere Lage. Bei den alten deutschen Idealisten wurde die Gesetzmäßigkeit jedes Vorgangs in der Natur und in der Geschichte mit der absoluten Idee verknüpft. Nun fragt es sich, womit wir wohl diese Gesetzmäßigkeit verknüpfen werden, nachdem wir ihre Trägerin, die absolute Idee, zerstört haben? Nehmen wir an, man könnte hinsichtlich der Natur eine befriedigende Antwort in wenigen Worten geben: Wir verknüpfen sie mit den Eigenschaften der Materie. Hinsichtlich der Geschichte ist die Sache aber längst nicht so einfach: als herrschende Kraft in der Geschichte erweist sich das menschliche Selbstbewusstsein, die sich ewig ändernde, endliche menschliche Vernunft. Besteht nun in der Entwicklung dieser Vernunft irgendeine Gesetzmäßigkeit? Edgar Bauer hätte diese Frage natürlich bejaht, da für ihn der Mensch und folglich auch seine Vernunft, wie wir gesehen haben, keineswegs etwas Zufälliges war. Wenn man aber den gleichen Bauer bitten würde, seine Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der menschlichen Vernunft zu erklären, wenn man ihn zum Beispiel gefragt hätte, warum sich die Vernunft in einer bestimmten Geschichtsepoche so, in einer anderen aber anders entwickelte, würde man von ihm, recht betrachtet, keine Antwort erhalten. Er würde uns gesagt haben, dass die „werdende Vernunft nun die Formen der Gesellschaft schafft“, dass „die historische Vernunft das Treibende in der Weltgeschichte ist“ und dass sich darum jede Gesellschaftsordnung als überlebt erweise, sobald die Vernunft nur einen neuen Schritt in ihrer Entwicklung tue. [B] Aber diese und ähnliche Versicherungen wären keine Beantwortung, sondern ein Herumschleichen um die Frage, warum die menschliche Vernunft neue Schritte in ihrer Entwicklung tue und warum sie diese Schritte in diese und nicht in jene Richtung lenke. Edgar Bauer, genötigt, sich mit dieser Frage zu befassen, würde sich mit inhaltslosen Hinweisen auf die Eigenschaften der endlichen, sich ewig ändernden menschlichen Vernunft herauszureden beeilen, so wie sich die alten Idealisten auf die Eigenschaften der absoluten Idee beriefen.

Die Vernunft für die bewegende Kraft der Weltgeschichte halten und ihre Entwicklung durch irgendwelche besondere, ihr selbst eigene Eigenschaften erklären, hieße sie in etwas Unbedingtes verwandeln oder, mit anderen Worten, jene absolute Idee, die man soeben als für ewig begraben bezeichnete, in neuer Form ins Leben rufen. Der Hauptmangel dieser auferstandenen absoluten Idee wäre der Umstand, dass sie mit dem absoluten Dualismus friedlich nebeneinander bestehen könnte, genauer gesagt, ihn sogar unbedingt voraussetzen würde. Da die Naturvorgänge nicht durch die endliche, sich ewig ändernde menschliche Vernunft bedingt werden, behalten wir zwei Kräfte übrig: in der Natur die Materie, in der Geschichte die menschliche Vernunft, und es gibt keine Brücke, die die Bewegung der Materie mit der Entwicklung der Vernunft, das Reich der Notwendigkeit mit dem Reich der Freiheit verbände. Darum sagten wir auch, dass die Ansichten Bauers mit einem höchst oberflächlichen, einseitigen, eklektischen Idealismus völlig durchsetzt sind.

„Die Ansichten regieren die Welt“, so sprachen die französischen Aufklärer. Ebenso sprachen, wie wir sehen, auch die Gebrüder Bauer, die sich gegen Hegels Idealismus erhoben hatten. Wenn aber die Ansichten die Welt regieren, so sind die Haupttriebkräfte der Geschichte jene Menschen, deren Denken die alten Ansichten kritisiert und neue schafft. So dachten die Gebrüder Bauer auch wirklich. Das Wesen des historischen Prozesses bestand für sie in einer Überarbeitung des vorhandenen Vorrats an Ansichten und der dadurch bedingten Formen des Gemeinschaftslebens durch den „kritischen Geist“. Diese Ansichten der Gebrüder Bauer wurden vom Verfasser der Historischen Briefe voll und ganz in die russische Literatur übernommen, nur dass er nicht mehr über den kritischen „Geist“ sprach, sondern über das kritische „Denken“, aus dem einfachen Grunde, weil der Sowremennik über den Geist zu sprechen verboten hatte.

Sobald der „kritisch denkende“ Mensch sich der erste Baumeister, der Schöpfer der Geschichte dünkt, erhebt er sich und seinesgleichen zu einer besonderen, höheren Spielart des menschlichen Geschlechts. Dieser höheren Spielart steht die Masse gegenüber, der das kritische Denken fremd ist und die sich deshalb nur für die Rolle des Tons in den schöpferischen Händen der „kritisch denkenden“ Persönlichkeiten eignet; den „Helden“ steht die „Menge“ gegenüber. So sehr der Held die Menge auch liebt, so sehr er von Mitgefühl für ihre ewigen Nöte, für ihre ständigen Leiden erfüllt ist, er kann nicht umhin, sie von oben herab anzusehen, er muss sich bewusst werden, dass es immer auf ihn, auf den Helden ankommt, während die Menge eine dem schöpferischen Element fremde Masse ist, so etwas wie eine ungeheure Anzahl von Nullen, die eine ersprießliche Bedeutung nur erhält, falls sich eine wohlwollende, „kritisch denkende“ Eins gnädig an ihre Spitze stellt. Der eklektische Idealismus der Gebrüder Bauer wurde zur Grundlage einer schrecklichen, man kann sogar sagen, abscheulichen Überheblichkeit der „kritisch denkenden“ deutschen „Intelligenz“ der vierziger Jahre, und gegenwärtig ruft er – durch Vermittlung seiner russischen Anhänger – das gleiche Übel unter der Intelligenz Russlands hervor. Ein erbarmungsloser Feind und Ankläger dieser Überheblichkeit war Marx, auf den wir jetzt auch zu sprechen kommen.

Marx sagte, dass die Gegenüberstellung von „kritisch denkenden“ Persönlichkeiten und der „Masse“ nichts anderes sei als eine Karikatur der Hegelschen Ansicht von der Geschichte – einer Ansicht, die ihrerseits nur die spekulative Folge der alten Lehre vom Gegensatz zwischen Geist und Materie ist. „Schon bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte [C] an der Masse sein Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie. Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewusstsein kommt. Auf dieses nachträgliche Bewusstsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewusst. [D] Der Philosoph kommt also post festum. [1]

Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen lässt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewusstsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewusstsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung. Herr Bruno [E] hebt Hegels Halbheit auf.

Einmal erklärt er die Kritik für den absoluten Geist und sich selbst für die Kritik. Wie das Element der Kritik aus der Masse verbannt ist, so ist das Element der Masse aus der Kritik verbannt. Die Kritik weiß sich daher nicht in einer Masse, sondern in einem geringen Häuflein auserwählter Männer, in Herrn Bauer und seinen Jüngern, ausschließlich inkarniert.

Herr Bruno hebt ferner die andere Halbheit Hegels auf, indem er nicht mehr wie der Hegelsche Geist post festum in der Phantasie die Geschichte macht, sondern mit Bewusstsein im Gegensatz zu der Masse der übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spielt, in ein gegenwärtiges dramatisches Verhältnis zu ihr tritt und die Geschichte mit Absicht und nach reiflicher Überlegung erfindet und vollzieht.

Auf der einen Seite steht die Masse als das passive, geistlose, geschichtslose, materielle Element der Geschichte; auf der andern Seite steht: der Geist, die Kritik, Herr Bruno & Comp, als das aktive Element, von welchem alle geschichtliche Handlung ausgeht. Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die Hirntätigkeit der „kritischen Kritik.“ [F]

Diese Zeilen rufen eine eigenartige Illusion hervor: Es scheint, als seien sie nicht vor fünfzig Jahren geschrieben, sondern vielleicht vor einem Monat, und seien nicht gegen deutsche linke Hegelianer, sondern gegen russische „subjektive“ Soziologen gerichtet. Die Illusion verstärkt sich noch mehr, wenn man folgenden Abschnitt aus einem Aufsatz von Engels liest:

„Die Kritik, die sich selbst genügt ... ‚ darf natürlich die Geschichte, wie sie wirklich passiert ist, nicht anerkennen, denn das hieße ja die schlechte Masse in ihrer ganz massenhaften Massenhaftigkeit anerkennen, während es sich doch gerade um die Erlösung der Masse von der Massenhaftigkeit handelt. Die Geschichte wird daher von ihrer Massenhaftigkeit befreit, und die Kritik, die sich frei gegen ihren Gegenstand verhält, ruft der Geschichte zu: Du sollst dich so und so zugetragen haben! Die Gesetze der Kritik haben alle rückwirkende Kraft; vor ihren Dekreten trug sich die Geschichte ganz anders zu, als sie sich nach denselben zugetragen hat. Daher weicht denn auch die massenhafte, sogenannte wirkliche Geschichte bedeutend ab von der kritischen ...“ [G]

Von wem ist in diesem Abschnitt die Rede? Von deutschen Schriftstellern der vierziger Jahre oder von einigen zeitgenössischen „Soziologen“, die sich großsprecherisch über das Thema auslassen, dass sich der Katholik den Gang der geschichtlichen Ereignisse auf diese Art vorstelle, der Protestant auf eine andere, der Monarchist auf eine dritte, der Republikaner auf eine vierte, und dass ein guter subjektiver Mensch darum für sich selbst, für seinen seelischen Gebrauch, eben die Geschichte nicht nur ausdenken dürfe, sondern auch ausdenken müsse, die dem besten aller Ideale entspreche? Hat Engels wirklich unsere russischen wichtigtuerischen Dummheiten voraussehen können? Keineswegs! Selbstverständlich hat er nicht einmal daran gedacht, und wenn seine Ironie nach einem halben Jahrhundert bei unseren subjektiven Denkern ins Schwarze trifft, so lässt sich das ganz einfach dadurch erklären, dass unser subjektiver Unsinn absolut nichts Originelles enthält: er ist nicht mehr als eine plumpe Kopie der Karikatur jenes „Hegelianertums“, das er so erfolglos bekämpft ...

Vom Standpunkt der „kritischen Kritik“ aus bestanden alle großen historischen Zusammenstöße in Zusammenstößen von Ideen. Marx bemerkt, dass die Ideen jedes Mal „missbraucht“ wurden, wenn sie nicht mit den realen, ökonomischen Interessen jener Gesellschaftsschicht übereinstimmten, die zu jener Zeit Träger des geschichtlichen Fortschritts war. Nur das Verstehen dieser Interessen kann den Schlüssel zum Verstehen des wirklichen Verlaufs der historischen Entwicklung liefern.

Wir wissen schon, dass auch die französischen Aufklärer vor den Interessen nicht die Augen verschlossen, dass auch sie dazu neigten, sie bei der Erklärung des bestehenden Zustands der Gesellschaft in Betracht zu ziehen. Bei ihnen erschien diese Ansicht von der entscheidenden Bedeutung der Interessen als bloße Modifikation ihrer „Formel“: Die Ansichten regieren die Welt. Bei ihnen ergab sich, dass auch die Interessen der Menschen von ihren Ansichten abhängen und sich selbst mit der Änderung der Ansichten verändern. Eine solche Deutung der Rolle der Interessen ist aber ein Triumph des Idealismus in seiner Anwendung auf die Geschichte. Sie lässt den deutschen dialektischen Idealismus weit hinter sich, dessen Gedanken zufolge bei den Menschen neue materielle Interessen jedes Mal entstehen, wenn es die absolute Idee für notwendig hält, einen neuen Schritt in ihrer logischen Entwicklung zu tun. Marx versteht die Bedeutung der materiellen Interessen ganz anders.

Der russische Durchschnittsleser hält Marx’ Geschichtstheorie für irgendeine gemeine Schmähschrift wider das Menschengeschlecht. Bei G. I. Uspenski – wenn wir uns nicht irren, in seinem Ruin – kommt eine alte Beamtenfrau vor, die selbst im Todesröcheln ihren niedrigen Lebensgrundsatz wiederholt: „In die Tasche, versucht mehr in die Tasche zu arbeiten!“ Die russischen Intellektuellen glauben nun naiverweise, Marx versuche diese niedrige Regel der ganzen Menschheit zuzuschreiben; er behaupte, dass die Menschenkinder – mögen sie sich befassen, womit sie wollen – immer, ausschließlich und bewusst „versuchen, mehr in die Tasche zu arbeiten“. Dem uneigennützigen russischen „Intelligenzler“ ist diese Ansicht natürlich ebenso „unsympathisch“, wie Darwins Theorie irgendeiner Titularrätin „unsympathisch“ ist, die da glaubt, der Sinn dieser ganzen Lehre bestehe letzten Endes darin, dass sie, eine ehrwürdige Beamtenfrau, nichts anderes sei als ein mit einem Häubchen geschmückter Affe. In Wirklichkeit verleumdet Marx die „Intelligenzler“ ebenso wenig wie Darwin die Titularrätin.

Um Marx historische Ansichten zu begreifen, muss man daran denken, zu welchen Ergebnissen die Philosophie und die gesellschaftshistorische Wissenschaft zu jener Zeit, die ihrem Entstehen unmittelbar voranging, gelangt waren. Die französischen Historiker der Restaurationsepoche waren, wie wir wissen, zu der Überzeugung gelangt, dass das „zivile Leben“, die „Eigentumsverhältnisse“, die Hauptgrundlage der ganzen Gesellschaftsordnung seien. Wir wissen auch, dass die idealistische deutsche Philosophie, vertreten durch Hegel, gleichfalls zu dieser Schlussfolgerung gelangt war, und zwar gegen ihren Willen, entgegen ihrem Geist, einfach infolge der Mangelhaftigkeit, der Unzulänglichkeit der idealistischen Geschichtserklärung. Marx, der sich alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Kenntnisse und des philosophischen Denkens seiner Zeit zu Eigen gemacht hatte, stimmt hinsichtlich der erwähnten Schlussfolgerung mit den französischen Historikern und mit Hegel völlig überein. Ich habe mich überzeugt, sagt er,

„dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft’ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“. [aa]

Wovon hängt aber die Ökonomie einer Gesellschaft ab? Weder die französischen Historiker noch die utopischen Sozialisten, noch Hegel konnten darauf irgend befriedigend antworten. Sie beriefen sich alle, direkt oder indirekt, auf die menschliche Natur. Marx’ großes wissenschaftliches Verdienst besteht darin, dass er die Frage von der diametral entgegen gesetzten Seite nahm, dass er die Natur des Menschen selbst als ein sich ewig änderndes Ergebnis der historischen Bewegung betrachtete, deren Ursprung außerhalb des Menschen liegt. Um zu existieren, muss der Mensch seinen Organismus unterhalten, indem er die für ihn notwendigen Stoffe der ihn umgebenden äußeren Natur entnimmt. Diese Entnahme setzt eine gewisse Einwirkung des Menschen auf diese äußere Natur voraus. Doch indem er „auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur“. [bb] In diesen wenigen Worten ist der Kern der ganzen Marxschen Geschichtstheorie enthalten, obwohl sie, für sich genommen, natürlich keinen klaren Begriff von dieser Theorie vermitteln und einer Erläuterung bedürfen.

Franklin nannte den Menschen ein „Tier, das Werkzeuge herstellt“. Der Gebrauch und die Produktion von Werkzeugen ist tatsächlich das Charakteristikum des Menschen. Darwin bestreitet die Ansicht, der Mensch allein sei imstande, Werkzeuge zu benutzen; er führt viele Beispiele an, die zeigen, dass der Gebrauch von Werkzeugen vielen Säugetieren in unausgebildeter Form eigen ist. Und er ist natürlich, von seinem Standpunkt aus gesehen, durchaus im Recht, das heißt in dem Sinne, dass es in der berüchtigten „Natur des Menschen“ keinen einzigen Zug gibt, der nicht bei dieser oder jener Tierart vorhanden wäre, und dass darum nicht der geringste Grund besteht, den Menschen als ein besonderes Wesen anzusehen, ihn als ein besonderes „Reich“ abzutrennen. Man darf aber nicht vergessen, dass Quantitätsunterschiede in Qualitätsunterschiede übergehen. Was bei einer Tierart im Keime vorhanden ist, kann bei einer anderen Tierart zum kennzeichnenden Merkmal werden. Das bezieht sich besonders auf den Gebrauch von Werkzeugen. Der Elefant bricht Zweige ab und benutzt sie, um Fliegen zu vertreiben. Das ist interessant und lehrreich. Aber in der Entwicklungsgeschichte der Art „Elefant“ hat der Gebrauch von Zweigen im Kampf gegen Fliegen wahrscheinlich keine wesentliche Rolle gespielt: die Elefanten sind nicht zu Elefanten geworden, weil ihre mehr oder weniger elefantenähnlichen Vorfahren sich mit Zweigen bewedelten. Nicht so beim Menschen. [H]

Die ganze Existenz des australischen Wilden hängt von seinem Bumerang ab, wie die gesamte Existenz des modernen Englands von seinen Maschinen abhängt. Nehmen Sie dem Australier seinen Bumerang, machen Sie ihn zum Ackerbauern, und er wird notwendigerweise seine ganze Lebensart, alle seine Gewohnheiten, seine ganze Denkart, seine ganze „Natur“ ändern.

Wir sagten: Machen Sie ihn zum Ackerbauern. An diesem Beispiel des Ackerbaus sieht man deutlich, dass der Prozess der produktiven Einwirkung des Menschen auf die Natur nicht nur Arbeitswerkzeuge voraussetzt. Die Arbeitswerkzeuge sind nur ein Teil der zum Produzieren notwendigen Mittel. Darum wäre es richtiger, nicht von der Entwicklung der Arbeitswerkzeuge, sondern überhaupt von der Entwicklung der Produktionsmittel, der Produktivkräfte zu sprechen, obgleich es außer jedem Zweifel steht, dass die wichtigste Rolle in dieser Entwicklung gerade den Arbeitswerkzeugen zukommt oder zumindestens bis jetzt (bis zum Aufkommen wichtiger chemischer Produkte) zukam.

In den Arbeitswerkzeugen erwirbt der Mensch gleichsam neue Organe, die seinen anatomischen Bau verändern. Von der Zeit an, da er sich zu ihrer Benutzung erhoben hatte, erhielt seine Entwicklungsgeschichte eine völlig neue Form: Früher bestand sie, wie bei allen übrigen Tieren, in Abwandlungen seiner natürlichen Organe; jetzt wurde sie vor allem zur Geschichte der Vervollkommnung seiner künstlichen Organe, des Wachstums seiner Produktivkräfte.

Der Mensch – das Tier, das Werkzeuge herstellt – ist zugleich auch ein gesellschaftliches Tier, das von Ahnen abstammt, die im Verlauf vieler Generationen in mehr oder weniger großen Horden gelebt haben. Uns ist es hier nicht wichtig, zu ermitteln, warum unsere Ahnen Horden bildeten – das müssen die Zoologen klären und tun es auch –, aber vom Standpunkt der Geschichtsphilosophie ist es höchst wichtig zu vermerken, dass sich von der Zeit an, da die künstlichen Organe des Menschen eine entscheidende Rolle in seiner Existenz zu spielen begannen, sein gesellschaftliches Leben selber in Abhängigkeit vom Entwicklungsprozess seiner Produktivkräfte abzuwandeln begann.

In der Produktion wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt.“ [I]

Die künstlichen Organe, die Arbeitswerkzeuge, erweisen sich somit nicht so sehr als Organe des individuellen, denn des gesellschaftlichen Menschen. Darum führt jede ihrer wesentlichen Veränderungen zu Veränderungen der gesellschaftlichen Einrichtungen.

„Je nach dem Charakter der Produktionsmittel werden natürlich diese gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Produzenten zueinander treten, die Bedingungen, unter welchen sie ihre Tätigkeiten austauschen und an dem Gesamtakt der Produktion teilnehmen, verschieden sein. Mit der Erfindung eines neuen Kriegsinstruments, des Feuergewehrs, änderte sich notwendig die ganze innere Organisation der Armee, verwandelten sich die Verhältnisse, innerhalb deren Individuen eine Armee bilden und als Armee wirken können, änderte sich auch das Verhältnis verschiedener Armeen zueinander.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Individuen produzieren, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ändern sich also, verwandeln sich mit der Veränderung und Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter. Die antike Gesellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamtheiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondere Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet.“ [J]

Es ist überflüssig hinzuzufügen, dass auch die früheren Stufen der menschlichen Entwicklung nicht weniger eigenartige Gesamtheiten von Produktionsverhältnissen sind. Ebenso überflüssig ist es, hinzuzufügen, dass der Stand der Produktivkräfte auch auf diesen früheren Stufen entscheidenden Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen ausübte.

Hier müssen wir haltmachen, um einige, auf den ersten Blick recht gewichtige, Einwände zu betrachten.

Der erste besteht in folgendem.

Niemand bestreite die wichtige Bedeutung der Arbeitswerkzeuge, die große Rolle der Produktivkräfte in der historischen Entwicklung der Menschheit, wird den Marxisten häufig gesagt, aber die Arbeitswerkzeuge seien doch von Menschen erfunden und angewendet worden. Die Marxisten erkennten selber an, dass ihr Gebrauch eine vergleichsweise sehr hohe Stufe der geistigen Entwicklung voraussetze. Jeder neue Schritt in der Vervollkommnung der Arbeitswerkzeuge erfordere neue Leistungen des menschlichen Verstandes. Die Kraft des Verstandes sei die Ursache, die Entwicklung der Produktivkräfte die Wirkung. Das bedeute, der Verstand sei die Haupttriebkraft des geschichtlichen Fortschritts, das bedeute, recht hatten die, die behaupteten, dass die Welt von den Ansichten regiert werde, dass nämlich der menschliche Verstand sie regiere.

Nichts natürlicher als diese Bemerkung, was sie jedoch nicht hindert, unbegründet zu sein.

Zweifellos setzt der Gebrauch von Arbeitswerkzeugen eine hohe Entwicklung des Verstandes beim Tiermenschen voraus. Sehen Sie sich aber an, aus welchen Ursachen die moderne Naturwissenschaft diese Entwicklung erklärt:

„Der Mensch hätte seine jetzige herrschende Stellung in der Welt nicht ohne den Gebrauch seiner Hände erreichen können, welche so wunderbar geeignet sind, seinem Willen folgend, tätig zu sein“, sagt Darwin. [K]

Dieser Gedanke ist nicht neu; er wurde schon von Helvétius ausgesprochen. Aber Helvétius, der nicht fest auf dem Standpunkt der Entwicklung zu stehen vermochte, verstand seinem eigenen Gedanken keine einigermaßen wahrscheinliche Form zu verleihen. Darwin setzte zu dessen Verteidigung ein ganzes Arsenal von Argumenten ein, und diese sind – obwohl alle nur hypothetischen Charakters – in ihrer Gesamtheit recht überzeugend. Was sagt Darwin? Woher kamen beim Quasi-Menschen seine jetzigen, völlig menschlichen Hände, die einen so bemerkenswerten Einfluss auf die Erfolge seines „Verstandes“ hatten? Wahrscheinlich entstanden sie infolge einiger Eigenarten des geographischen Milieus, die eine physiologische Arbeitsteilung zwischen den vorderen und hinteren Extremitäten als nützlich erscheinen ließen. Die Erfolge des „Verstandes“ waren eine entfernte Wirkung dieser Arbeitsteilung und wurden, wiederum unter günstigen äußeren Bedingungen, ihrerseits zur nächsten Ursache des Entstehens künstlicher Organe beim Menschen, des Gebrauchs von Werkzeugen. Diese neuen künstlichen Organe leisteten seiner geistigen Entwicklung neue Dienste, und die Erfolge des „Verstandes“ wirkten wieder auf die Organe ein. Wir haben hier einen langen Prozess vor uns, in dem Ursache und Wirkung ständig wechseln. Es wäre aber falsch, diesen Vorgang vom Standpunkt einer einfachen Wechselwirkung zu betrachten. Damit der Mensch die bereits erzielten Erfolge seines „Verstandes“ zur Vervollkommnung seiner künstlichen Werkzeuge, das heißt zur Vergrößerung seiner Herrschaft über die Natur, ausnutzen konnte, musste er sich in einem bestimmten geographischen Milieu befinden, das ihm 1. das zur Vervollkommnung notwendige Material, 2. die Gegenstände, deren Bearbeitung die Vervollkommnung der Werkzeuge voraussetzte, zu liefern vermochte. Wo es keine Metalle gab, konnte der eigene Verstand den gesellschaftlichen Menschen unter keinen Umständen über die Grenzen „der Periode des bearbeiteten Steins“ hinausführen; genauso war zum Übergang zum Hirten- und Ackerbauerleben eine Tier- und Pflanzenwelt notwendig, ohne deren Vorhandensein „der Verstand unbeweglich geblieben wäre“. Aber auch das ist nicht alles. Die geistige Entwicklung primitiver Gesellschaften musste sich um so schneller vollziehen, je mehr gegenseitige Verbindungen sie miteinander hatten; diese Verbindungen aber waren um so enger, je mannigfaltiger die geographischen Verhältnisse in den Landschaften waren, die sie besiedelten, das heißt also, je stärker sich die in der einen Landschaft hergestellten Produkte von den in der anderen Landschaft hergestellten unterschieden. [L] Schließlich ist jedermann bekannt, wie wichtig in dieser Beziehung die natürlichen Verkehrswege sind; bereits Hegel sagte, dass Gebirge die Menschen trennen, Flüsse und Meere sie aber verbinden. [M]

Das geographische Milieu übt einen nicht weniger entscheidenden Einfluss auch auf das Geschick größerer Gesellschaften, auf das Geschick von Staaten aus, die auf den Trümmern primitiver Gentilorganisationen entstanden sind.

„Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des Bodens, sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Vermannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen spornt. Die Notwendigkeit, eine Naturkraft gesellschaftlich zu kontrollieren, damit hauszuhalten, sie durch Werke von Menschenhand auf großem Maßstab erst anzueignen oder zu zähmen, spielt die entscheidendste Rolle in der Geschichte der Industrie. So z. B. die Wasserreglung in Ägypten, Lombardei, Holland usw. Oder in Indien, Persien usw., wo die Überrieselung durch künstliche Kanäle dem Boden nicht nur das unentbehrliche Wasser, sondern mit dessen Geschlämme zugleich den Mineraldünger von den Bergen zuführt. Das Geheimnis der Industrieblüte von Spanien und Sizilien unter arabischer Herrschaft war die Kanalisation.“ [N]

Somit konnten sich unsere anthropomorphen Ahnen nur infolge gewisser Eigenarten des geographischen Milieus auf jene Höhe der geistigen Entwicklung erheben, die zu ihrer Verwandlung in toolmaking animals notwendig war. Genauso konnten nur gewisse Eigenarten des gleichen Milieus der Verwendung und ständigen Vervollkommnung dieser neuen Fähigkeit, „Werkzeuge herzustellen“, den erforderlichen Raum bieten. [2] Im historischen Entwicklungsprozess der Produktivkräfte muss man die Fähigkeit des Menschen, „Werkzeuge herzustellen“, vor allem als konstante Größe, die äußeren Bedingungen der Verwendung dieser Fähigkeit in der Praxis aber als eine sich ständig verändernde Größe ansehen. [O]

Die Verschiedenheit der von verschiedenen menschlichen Gesellschaften erreichten Ergebnisse (Stufen der kulturellen Entwicklung) erklärt sich gerade dadurch, dass die Umweltbedingungen den verschiedenen menschlichen Stämmen nicht erlaubt haben, ihre „Erfinder“gabe in gleichem Masse in Anwendung zu bringen. Es gibt eine Anthropologenschule, die die Verschiedenheit dieser Ergebnisse mit den unterschiedlichen Eigenschaften menschlicher Rassen verknüpft. Die Ansichten dieser Schule halten jedoch der Kritik nicht stand; sie sind nur eine neue Variante der alten Art, historische Erscheinungen durch Hinweise auf die „menschliche Natur“ (das heißt hier auf die Natur der Rasse) zu erklären, die sich ihrer wissenschaftlichen Tiefe nach nicht weit von den Ansichten des Molièreschen Arztes entfernt, der tiefsinnig erklärte: Opium schläfert ein, weil es die Eigenschaft hat, einzuschläfern (eine Rasse ist rückständig, weil sie die Eigenschaft hat, zurückzubleiben).

Indem der Mensch auf die Natur außer ihm wirkt, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt alle seine Fähigkeiten, darunter auch die Fähigkeit, „Werkzeuge herzustellen“. Aber in jedem bestimmten Augenblick wird das Ausmaß dieser Fähigkeit durch die bereits erreichte Entwicklung der Produktivkräfte bedingt.

Sobald ein Arbeitswerkzeug zum Gegenstand der Produktion wird, hängt selbst die Möglichkeit seiner Herstellung, wie auch seine größere oder geringere Vollkommenheit, ganz und gar von den Arbeitswerkzeugen ab, mit deren Hilfe es angefertigt wird. Das ist jedermann auch ohne Erklärung verständlich. Aber folgendes zum Beispiel erscheint auf den ersten Blick völlig unerklärlich: Als Plutarch die Erfindungen erwähnt, die Archimedes während der Belagerung von Syrakus gemacht hat, hält er es für notwendig, den Erfinder zu entschuldigen; es schicke sich für einen Philosophen natürlich nicht, sich mit derartigen Dingen zu befassen, überlegt er, aber die äußerste Gefahr, in der sein Vaterland schwebte, rechtfertige Archimedes. Nun, fragen wir, wem würde es heute einfallen, nach Umständen zu suchen, die Edisons Schuld mildern könnten? Wir halten es jetzt nicht mehr für eine Schande – ganz im Gegenteil! –, wenn ein Mensch seine Fähigkeiten für technische Erfindungen verwertet, während die Griechen (oder wenn Sie wollen, die Römer), wie Sie sehen, darüber anderer Ansicht waren. Deshalb musste sich der Prozess technischer Entdeckungen und Erfindungen bei ihnen unvergleichlich langsamer vollziehen als bei uns – und hat sich ja tatsächlich so vollzogen. Hier sieht es wieder ganz danach aus, als ob die Ansichten die Welt regierten. Woher hatten aber die Griechen diese so sonderbare „Ansicht“? Ihr Ursprung darf nicht aus den Eigenschaften des menschlichen „Verstandes“ erklärt werden. Es bleibt übrig, sich ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse zu erinnern. Die griechische und die römische Gesellschaft waren bekanntlich Gesellschaften von Sklavenhaltern. In diesen Gesellschaften fällt die ganze körperliche Arbeit, die ganze Produktion den Sklaven zu. Der freie Mann schämt sich einer solchen Arbeit, und so entsteht ganz natürlich eine verächtliche Einstellung selbst gegen die wichtigsten Erfindungen, die den Produktionsprozess betreffen, darunter gegen Erfindungen auf dem Gebiet der Mechanik. Deshalb sah Plutarch Archimedes anders an, als wir heute Edison ansehen. [P] Warum entstand aber in Griechenland die Sklaverei? Vielleicht deshalb, weil die Griechen infolge einiger Fehler ihres „Verstandes“ die Sklavenhalterordnung für die beste hielten? Nein, nicht aus diesem Grunde. Es gab eine Zeit, da es auch bei den Griechen keine Sklaverei gegeben hatte, und damals hatten sie die Gesellschaftsordnung der Sklavenhalter keineswegs für natürlich und unumgänglich gehalten. Dann entstand bei den Griechen die Sklaverei und begann in ihrem Leben eine immer größere Rolle zu spielen. Damals änderten sich auch die Ansichten der griechischen Bürger über die Sklaverei; sie begannen diese als eine durchaus natürliche und unbedingt notwendige Einrichtung zu verteidigen. Weshalb aber entstand und entwickelte sich die Sklaverei bei den Griechen? Wahrscheinlich doch aus der gleichen Ursache, aus der sie auch in anderen Ländern auf einer gewissen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung entstand und wuchs. Diese Ursache aber ist bekannt: Es ist der Stand der Produktivkräfte. Tatsächlich, damit es vorteilhafter für mich sei, den besiegten Gegner zum Sklaven zu machen, statt ihn zu braten, ist es notwendig, dass durch die Produkte seiner Zwangsarbeit nicht nur sein eigener, sondern zumindest teilweise auch mein Unterhalt bestritten werden könne; mit anderen Worten, es ist eine gewisse Entwicklungsstufe der zu meiner Verfügung stehenden Produktivkräfte erforderlich. Gerade durch diese Tür dringt auch die Sklaverei in die Geschichte ein. Sklavenarbeit begünstigt die Entwicklung der Produktivkräfte nur wenig; sie geht hier äußerst langsam vor sich; immerhin geht sie voran, und schließlich tritt der Augenblick ein, in dem die Ausbeutung von Sklavenarbeit weniger vorteilhaft wird als die Ausbeutung von freier Arbeit. Dann wird die Sklaverei abgeschafft oder stirbt allmählich ab. Die gleiche Entwicklung der Produktivkräfte, die sie in die Geschichte eingeführt hat, weist ihr jetzt die Tür. [Q] So sehen wir, um zu Plutarch zurückzukehren, dass seine Ansicht über Archimedes’ Erfindungen durch den Stand der Produktivkräfte seiner Zeit bestimmt war. Da aber Ansichten dieser Art zweifellos den größten Einfluss auf den weiteren Verlauf von Entdeckungen und Erfindungen ausüben, können wir desto bestimmter sagen, dass bei jedem Volk, in jeder Periode seiner Geschichte, die Weiterentwicklung seiner Produktivkräfte durch ihren Stand in der betrachteten Periode bestimmt wird.

Es versteht sich von selbst, dass wir überall, wo es um Entdeckungen und Erfindungen geht, auch mit dem „Verstand“ zu tun haben. Ohne Verstand wären Entdeckungen und Erfindungen ebenso unmöglich, wie sie es vor dem Erscheinen des Menschen auf der Erde waren. Keineswegs leugnet die von uns dargestellte Lehre die Rolle des Verstandes; sie bemüht sich nur zu erklären, warum der Verstand in jedem Augenblick so und nicht anders handelte; sie verwirft die Erfolge des Verstandes nicht, sondern will nur ausreichende Ursachen für sie finden.

Dieser Lehre begann man in letzter Zeit häufig eine andere Erwiderung entgegenzuhalten, die wir Herrn Karejew zu formulieren überlassen:

„Mit der Zeit“, sagt dieser Schriftsteller, nachdem er mit Ach und Krach Engels’ Geschichtsphilosophie dargestellt hat, „ergänzte Engels seine Ansicht durch neue Überlegungen, die eine wesentliche Veränderung in sie hinein trugen Wenn er früher nur die Untersuchung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft für die Grundlage einer materiellen Auffassung von der Geschichte anerkannte, gab er später zu, dass der Erforschung der Familienformen eine gleichwertige Bedeutung zukomme, was unter dem Einfluss neuer Vorstellungen über die Urformen der Ehe und Familie geschah, die ihn veranlassten, nicht nur den Produktionsprozess von Produkten, sondern auch den Reproduktionsprozess der menschlichen Generationen in Betracht zu ziehen. In dieser Hinsicht ging der Einfluss von Morgans ‚Urgesellschaft‘ aus“ [R] usw.

Wenn Engels also früher „die Untersuchung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft für die Grundlage einer materiellen (?) Auffassung von der Geschichte anerkannte“, so hörte er später, nachdem er die „gleichwertige Bedeutung“ usw. zugab, eigentlich auf, ein „ökonomischer“ Materialist zu sein.

Herr Karejew trägt diesen Vorfall im Ton eines unvoreingenommenen Historikers vor, Herr Michailowski aber „hüpft und jubelt“ aus diesem Anlass, letzten Endes aber sagen beide das gleiche und wiederholen, was vor ihnen ein äußerst oberflächlicher deutscher Autor namens Weisengrün in seinem Buch „Die Entwicklungsgesetze der Menschheit“ gesagt hat.

Es ist durchaus natürlich, dass ein so hervorragender Mann wie Engels, der die wissenschaftliche Bewegung seiner Zeit über ganze Jahrzehnte hin aufmerksam verfolgte, seine grundsätzliche Anschauung von der Geschichte der Menschheit wesentlich „ergänzte“. Es gibt aber Ergänzungen und Ergänzungen, wie es „fagot et fagot“ [3] gibt. In diesem Fall dreht es sich darum, ob sich Engels’ Ansichten durch die in sie hinein getragenen „Ergänzungen“ verändert haben; war er tatsächlich gezwungen, neben der Entwicklung der „Produktion“ die Wirkung eines anderen, ihr angeblich „gleichwertigen“ Faktors anzuerkennen? Diese Frage kann jeder leicht beantworten, wenn er nur ein bisschen Lust hat, aufmerksam und ernst an sie heranzutreten.

Die Elefanten vertreiben die Fliegen manchmal mit Hilfe von Zweigen, sagt Darwin. Wir bemerkten aus diesem Anlass, dass die Zweige, ungeachtet dessen, keine wesentliche Rolle im Leben der Elefanten spielen, dass der Elefant nicht zum Elefanten wurde, weil er Zweige gebrauchte. Doch der Elefant vermehrt sich. Der Elefantenbulle hat ein bestimmtes Verhältnis zum Weibchen. Elefantenbulle und -kuh haben ein bestimmtes Verhältnis zu den Jungen. Es ist klar, dass diese Verhältnisse nicht durch die „Zweige“ geschaffen wurden; sie sind durch die allgemeinen Lebensbedingungen dieser Art geschaffen worden, wobei die Rolle der „Zweige“ so unendlich klein ist, dass sie ohne den geringsten Fehler gleich Null gesetzt werden kann. Aber stellen Sie sich vor, der Zweig beginne im Leben des Elefanten in dem Sinne eine immer größere Rolle zu spielen, dass er in immer steigendem Maße jene allgemeinen Verhältnisse, von denen alle Gewohnheiten des Elefanten abhängen, und schließlich seine Existenz selbst beeinflusst. Stellen Sie sich vor, der Zweig habe schließlich entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse erlangt – dann muss anerkannt werden, dass durch ihn letzten Endes auch das Verhältnis des Elefanten zum Weibchen und zu den Jungen bestimmt wird. Dann wird man zugeben müssen, es habe einmal eine Zeit gegeben, da sich die „Familien“formen des Elefanten (in Bezug auf den Zweig) selbständig entwickelten, später sei aber eine Zeit gekommen, da sie durch den „Zweig“ bedingt wurden. Wäre diese Anerkennung in irgendeiner Hinsicht sonderbar? In keiner Hinsicht, bis auf die Eigenart der eigentlichen Hypothese über die unerwartet entscheidende Rolle des Zweiges im Leben des Elefanten. Wir wissen selbst, dass diese Hypothese in Bezug auf den Elefanten nicht anders als sonderbar erscheinen kann; bei der Anwendung auf die Geschichte des Menschen liegt die Sache aber anders.

Der Mensch hat sich nur allmählich vom Tierreich gesondert. Es gab eine Zeit, da die Werkzeuge im Leben unserer menschenähnlichen Vorfahren eine ebenso unbedeutende Rolle spielten, wie es der Zweig im Leben des Elefanten tut. Während dieser sehr langen Zeit wurde das Verhältnis der menschenähnlichen Männchen zu den menschenähnlichen Weibchen und auch das Verhältnis beider zu ihren menschenähnlichen Jungen durch die allgemeinen Lebensbedingungen dieser Art bestimmt, die in keinerlei Beziehung zu den Arbeitswerkzeugen standen. Wovon hingen die „Familien“formen unserer Vorfahren ab? Das müssen die Naturforscher erklären. Der Historiker hat hier zunächst nichts zu tun. Nun beginnen aber die Arbeitswerkzeuge eine immer größere Rolle im Leben des Menschen zu spielen, die Produktivkräfte entwickeln sich immer mehr, und schließlich kommt der Augenblick, da sie einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausüben, das heißt unter anderen auch der Familienformen. Hier beginnt schon die Arbeit des Historikers; er muss zeigen, wie und weshalb sich die Familienverhältnisse unserer Vorfahren im Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer Produktivkräfte veränderten, wie sich die Familie je nach den ökonomischen

Verhältnissen entwickelte. Verständlicherweise wird er sich aber, wenn er diese Erklärung in Angriff nimmt, bei der Erforschung der primitiven Familie nicht mit der Ökonomie allein begnügen können; vermehrten sich die Menschen doch auch, bevor die Arbeitswerkzeuge eine entscheidende Bedeutung im menschlichen Leben erhielten; bestanden doch auch vor dieser Zeit irgendwelche Familienverhältnisse, die durch die allgemeinen Lebensumstände des homo sapiens [4] bedingt waren. Was hat dann der Historiker hier eigentlich zu tun? Er wird darüber erstens beim Naturforscher gleichsam ein Verzeichnis anfordern, an Hand dessen ihm die weitere Erforschung der Entwicklung des Menschen übertragen wird; zweitens wird er dieses Verzeichnis „aus eigenen Mitteln“ ergänzen. Mit anderen Worten, er wird die „Familie“ nehmen müssen, wie sie in der, sagen wir, zoologischen Entwicklungsepoche der Menschheit entstanden war, und danach zu zeigen haben, welche Veränderungen während der historischen Epoche unter dem Einfluss der Entwicklung der Produktivkräfte, infolge der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse in sie hineingetragen wurden. Gerade das und nur das sagt Engels. Und wir fragen nun: Ändert er, wenn er das sagt, auch nur im geringsten seine „ursprüngliche“ Ansicht von der Bedeutung der Produktivkräfte für die Geschichte der Menschheit? Nimmt er, neben der Wirkung dieses Faktors, die Wirkung irgendeines anderen, ihm „gleichwertigen“ Faktors an? Offenbar ändert er nichts, offenbar nimmt er nichts Derartiges an. Wenn es aber so steht, warum reden die Herren Weisengrün und Karejew über eine Änderung seiner Ansichten, warum hüpft und jubelt Herr Michailowski? Vermutlich aus Gründen des eigenen Leichtsinns.

„Es ist doch aber sonderbar, die Geschichte der Familie auf die Geschichte der ökonomischen Verhältnisse zurückzuführen, wenn auch nur für jene Zeit, die ihr als historische Periode bezeichnet“, rufen unsere Gegner im Chor. Vielleicht ist es sonderbar, vielleicht auch nicht; darüber lässt sich streiten, antworten wir mit den Worten des Herrn Michailowski. Wir sind auch gern bereit, mit Ihnen zu diskutieren, meine Herren, jedoch nur unter einer Bedingung: Benehmen Sie sich während der Diskussion sittsam, denken Sie sich in den Sinn unserer Worte sorgfältig hinein, schreiben Sie uns nicht Ihre eigenen Erfindungen zu, und beeilen Sie sich nicht, Widersprüche bei uns festzustellen, die weder wir noch unsere Lehrer jemals hatten oder heute aufzuweisen haben. Einverstanden? Sehr gut, dann los mit dem Streit.

Man darf die Geschichte der Familie nicht aus den ökonomischen Verhältnissen erklären, sagen Sie, das sei engstirnig, einseitig, unwissenschaftlich. Wir behaupten das Gegenteil und wenden uns den Fachwissenschaftlern zu.

Sie kennen doch das bekannte Werk von Giraud-Teulon: «Les origines de la famille»? Wir schlagen dieses Ihnen bekannte Buch auf und finden zum Beispiel folgende Stelle:

„Die Ursachen, die zur Entstehung getrennter Familiengruppen innerhalb des primitiven Stammes“ (Giraud-Teulon sagt eigentlich: innerhalb der Horde – de la horde) „führen, sind offenbar mit dem wachsenden Reichtum dieses Stammes verbunden. Die Nutzbarmachung oder Entdeckung irgendeiner Getreidepflanze, die Zähmung oder Kreuzung einer neuen Tierart konnten zu grundlegenden Umgestaltungen in einer wilden Gesellschaft ausreichen; alle großen Errungenschaften der Zivilisation fielen stets mit tiefen Veränderungen im ökonomischen Leben der Menschen zusammen“ (S. 138). [S]

Einige Seiten weiter:

„Der Übergang vom System des Matriarchats zum System des Patriarchats scheint insbesondere durch einen Konflikt juristischer Natur auf dem Gebiet des Eigentumsrechts gekennzeichnet zu sein“ (S. 141).

Noch weiter:

„Die Organisation der patriarchalischen Familie wurde – so scheint es mir – fast überall durch die Wirkung einer ebenso einfachen wie elementaren Kraft erzwungen ... durch die Wirkung des Eigentumsrechts“ (S. 146).

Es ist Ihnen doch wohl bekannt, welche Bedeutung MacLennan der Tötung von Kindern weiblichen Geschlechts in der Geschichte der primitiven Familie zuschrieb? Bekanntlich beurteilt Engels die Untersuchungen MacLennans äußerst negativ; desto interessanter ist es für uns, in diesem Falle die Ansicht des letzteren über die Ursachen kennenzulernen, aus denen heraus die Kindestötung entstand, die angeblich einen so entscheidenden Einfluss auf die Geschichte der Familie ausübte:

„Für Stämme, die von Feinden umgeben sind und bei schwacher Entwicklung der Technik ihre Existenz nur mit Mühe behaupten, sind Söhne eine Quelle der Stärke, sowohl im Sinne der Verteidigung als auch im Sinne der Nahrungsbeschaffung, Töchter aber eine Quelle der Schwäche.“ [T]

Was hat nun, nach MacLennans Ansicht, die Tötung von Kindern weiblichen Geschlechts bei primitiven Stämmen hervorgerufen? Der Mangel an Existenzmitteln, die Schwäche der Produktivkräfte; denn hätten diese Stämme genug Nahrung gehabt, würden sie wohl kaum ihre Mädchen aus Angst, dass einmal Feinde kommen und sie vielleicht morden oder rauben könnten, totgeschlagen haben.

Wir wiederholen, Engels teilt MacLennans Ansicht von der Geschichte der Familie nicht, und auch uns scheint sie wenig befriedigend zu sein; wichtig ist für uns aber hier, dass MacLennan das gleiche Laster besitzt, das Engels vorgehalten wird: Auch er sucht im Stand der Produktivkräfte die Lösung für die Geschichte der Familienformen.

Sollen wir unsere Auszüge fortsetzen und Lippert und Morgan zitieren? Wir halten es nicht für notwendig; wer sie gelesen hat, weiß, dass sie in dieser Hinsicht dem gleichen Laster frönen wie MacLennan oder Engels. Auch Spencer, dessen soziologische Anschauungen mit dem „ökonomischen Materialismus“ nichts gemein haben, ist bekanntlich mit dem gleichen Fehler behaftet.

Diesen letzten Umstand könnte man natürlich für polemische Zwecke benutzen und sagen: Nun also, da haben Sie’s! Man kann also mit Marx und Engels in dieser oder jener Einzelfrage übereinstimmen, ohne ihre ganze historische Theorie zu bejahen! Natürlich kann man das. Die Frage ist nur, auf wessen Seite hier die Logik steht. Gehen wir weiter.

Die Entwicklung der Familie wird durch die Entwicklung des Eigentumsrechts bestimmt, sagt Giraud-Teulon und fügt hinzu, dass überhaupt alle Errungenschaften der Zivilisation mit Veränderungen im ökonomischen Leben der Menschheit zusammenfallen. Der Leser wird wahrscheinlich selber bemerkt haben, dass Giraud-Teulon eine nicht ganz exakte Terminologie benutzt: bei ihm wird der Begriff „Eigentumsrecht“ von dem Begriff „ökonomisches Leben“ sozusagen zugedeckt. Doch Recht ist Recht und Ökonomie ist Ökonomie, und es ist unzulässig, diese beiden Begriffe zu vermischen. Woher kam das Eigentumsrecht? Vielleicht entstand es unter dem Einfluss der Ökonomie der jeweiligen Gesellschaft (das bürgerliche Recht dient stets nur als Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse, sagt Lassalle), oder vielleicht verdankt es seine Herkunft einer völlig anderen Ursache. Hier muss die Analyse fortgesetzt und nicht gerade in jenem Augenblick, da sie besonders tiefgründig und von lebendigstem Interesse wird, abgebrochen werden.

Wir haben bereits gesehen, dass die französischen Historiker der Restaurationsepoche auf die Frage der Herkunft des Eigentumsrechts keine befriedigende Antwort fanden. Herr Karejew behandelt in seinem Aufsatz Der ökonomische Materialismus in der Geschichte die deutsche historische Rechtsschule. Es schadet nichts, wenn auch wir uns die Ansichten dieser Schule ins Gedächtnis zurückrufen.

Unser Professor sagt darüber folgendes:

„Als zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland die sogenannte ‚historische Rechtsschule‘ entstand, die damit begann, das Recht nicht als ein unbewegliches System juristischer Normen anzusehen, wie es den früheren Juristen erschienen war, sondern als etwas Bewegliches, Veränderliches, sich Entwickelndes, offenbarte sich in dieser Schule eine starke Tendenz, die historische Ansicht vom Recht als die einzig und ausschließlich richtige allen anderen auf diesem Gebiet möglichen Standpunkten entgegenzustellen; die historische Ansicht ließ nie die Existenz von auf alle Zeiten anwendbaren wissenschaftlichen Wahrheiten zu – das heißt die Existenz dessen, was in der Sprache der neuen Wissenschaft die Bezeichnung allgemeingültige Gesetze trägt – und leugnete sogar direkt solche Gesetze, mit ihnen zusammen aber eine allgemeine Theorie des Rechts, und das im Namen einer Idee der Abhängigkeit des Rechts von örtlichen Bedingungen – einer Abhängigkeit, die natürlich überall und immer bestand, allen Völkern gemeinsame Grundsätze jedoch nicht ausschloss.“ [U]

In diesen wenigen Zeilen sind viele ... – wie soll man das nennen? – sagen wir Unrichtigkeiten enthalten, gegen die auch die Vertreter der historischen Rechtsschule Einspruch erheben würden. So würden sie zum Beispiel sagen, dass Herr Karejew, wenn er ihnen die Negierung „dessen, was in der Sprache der Wissenschaft die Bezeichnung allgemeingültige Gesetze trägt“, zuschreibt, entweder absichtlich ihre Ansichten verfälscht oder in einer für einen „Historiosophen“ völlig unstatthaften Weise Begriffe verwechselt, indem er „Gesetze“, für die die Geschichte und das Recht zuständig sind, mit jenen durcheinanderbringt, die die historische Entwicklung der Völker bestimmen; die Existenz von Gesetzen letzterer Art hat die historische Rechtsschule nie bestritten; sie war gerade bemüht, solche Gesetze zu finden, wenngleich ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren. Doch selbst die Ursache ihrer Misserfolge ist außerordentlich lehrreich, und wenn sich Herr Karejew die Mühe gemacht hätte, sich dahinein zu denken, würde er – wer weiß? – schließlich noch Klarheit über „das Wesen des historischen Prozesses“ erlangen.

Im 18. Jahrhundert war man geneigt, die Geschichte des Rechts aus der Tätigkeit des „Gesetzgebers“ zu erklären. Die historische Rechtsschule lehnte sich entschieden gegen diese Neigung auf. Savigny formulierte die neue Ansicht schon im Jahre 1814 folgendermaßen:

„Die Summe dieser Ansicht also ist, dass alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, das heißt, dass es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers.“ [V]

Diese Ansicht entwickelte Savigny später in seinem berühmten Werk System des heutigen Römischen Rechts,

„In dem gemeinsamen Bewusstsein des Volkes lebt das positive Recht“, sagt er hier, „und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen ... Es ist dieses aber keineswegs so zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkür das Recht hervorgebracht würde ... Vielmehr ist es der in allen einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt, das also für das Bewusstsein jedes einzelnen, nicht zufällig, sondern notwendig, ein und dasselbe Recht ist.“ [W]

„Fragen wir nun nach der Entstehung des Staates“, fährt Savigny fort, „so müssen wir dieselbe ebenso in eine höhere Notwendigkeit, in eine von innen heraus bildende Kraft setzen, wie es oben von dem Recht überhaupt gesagt worden ist; und zwar gilt dieses nicht bloß von dem Dasein eines Staates überhaupt, sondern auch von der eigentümlichen Gestalt, welche der Staat in jedem Volke an sich trägt.“ [X]

Das Recht entsteht auf die gleiche „unsichtbare Art“ wie die Sprache, und die Gestalt, in der es im gesamten Volksbewusstsein lebt, ist nicht „die der abstrakten Regel, sondern die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang, so dass, wo das Bedürfnis entsteht, sich der Regel in ihrer logischen Form bewusst zu werden, diese erst durch einen künstlichen Prozess aus jener Totalanschauung gebildet werden muss“. [Y]

Die praktischen Bestrebungen der historischen Rechtsschule gehen uns hier nichts an; was jedoch ihre Theorie betrifft, so können wir schon auf Grund der zitierten Worte Savignys sagen, sie ist:

    die Reaktion gegen die im 18.Jahrhundert verbreitete Ansicht, das Recht werde durch einzelne Persönlichkeiten („Gesetzgeber“) geschaffen; der Versuch, eine wissenschaftliche Erklärung der Geschichte des Rechts zu finden, diese Geschichte als einen notwendigen und daher gesetzmäßigen Prozess aufzufassen;
     
    der Versuch, diesen Prozess zu erklären, ausgehend von durchaus idealistischem Standpunkt: der „Volksgeist“, das „Volksbewusstsein“, war die letzte Instanz, an die die historische Rechtsschule appellierte.

Bei Puchta ist der idealistische Charakter der Ansichten dieser Schule noch deutlicher ausgesprochen.

Das primitive Recht ist bei Puchta – wie auch bei Savigny – das Gewohnheitsrecht. Wie entsteht aber das Gewohnheitsrecht? Häufig wird die Meinung ausgesprochen, dieses Recht werde durch die Lebenspraxis (Übung) geschaffen, doch das ist nur ein Sonderfall der materialistischen Ansicht vom Ursprung der Überzeugungen des Volkes.

„Die wahre Ansicht ist die umgekehrte; die Übung ist nur das letzte Moment, in welchem das entstandene, in der Überzeugung der Glieder des Volks lebende Recht sich völlig äußert und verkörpert. Der Einfluss, welchen die Gewohnheit auf die Überzeugung hat, ist nur der, dass diese sich durch jene zum Bewusstsein kommen und befestigen kann.“ [Z]

So soll die Überzeugung des Volkes hinsichtlich dieser oder jener Rechtsinstitution unabhängig von der Lebenspraxis, von der „Gewohnheit“ entstehen. Woher kommt aber diese Überzeugung? Sie stammt aus der Tiefe des Volksgeistes. Die bestimmte Art dieser Überzeugung bei einem bestimmten Volk soll sich aus der Eigenart dieses Volksgeistes erklären lassen. Das ist dunkel, so dunkel, dass hier auch nicht die Spur einer wissenschaftlichen Erklärung ist. Puchta empfindet auch selbst, dass es hier um die Sache nicht gut bestellt ist, und ist bemüht, sie durch folgende Ausführung zurechtzubiegen:

„Die Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist ist eine unsichtbare. Wer würde es unternehmen, den Wegen zu folgen, auf welchen eine Überzeugung in einem Volke entspringt, keimt, wächst, sich entfaltet, hervor treibt? Die es unternommen haben, sind meistens von irrigen Vorstellungen ausgegangen.“ [Ä]

„Meistens ...“ Das heißt, es gab auch Forscher, deren Ausgangsvorstellungen richtig waren. Zu welchen Schlüssen über die Genesis volksrechtlicher Ansichten waren diese Menschen gekommen? Man muss annehmen, das sei für Puchta ein Geheimnis geblieben, denn er geht über inhaltslose Hinweise auf die Eigenschaften des Volksgeistes keinen einzigen Schritt hinaus.

Auch Savignys obenangeführte Bemerkung, das Recht lebe im gesamten Volksbewusstsein nicht in Form abstrakter Regeln, sondern als „lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang“, erklärt nichts. Es ist auch leicht zu begreifen, was Savigny eigentlich veranlasst hat, uns diese recht verworrene Mitteilung zu machen. Wenn wir annähmen, das Recht bestehe im Bewusstsein des Volkes in Form „abstrakter Regeln“, so würden wir erstens auf das „Gesamtbewusstsein“ der Juristen stoßen, die sehr gut wissen, wie schwer sich das Volk diese abstrakten Regeln aneignet, zweitens aber erhielte unsere Theorie vom Ursprung des Rechts eine zu unwahrscheinliche Form. Es sähe dann so aus, als formten sich die ein Volk bildenden Menschen, bevor sie in irgendwelche praktischen Beziehungen zueinander träten, bestimmte Begriffe und drängen alsdann versorgt mit diesem Vorrat, wie ein Wanderer mit Mundvorrat, in das Gebiet des praktischen Lebens vor, machten sich auf ihren historischen Weg. Das könnte natürlich niemand glauben, und so räumt Savigny die „abstrakten Regeln“ fort: Das Recht besteht im Volksbewusstsein nicht in Form bestimmter Begriffe, es ist keine Sammlung fertiger Kristalle, sondern eine mehr oder weniger konzentrierte Lösung, aus der sich „je nach Bedarf“, das heißt beim Zusammentreffen mit der Lebenspraxis, die erforderlichen juristischen Kristalle herausbilden. Zwar ist diese Methode recht geistreich, doch bringt sie uns dem wissenschaftlichen Verständnis der Erscheinungen selbstverständlich nicht näher. Nehmen wir ein Beispiel.

Die Eskimos kennen nach den Worten Rinks kaum ein regelrechtes Eigentum: soweit aber von einem solchen die Rede sein könne, erwähnt Rink drei Eigentumsarten:

„1. Das Eigentum, das dem Verband mehrerer Familien gehört, zum Beispiel die Winterwohnungen ...

2. Das Eigentum, das einer, höchstens drei verwandten Familien gemeinsam gehört, zum Beispiel die Sommerzelte und alles, was zur Hauswirtschaft zählt, wie Lampen, Fässer, Holzschüsseln, Steintöpfe usf., das Boot oder Umiak, das dem Transport aller dieser Gegenstände zusammen mit dem Zelt dient, der Schlitten mit den Hunden ... ‚ schließlich der Wintervorrat an Nahrungsmitteln ...

3. Das persönliche Eigentum einzelner Personen ... Kleidung, Waffen und Werkzeuge oder alles das, was der Mensch persönlich gebraucht. Diesen Dingen wird sogar eine geheimnisvolle Bindung an den Eigentümer zugeschrieben, die an die Bindung von Seele und Leib erinnert. Es ist nicht üblich, diese Dinge einem anderen zu leihen.“ [Ö]

Versuchen wir uns die Entstehung dieser drei Eigentumsarten vom Standpunkt der alten historischen Rechtsschule vorzustellen.

Da nach den Worten Puchtas die Überzeugungen der Lebenspraxis vorangehen und nicht auf dem Boden der Gewohnheit wachsen, muss man annehmen, dass die Sache folgendermaßen vor sich gegangen sei: Bevor die Eskimos in Winterwohnungen lebten, sogar bevor sie diese zu bauen begannen, gelangten sie zu der Überzeugung, dass Winterwohnungen, wenn sie einmal solche haben würden, dem Verband mehrerer Familien gehören müssten; genauso überzeugten sich unsere Wilden, dass, sobald sie Sommerzelte, Fässer, Holzschüsseln, Boote, Töpfe, Schlitten und Hunde haben würden, das alles das Eigentum einer, höchstens dreier verwandter Familien sein müsse; schließlich waren sie nicht weniger fest davon überzeugt, dass Kleidung, Waffen und Werkzeuge persönliches Eigentum sein müssten und dass selbst das Verleihen dieser Gegenstände nicht statthaft sei. Fügen wir noch hinzu, dass alle diese „Überzeugungen“ wahrscheinlich nicht als abstrakte Regeln existierten, sondern „in Gestalt einer lebendigen Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang“, und dass später, „je nach Bedarf“ – das heißt bei der Begegnung mit Winterwohnungen, Sommerzelten, Fässern, Steintöpfen, Holzschüsseln, Booten, Schlitten und Hunden – sich aus dieser wässrigen Lösung von Rechtsbegriffen die Normen des Gewohnheitsrechts der Eskimos in mehr oder weniger „logischer Form“ herauskristallisierten, wobei die Eigenschaften der erwähnten Rechtslösung durch die geheimnisvollen Eigenschaften des Eskimogeistes bestimmt wurden.

Das ist überhaupt keine wissenschaftliche Erklärung; das sind bloß {Redensarten}, wie die Deutschen sagen.

Jene Abart des Idealismus, die die Anhänger der historischen Rechtsschule vertraten, erwies sich bei der Erklärung der gesellschaftlichen Erscheinungen als noch weniger leistungsfähig denn der bedeutend tiefgründigere Idealismus Schellings und Hegels.

Wie fand die Wissenschaft aus jener Sackgasse heraus, in der der Idealismus steckte? Hören wir einen der bedeutendsten Vertreter der modernen vergleichenden Rechtswissenschaft –Herrn M. Kovalevsky.

Nach einem Hinweis darauf, dass die Gesellschaftsordnung der primitiven Stämme den Stempel des Kommunismus trägt (hören Sie, Herr W. W. – das ist auch ein „Professor“), sagt Herr Kovalevsky:

„Wenn wir nach den tatsächlichen Grundlagen einer derartigen Ordnung fragen, wenn wir die Ursachen erfahren wollen, die unsere primitiven Ahnen nötigten und auch die jetzigen Wilden zwingen, sich eines mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Kommunismus zu befleißigen, so müssen wir insbesondere die primitiven Methoden der Produktion kennenlernen. Denn die Verteilung und der Verbrauch der Reichtümer muss durch die Möglichkeiten ihrer Beschaffung bestimmt werden. Darüber sagt die Ethnographie aber folgendes: Bei Jäger- und Fischervölkern geht die Beschaffung der Nahrung gewöhnlich in großen Gruppen (en hordes) vor sich ... In Australien wird die Jagd auf Kängurus mit bewaffneten Abteilungen von einigen Dutzenden und sogar Hunderten von Eingeborenen betrieben. Das gleiche geschieht auch in nordischen Ländern beim Jagen des Rens ... Es steht außer Zweifel, dass der Mensch unfähig ist, seine Existenz allein zu unterhalten; er bedarf der Hilfe und Unterstützung, und seine Kräfte werden durch Assoziation verzehnfacht ... So sehen wir zu Beginn der gesellschaftlichen Entwicklung die gesellschaftliche Produktion und als notwendige natürliche Folgerung dessen den gesellschaftlichen Verbrauch. Die Ethnographie ist reich an Tatsachen, die das bestätigen.“ [Ü]

Nachdem Herr Kovalevsky die idealistische Theorie Lermins angeführt hat, laut der das Privateigentum aus dem Selbstbewusstsein der Persönlichkeit entsteht, fährt er fort:

„Nein, das stimmt nicht. Nicht daher gelangt der primitive Mensch zum Gedanken der persönlichen Aneignung des behauenen Steins, der ihm als Werkzeug dient, oder des Fells, das seinen Körper bedeckt. Dieser Gedanke kommt ihm infolge der Verwendung seiner individuellen Kräfte für die Herstellung des Gegenstandes. Der ihm als Axt dienende Feuerstein ist von seinen eigenen Händen behauen worden. Bei der Jagd, die er gemeinsam mit zahlreichen Genossen betreibt, hat er einem Tier den letzten Stich versetzt, und so wird das Fell dieses Tieres sein persönliches Eigentum. Das Gewohnheitsrecht der Wilden zeichnet sich in dieser Hinsicht durch große Genauigkeit aus. Vorsorglich sieht es zum Beispiel den Fall vor, dass ein erjagtes Tier unter den gleichzeitigen Stichen zweier Jäger fällt: dann wird das Fell des Tieres dem Jäger zugesprochen, dessen Pfeil näher zum Herzen eingedrungen ist. Auch jener Fall ist vorgesehen, dass einem schon verwundeten Tier durch zufällig vorbeikommende Jäger der Gnadenstoß gegeben wird. Der Einsatz individueller Arbeit also erzeugt logisch auch die individuelle Aneignung. Wir können diese Erscheinung durch die gesamte Geschichte verfolgen. Wer einen Obstbaum gepflanzt hat, wird zu seinem Besitzer ... Später wird ein Krieger, der eine gewisse Beute erkämpft hat, zu ihrem ausschließlichen Eigentümer, so dass schon seine Sippe kein Recht mehr darauf hat; ebenso hat die Sippe des Priesters kein Recht auf die Opfer, die von den Gläubigen dargebracht und zu seinem persönlichen Eigentum werden. Das wird sowohl von den Gesetzen der Inder als auch vom Gewohnheitsrecht der Südslawen, der Donkosaken oder der alten Iren gleich gut bestätigt. Wichtig ist es, hinsichtlich des echten Prinzips dieser Aneignung, die das Ergebnis des Einsatzes persönlicher Bemühungen zur Erlangung eines gewissen Gegenstandes ist, keinen Irrtum zu begehen. Wenn also zu den persönlichen Bemühungen des Menschen die Hilfe seiner Nächsten hinzukommt ... ‚ werden die erlangten Gegenstände schon nicht mehr sein Privateigentum.“ [a]

Nach allem Gesagten wird es klar, dass zu Gegenständen des persönlichen Besitzes zuerst Sachen wie Waffen, Kleidung, Nahrung, Schmuck usf. werden. „Bereits seit den ersten Schritten zur Zähmung von Tieren werden die Hunde, Pferde, Katzen, das Arbeitsvieh zum wichtigsten Grundstock der persönlichen und sippenmäßigen Aneignung ...“ [b] In welchem Maße aber die Organisation der Produktion die Formen der Aneignung beeinflusst, zeigt zum Beispiel folgende Tatsache: Bei den Eskimos vollzieht sich die Walfischjagd in großen Booten, mit großen Abteilungen; die diesem Zweck dienenden Boote sind gesellschaftliches Eigentum; kleine Boote aber, die dem Transport von Gegenständen des Familienbesitzes dienen, gehören einzelnen Familien oder „höchstens drei verwandten Familien gemeinsam“.

Mit dem Aufkommen des Ackerbaus wird auch der Boden zum Gegenstand der Aneignung. Vor allem werden größere oder kleinere Blutsverbände zu Grundbesitzern. Das ist natürlich eine der Formen der gesellschaftlichen Aneignung. Wie soll ihre Entstehung erklärt werden? „Uns scheint“, sagt Herr Kovalevsky, „dass ihre Ursachen in der gleichen gesellschaftlichen Produktion wurzeln, die einst zur Aneignung des größten Teils des beweglichen Gutes geführt hat.“ [c] Es ist überflüssig zu sagen, dass das private Eigentum, einmal entstanden, in Widerspruch zu der älteren Art der gesellschaftlichen Aneignung gerät. Wo die rasche Entwicklung der Produktivkräfte ein immer breiteres Feld für „individuelle Bemühungen“ schafft, verschwindet das gesellschaftliche Eigentum recht schnell oder setzt seine Existenz als eine sozusagen rudimentäre Institution fort. Weiter unten werden wir sehen, dass dieser Zerfallsprozess des primitiven gesellschaftlichen Eigentums zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten infolge einer natürlichen, materiellen Notwendigkeit sehr mannigfaltige Formen aufweisen musste. Jetzt wollen wir aber nur jene Schlussfolgerung der modernen Rechtswissenschaft hervorheben, dass die Rechtsbegriffe – Überzeugungen, wie Puchta sagen würde – überall durch die Produktionsweise bestimmt werden.

Schelling hat einmal gesagt, die Erscheinung des Magnetismus müsse als das Eindringen des „Subjektiven“ in das „Objektive“ aufgefasst werden. Alle Versuche, für die Geschichte des Rechts eine idealistische Erklärung zu finden, sind nicht mehr als eine Ergänzung, ein „Seitenstück“ zur idealistischen Naturphilosophie. Es sind immer die gleichen, manchmal eleganten, geistreichen, doch immer willkürlichen, stets unbegründeten Ausführungen über das Thema des sich selbst genügenden, des sich selbst entwickelnden Geistes.

Rechtsüberzeugungen konnten der Lebenspraxis schon darum nicht vorangehen, weil sie – soweit nicht aus ihr entstanden – völlig ohne Ursache dastehen würden. Der Eskimo vertritt die persönliche Aneignung der Kleidung, der Waffen und Arbeitswerkzeuge aus dem einfachen Grunde, weil diese Aneignung viel bequemer ist und einem von den Eigenschaften der Sachen selbst nahegelegt wird. Um zu lernen, seine Waffe, seinen Bogen oder Bumerang gut zu beherrschen, muss sich der primitive Jäger ihnen anpassen, ihre individuellen Eigenschaften sorgfältig studieren und sie möglichst seinen eigenen individuellen Eigenschaften anpassen. [d] Das Privateigentum liegt hier viel eher in der Natur der Dinge als jede andere Art der Aneignung, und darum ist der Wilde von seinen Vorzügen „überzeugt“: wie wir wissen, schreibt er den individuellen Arbeitswerkzeugen und den Waffen sogar eine gewisse geheimnisvolle Bindung an ihren Eigentümer zu. Aber seine Überzeugung ist auf dem Boden der Lebenspraxis gewachsen, ihr aber nicht vorangegangen; sie verdankt ihre Entstehung nicht den Eigenschaften seines „Geistes“, sondern den Eigenschaften jener Gegenstände, mit denen er zu tun hat, und dem Charakter jener Produktionsmethoden, die bei dem gegebenen Stand seiner Produktivkräfte für ihn unvermeidlich sind.

In welchem Maße die Lebenspraxis den Rechts„überzeugungen“ vorangeht, wird durch manche im primitiven Recht bestehende symbolische Handlungen demonstriert. Die Produktionsweisen haben sich verändert, zusammen mit ihnen haben sich auch die Wechselbeziehungen der Menschen im Produktionsprozess verändert, verändert hat sich auch die Lebenspraxis, nur die „Überzeugung“ hat ihre alte Form behalten. Sie widerspricht der neuen Praxis, und da entstehen nun Fiktionen, symbolische Zeichen, Handlungen, deren einziges Ziel darin besteht, diesen Widerspruch formal zu beseitigen. Mit der Zeit wird der Widerspruch jedoch auf eine gründlichere Art beseitigt: Auf dem Boden der neuen ökonomischen Praxis bildet sich die neue Rechtsüberzeugung.

Es genügt nicht, in einer Gesellschaft an diesen oder jenen Gegenständen das Aufkommen des Privateigentums zu konstatieren, um damit schon den Charakter dieser Institution zu bestimmen. Dem Privateigentum sind immer Grenzen gesetzt, die vollständig von der Ökonomie der Gesellschaft abhängen.

„Im wilden Zustand eignet sich der Mensch ausschließlich Dinge an, die für ihn von unmittelbarem Nutzen sind. Den Überfluss, auch wenn er durch die Arbeit seiner Hände erlangt sein sollte, tritt er gewöhnlich ohne Gegenleistung an andere ab: an Familien-, Clan- oder Stammesangehörige“, sagt Herr Kovalevsky.

Genau das gleiche sagt auch Rink über die Eskimos. Woher stammt aber diese Sitte der wilden Völker? Nach den Worten des Herrn Kovalevsky verdankt sie ihr Entstehen der Tatsache, dass die Wilden keine Akkumulation kennen. [e] Dieser nicht ganz klare Ausdruck ist besonders deshalb unglücklich gewählt, weil er von den Vulgärökonomen häufig missbraucht wird. Dessen ungeachtet ist es klar, in welchem Sinne unser Autor ihn gebraucht. Die „Akkumulation“ ist den primitiven Völkern tatsächlich aus dem einfachen Grunde unbekannt, weil es ihnen unbequem, geradeheraus gesagt: unmöglich ist, sie zu betreiben. Das Fleisch des getöteten Tieres kann nur in geringem Grade „akkumuliert“ werden, es verdirbt und wird dann völlig unbrauchbar. Wenn man es verkaufen könnte, wäre es natürlich sehr leicht, das erhaltene Geld „zu akkumulieren“. Aber Geld gibt es auf dieser Stufe der ökonomischen Entwicklung noch nicht. Folglich setzt die Wirtschaft der primitiven Gesellschaft der Entwicklung des „Akkumulations“geistes sehr enge Grenzen. Außerdem, habe ich heute Glück gehabt, ein großes Tier zu erlegen, habe ich sein Fleisch mit anderen geteilt und werde ich morgen mit leeren Händen zurückkehren (Jagd ist ein unsicheres Geschäft), so werden andere Angehörige meiner Sippe ihre Beute mit mir teilen. Die Gewohnheit, zu teilen, wird somit zu einer Art gegenseitiger Versicherung, ohne die die Existenz von Jägerstämmen völlig unmöglich wäre.

Schließlich darf man nicht vergessen, dass das Privateigentum bei solchen Stämmen nur in unentwickeltem Zustand besteht, vorherrschend ist das gesellschaftliche Eigentum; die auf diesem Boden entstandenen Sitten und Gewohnheiten setzen der Willkür des Privateigentümers ihrerseits Grenzen. Die Überzeugung folgt auch hier der Ökonomie.

Die Verbindung zwischen den Rechtsbegriffen der Menschen und ihrer ökonomischen Lebensweise wird sehr gut durch jenes Beispiel geklärt, das Rodbertus so gern und häufig in seinen Werken angeführt hat. Bekanntlich sprachen sich die antiken römischen Schriftsteller sehr energisch gegen den Wucher aus. Cato der Censor fand, der Wucherer sei doppelt so schlimm wie der Dieb (gerade so sagte der Alte: genau doppelt). In dieser Hinsicht stimmten die christlichen Kirchenväter mit den heidnischen Schriftstellern völlig überein. Sowohl die einen als auch die anderen – eine erstaunliche Sache! – protestierten gegen den vom Geldkapital eingebrachten Zins. Gegenüber Sachdarlehen und dem daraus gezogenen Gewinn verhielten sie sich unvergleichlich milder. Warum dieser Unterschied? Weil gerade das Geld, das Wucherkapital, in der damaligen Gesellschaft furchtbare Verwüstung anrichtete, weil gerade dieses „Italien zugrunde richtete“. Die Rechts„überzeugung“ ging auch hier Hand in Hand mit der Ökonomie.

„Das Recht ist ein reines Produkt der Notwendigkeit oder richtiger der Not“, sagt Post. „Man wird vergebens nach irgendwelcher idealen Basis im Rechte suchen.“ [f]

Wir würden sagen, das entspräche völlig dem Geist der neuesten Rechtswissenschaft, wenn unser Gelehrter nicht eine recht bedeutsame und ihren Folgen nach höchst verderbliche Verwechslung der Begriffe offenbarte.

Allgemein gesprochen, ist jeder soziale Verband bestrebt, ein System des Rechts auszuarbeiten, das seine Bedürfnisse am besten befriedigt, das im gegebenen Zeitpunkt für ihn am nützlichsten ist. Die Tatsache, dass eine bestimmte Gesamtheit von Rechtsinstitutionen für die Gesellschaft nützlich oder schädlich ist, kann keinesfalls von den Eigenschaften einer „Idee“ – welcher Art sie auch sein und woher sie auch kommen möge – abhängen; wie wir gesehen haben, hängt sie von den Produktionsweisen und von den von diesen geschaffenen Wechselbeziehungen zwischen den Menschen ab. In diesem Sinne hat das Recht keine ideale Grundlage und kann sie auch nicht haben, denn seine Grundlage ist immer real. Aber die reale Grundlage eines jeden Rechtssystems schließt seitens der Mitglieder der Gesellschaft ein ideales Verhältnis ihm gegenüber nicht aus. Im Ganzen betrachtet, gewinnt die Gesellschaft nur von einer solchen Einstellung ihrer Mitglieder. Umgekehrt, in Übergangsepochen, wenn das in der Gesellschaft bestehende Rechtssystem ihre durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte gewachsenen Bedürfnisse schon nicht mehr befriedigt, kann und muss der fortschrittliche Teil der Bevölkerung ein neues System von Einrichtungen, das dem „Geist der Zeit“ besser entspricht, idealisieren. Die französische Literatur ist voll von Beispielen der Idealisierung einer neuen, anbrechenden Ordnung der Dinge.

Die Herkunft des Rechts aus dem „Bedürfnis“ schließt eine „ideale“ Grundlage des Rechts nur in der Vorstellung jener Menschen aus, die gewohnt sind, die Bedürfnisse dem Bereich der groben Materie zuzuordnen und diesem Bereich den „reinen Geist“ gegenüberzustellen, dem jedes Bedürfnis fremd ist. In Wirklichkeit ist nur das „ideal“, was den Menschen nützt, und jede Gesellschaft wird sich bei der Schaffung ihrer Ideale nur von ihren Bedürfnissen leiten lassen. Scheinbare Ausnahmen von dieser unbestreitbar allgemeinen Regel erklären sich dadurch, dass infolge der Entwicklung der Gesellschaft ihre Ideale nicht selten hinter ihren neuen Bedürfnissen zurückbleiben. [g]

Das Bewusstsein von der Abhängigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse vom Stand der Produktivkräfte dringt mehr und mehr in die moderne Gesellschaftswissenschaft ein, ungeachtet des unvermeidlichen Eklektizismus zahlreicher Gelehrter, ungeachtet ihrer idealistischen Vorurteile.

„Wie die vergleichende Anatomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse, so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit großer Sicherheit auf die Gesittungsstufe eines Volkes schließen“, sagt der von uns schon zitierte Oskar Peschel. [h] „Mit der Art des Nahrungserwerbes hängt am innigsten die Gliederung des Gemeinwesens zusammen. Wo sich der Mensch zum Menschen gesellt, da erhebt sich auch stets eine Obrigkeit. Am lockersten sind alle gesellschaftlichen Fesseln der herum streichenden Jägerhorden Brasiliens ... Hirtenstämme treffen wir meistens unter patriarchalischen Häuptern, denn die Herden gehören gewöhnlich nur einem Herrn, dem als Gesinde seine Stammesangehörigen oder ehemalig unabhängige, später verarmte Herdenbesitzer dienstbar geworden sind. Dem Hirtenleben sind vorzugsweise, wenn auch nicht ausschließlich, die großen Völkerbewegungen eigen, sowohl im Norden der Alten Welt wie in Südafrika; die Geschichte Amerikas kennt dagegen nur Einbrüche von rohen Jägerstämmen in die lockenden Gefilde von Kulturvölkern. Dass ganze Völker ihre bisherigen Wohnstätten abbrechen, vorwärts drängen und große Erdräume durchwandern, ist überhaupt nur denkbar in Begleitung von Herden, welche auf dem Marsche die nötige Nahrung gewähren. Die Viehzucht auf Steppen nötigt ohnehin zum Wechsel der Weideplätze. Mit dem Sesshaftwerden und dem Ackerbau regt sich aber sogleich die Begierde nach Sklavenarbeit ... Früher oder später führt die Sklaverei stets zur Willkürherrschaft, denn derjenige, welcher die größte Anzahl Sklaven besitzt, wird mit ihrem Beistand leicht alle schwächeren unterdrücken ... Mit der Unterscheidung von Freien und Unfreien gliedert sich die Gesellschaft in Stände.“ [i]

Bei Peschel finden sich viele Überlegungen dieser Art. Einige von ihnen sind durchaus berechtigt und sehr lehrreich; andere „könnte“ nicht nur Herr Michailowski „bestreiten“. Für uns sind aber hier nicht Einzelheiten, sondern die gesamte Richtung der Gedanken Peschels von Bedeutung. Diese Gesamtrichtung fällt aber vollständig mit jener zusammen, die wir bereits bei Herrn Kovalevsky bemerkt haben: In den Produktionsweisen, im Stand der Produktivkräfte sucht er die Erklärung für die Geschichte des Rechts und sogar der gesamten Gesellschaftsordnung.

Das ist aber gerade das, was Marx den Männern der Gesellschaftswissenschaft zu tun schon längst eindringlich empfahl. Darin besteht gerade in bedeutendem Maße, wenn auch nicht vollständig (der Leser wird im weiteren bemerken, warum wir sagen: nicht vollständig), der Sinn jenes berühmten Vorworts zu dem Werk „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, das bei uns in Russland ein solches Missgeschick erlebte, das von den meisten russischen Schriftstellern, die es im Original oder in Auszügen gelesen hatten, so sehr und so sonderbar missverstanden wurde.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt ...“ [5]

Hegel sagt über Schelling, dass die Grundthesen des Systems bei diesem Philosophen unentwickelt bleiben und der absolute Geist unerwartet, {wie aus der Pistole geschossen}, erscheint. Wenn der durchschnittliche russische Intellektuelle hört, bei Marx „laufe alles auf die ökonomische Grundlage hinaus“ (manche sagen auch einfach „auf das Ökonomische“), fährt er zusammen, als hätte man an seinem Ohr unerwartet eine Pistole abgeschossen: „Warum denn auf das Ökonomische?“ fragt er melancholisch und ratlos. „Zweifellos ist auch das Ökonomische von Bedeutung (besonders für arme Bauern und Arbeiter). Doch nicht weniger wichtig ist auch das Geistige (insbesondere für uns, für die Intelligenz).“ Diese Ausführung wird dem Leser, so hoffen wir, gezeigt haben, dass die Ratlosigkeit des durchschnittlichen russischen Intellektuellen in diesem Falle nur daher kommt, dass er, der Intellektuelle, hinsichtlich des für ihn „besonders wichtigen Geistigen“ stets etwas sorglos war. Wenn Marx sagte, dass „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“ [6], so hatte er keineswegs die Absicht, die gelehrte Welt durch unerwartete Schüsse zu verwirren; er gab nur eine direkte und exakte Antwort auf die „verdammten Fragen“, die die denkenden Köpfe ein ganzes Jahrhundert lang gequält hatten.

Die französischen Materialisten gelangten bei der konsequenten Entwicklung ihrer sensualistischen Ansichten zu der Folgerung, dass der Mensch mit all seinen Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen ein Produkt seines gesellschaftlichen Milieus sei. Um in der Anwendung ihrer materialistischen Ansicht auf die Lehre vom Menschen weiter vorzudringen, musste die Frage gelöst werden, wodurch die Struktur des gesellschaftlichen Milieus bedingt sei und nach welchen Gesetzen es sich entwickle. Die französischen Materialisten verstanden diese Frage nicht zu beantworten; so mussten sie sich selbst verleugnen und zu dem alten, von ihnen so scharf verurteilten idealistischen Gesichtspunkt zurückkehren und sagen, das Milieu werde durch die „Ansichten“ der Menschen geschaffen. Die französischen Historiker der Restaurationsepoche begnügten sich nicht mit dieser oberflächlichen Antwort und steckten sich das Ziel, das gesellschaftliche Milieu einer Analyse zu unterziehen. Das Ergebnis ihrer Analyse war die für die Wissenschaft außerordentlich bedeutsame Folgerung, dass politische Verfassungen in den sozialen Verhältnissen wurzeln, die sozialen Verhältnisse aber durch die Eigentumsverhältnisse bestimmt sind. Zusammen mit dieser Schlussfolgerung erhob sich vor der Wissenschaft eine neue Frage, ohne deren Lösung sie nicht fortschreiten konnte: Wovon hängen aber die Eigentumsverhältnisse ab? Die Lösung dieser Frage überstieg die Kräfte der französischen Historiker der Restaurationsepoche, und sie mussten sich mit nichtssagenden Ausführungen über die Eigenschaften der menschlichen Natur herausreden. Die in der gleichen Zeit lebenden und wirkenden großen Idealisten Deutschlands – Schelling und Hegel – begriffen die Unzulänglichkeit des Standpunkts von der menschlichen Natur bereits sehr gut. Hegel verspottete ihn sehr bissig. Sie verstanden, dass der Schlüssel zur Erklärung der historischen Bewegung der Menschheit außerhalb der Natur des Menschen gesucht werden musste. Das war ihr großes Verdienst; aber um dieses Verdienst wirklich für die Wissenschaft fruchtbar zu machen, war es notwendig, zu zeigen, wo man diesen Schlüssel zu suchen habe. Sie suchten ihn in den Eigenschaften des Geistes, in den logischen Entwicklungsgesetzen der absoluten Idee. Das war der Grundfehler der großen Idealisten, der sie auf Umwegen zum Standpunkt von der menschlichen Natur zurückführte, da die absolute Idee – wie wir schon gesehen haben – nichts anderes ist als die Verkörperung unseres logischen Denkprozesses. Marx’ geniale Entdeckung verbessert diesen Grundfehler des Idealismus und versetzt ihm damit den Todesstoß: Die Figentumsverhältnisse und mit ihnen auch alle Eigenschaften des sozialen Milieus (im Kapitel über die idealistische Philosophie haben wir gesehen, dass auch Hegel die entscheidende Bedeutung der „Eigentumsverhältnisse“ anerkennen musste) werden nicht durch die Eigenschaften des absoluten Geistes und nicht durch den Charakter der menschlichen Natur, sondern durch jene Wechselbeziehungen bestimmt, in die die Menschen „im gesellschaftlichen Prozess der Produktion ihres Lebens“, das heißt in ihrem Existenzkampf, notwendigerweise eintreten. Marx wurde häufig mit Darwin verglichen – ein Vergleich, der die Herren Michailowski, Karejew und ihre Kumpane in lachlustige Stimmung versetzt. Weiter unten werden wir sagen, wie dieser Vergleich verstanden werden muss, obwohl viele Leser das auch ohne uns sicherlich schon einsehen; jetzt wollen wir uns aber – mögen uns unsere subjektiven Denker nicht zürnen – einen anderen Vergleich gestatten.

Vor Kopernikus lehrte die Astronomie, die Erde sei der unbewegliche Mittelpunkt, den die Sonne und andere Himmelskörper umkreisen. Vermöge dieser Ansicht konnte man viele Erscheinungen der Himmelsmechanik nicht erklären. Der geniale Pole nahm die Erklärung vom völlig entgegen gesetzten Ende her in Angriff – er nahm an, dass nicht die Sonne um die Erde kreise, sondern, im Gegenteil, die Erde um die Sonne; und so wurde der richtige Standpunkt gefunden und vieles von dem, was vor Kopernikus unklar war, geklärt. – Vor Marx gingen die Männer der Gesellschaftswissenschaften vom Begriff der menschlichen Natur aus; dadurch blieben die wichtigsten Fragen der menschlichen Entwicklung ungelöst. Marx’ Lehre. [cc] gab der Sache eine völlig andere Wendung: Indem der Mensch zur Erhaltung seiner Existenz auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, sagte Marx, verändert er zugleich seine eigne Natur. Folglich muss die wissenschaftliche Erklärung der geschichtlichen Entwicklung vom entgegen gesetzten Ende begonnen werden: Man muss klären, auf welche Weise sich dieser Prozess der produktiven Einwirkung des Menschen auf die äußere Natur vollzieht. Hinsichtlich ihrer überragenden Bedeutung für die Wissenschaft kann diese Entdeckung ohne weiteres neben Kopernikus’ Entdeckung und überhaupt neben die größten und fruchtbarsten wissenschaftlichen Entdeckungen gestellt werden.

Eigentlich fehlte es der Gesellschaftswissenschaft vor Marx in bedeutenderem Maße an einer festen Grundlage als der Astronomie vor Kopernikus. Die Franzosen nannten und nennen alle Wissenschaften, die mit der menschlichen Gesellschaft zu tun haben, sciences morales et politiques [7] zum Unterschied von den „sciences“, den „Wissenschaften“ im eigentlichen Sinne des Wortes, die allein als exakte Wissenschaften anerkannt wurden und werden. Man muss nun zugeben, dass die Gesellschaftswissenschaft vor Marx keine exakte Wissenschaft war und es auch nicht sein konnte. Solange die Gelehrten an die menschliche Natur als an die höchste Instanz appellierten, mussten sie notwendigerweise die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen aus ihren Ansichten, aus ihrer bewussten Tätigkeit erklären; aber die bewusste Tätigkeit ist eine Tätigkeit des Menschen, die ihm unbedingt als freie Tätigkeit erscheinen muss. Eine freie Tätigkeit schließt jedoch den Begriff der Notwendigkeit aus, das heißt der Gesetzmäßigkeit; Gesetzmäßigkeit aber ist die notwendige Grundlage jeder wissenschaftlichen Erklärung der Erscheinungen. Die Vorstellung von der Freiheit verdeckte den Begriff der Notwendigkeit und verhinderte somit die Entwicklung der Wissenschaft. Diese Verirrung kann man bis auf den heutigen Tag mit verblüffender Klarheit in den „soziologischen“ Werken „subjektiver“ russischer Schriftsteller beobachten.

Wir wissen aber schon: Freiheit soll Notwendigkeit sein. Indem die Vorstellung von der Freiheit den Notwendigkeitsbegriff verdeckte, wurde sie selbst äußerst verschwommen und wenig tröstlich. Die zur Tür hinaus gejagte Notwendigkeit stieg durchs Fenster wieder herein; von der Freiheitsvorstellung ausgehend, stießen die Forscher stets und ständig auf die Notwendigkeit und gelangten schließlich zu der traurigen Erkenntnis ihrer schicksalhaften, unabwendbaren, durch nichts zu bekämpfenden Wirkung. Zu ihrem Schrecken erwies sich die Freiheit als ewig hilflos und hoffnungslos tributpflichtig, als machtloser Spielball in den Händen der blinden Notwendigkeit. Wahrlich rührend ist jene Verzweiflung, in die zeitweise die klarsten und edelsten idealistischen Köpfe fielen.

„Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand“, schrieb Georg Büchner, „aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“ [j]

Man kann schon sagen, dass es sich lohnt, wenigstens zeitweilig den alten Standpunkt zu verlassen und zu versuchen, die Freiheit zu befreien, indem man an die gleiche sie verhöhnende Notwendigkeit appelliert, um solche Anfälle einer übrigens durchaus berechtigten Verzweiflung zu vermeiden; man müsste die von dialektischen Idealisten aufgeworfene Frage, ob die Freiheit sich aus der Notwendigkeit ergebe, ob diese letztere nicht die letzte und einzig feste Grundlage, die allein sichere, unabdingbare Garantie der menschlichen Freiheit sei, nochmals überprüfen.

Wir werden sehen, wohin dieser Versuch bei Marx führt. Zunächst wollen wir uns aber seine historischen Ansichten so klarmachen, dass wir keine diesbezüglichen Missverständnisse zurückbehalten.

Auf der Basis des gegebenen Standes der Produktivkräfte bilden sich bestimmte Produktionsverhältnisse aus, die ihren ideellen Ausdruck in den Rechtsbegriffen der Menschen und in mehr oder weniger „abstrakten Regeln“, in ungeschriebenen Gebräuchen und geschriebenen Gesetzen finden. Das zu beweisen haben wir nicht mehr nötig; wie wir gesehen haben, zeugt die moderne Rechtswissenschaft für uns (möge der Leser daran zurückdenken, was Herr Kovalevsky dazu sagte). Es lohnt sich aber, diese Angelegenheit von einer anderen, und zwar von der folgenden Seite her zu betrachten. Wenn wir uns einmal darüber klargeworden sind, auf welche Weise die Rechtsbegriffe der Menschen durch ihre Produktionsverhältnisse geschaffen werden, dann werden uns die folgenden Worte von Marx. [dd] schon nicht mehr in Erstaunen setzen: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein“ (d. h. die Form ihrer gesellschaftlichen Existenz), „sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Jetzt wissen wir bereits, dass das hinsichtlich mindestens eines Bewusstseinsbereichs wirklich zutrifft, und wissen auch, warum das so ist. Wir brauchen nur noch zu entscheiden: Ist es immer so, und falls ja, warum ist es immer so? Wir wollen uns vorläufig an die Rechtsbegriffe halten.

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ [8]

Das gesellschaftliche Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Gütern entsteht dadurch, dass es für den primitiven Produktionsprozess bequem, mehr als das – notwendig ist. Es unterstützt die Existenz der primitiven Gesellschaft, es fördert die Weiterentwicklung ihrer Produktivkräfte, und die Menschen halten an ihm fest, halten es für natürlich und notwendig. Nun haben sich aber dank diesen Eigentumsverhältnissen und in ihnen die Produktivkräfte so weit entwickelt, dass sich dem Einsatz individueller Bestrebungen ein weiteres Feld eröffnet hat. Jetzt wird das gesellschaftliche Eigentum in manchen Fällen schädlich für die Gesellschaft, es verhindert eine Weiterentwicklung ihrer Produktivkräfte und tritt seinen Platz daher der privaten Aneignung ab; und in den Rechtsinstitutionen der Gesellschaft findet ein mehr oder weniger schneller Umschwung statt. Dieser Umschwung wird notwendigerweise von einem Umschwung der Rechtsbegriffe der Menschen begleitet: Menschen, die früher gedacht haben, nur das gesellschaftliche Eigentum sei gut, beginnen jetzt zu denken, in manchen Fällen sei die Einzelaneignung besser. Übrigens stimmt es nicht, wir drücken uns nicht klar aus, wir stellen das, was völlig untrennbar ist, was zwei Seiten eines einzigen Vorgangs bildet, als zwei getrennte Prozesse dar: Infolge der Entwicklung der Produktivkräfte mussten sich die tatsächlichen Verhältnisse der Menschen im Produktionsprozess verändern, und diese neuen tatsächlichen Verhältnisse fanden in neuen Rechtsbegriffen ihren Ausdruck.

Herr Karejew will uns glauben machen, der Materialismus sei, auf die Geschichte angewandt, ebenso einseitig wie der Idealismus. Beide, der eine wie der andere, sind seiner Ansicht nach nur „Momente“ in der Entwicklung der vollständigen wissenschaftlichen Wahrheit. „Nach dem ersten und zweiten Moment muss das dritte Moment eintreten: die Einseitigkeit der These und der Antithese werden in der Synthese, als dem Ausdruck der vollen Wahrheit, ihre Verwendung finden.“ [k] Das wird eine sehr interessante Synthese sein; „Worin eine solche Synthese bestehen wird, will ich zunächst nicht sagen.“ Schade! Glücklicherweise hält unser „Historiosoph“ das sich selbst auferlegte Schweigegebot nicht besonders streng ein. Er gibt sofort zu verstehen, worin jene volle wissenschaftliche Wahrheit, die mit der Zeit schließlich der ganzen aufgeklärten Menschheit verständlich sein wird, zunächst aber nur Herrn Karejew bekannt ist, bestehen und woher sie kommen wird. Sie wird aus folgenden Gedankengängen erwachsen:

„Jede menschliche Persönlichkeit besteht aus Leib und Seele und führt ein doppeltes Leben – ein physisches und ein psychisches, und erscheint uns weder ausschließlich als Fleisch mit seinen materiellen Bedürfnissen noch ausschließlich als Geist mit seinen intellektuellen und moralischen Bedürfnissen. Sowohl der Leib als auch die Seele des Menschen haben ihre Bedürfnisse, die ihre Befriedigung suchen und die die Einzelperson in ein unterschiedliches Verhältnis zur Außenwelt, dass heißt zur Natur, und zu den anderen Menschen, das heißt zur Gesellschaft, bringen, und dieses Verhältnis ist von zweierlei Art.“ [l]

Dass der Mensch aus Seele und Leib bestehe, ist eine berechtigte „Synthese“, wenn auch nicht gerade eine sehr neue. Wenn der Herr Professor die Geschichte der neuesten Philosophie kennt, so muss er auch wissen, dass sich diese an ihr, an dieser selben Synthese, während ganzer Jahrhunderte ihre Zähne ausgebissen hat, ohne imstande gewesen zu sein, sie ordnungsgemäß zu lösen. Und wenn er sich einbildet, dass diese „Synthese“ ihm „das Wesen des historischen Prozesses“ offenbaren werde, dann wird selbst Herr W. W. zugeben müssen, dass mit seinem „Professor“ nicht alles ganz geheuer ist und dass es nicht Herrn Karejew beschieden ist, zum Spinoza der „Historiosophie“ zu werden.

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte, die zur Veränderung der Wechselbeziehungen zwischen den Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess führt, ändern sich auch alle Eigentumsverhältnisse. Und bereits Guizot hat uns doch gesagt, dass in den Eigentumsverhältnissen die politischen Verfassungen wurzeln. Das wird von der neuesten Wissenschaft voll und ganz bestätigt. Der Blutsverband tritt seine Stelle dem territorialen Verband gerade infolge der in den Eigentumsverhältnissen entstandenen Veränderungen ab. Größere oder kleinere territoriale Verbände schließen sich zu Organismen zusammen, die man als Staaten bezeichnet, wiederum infolge bereits vorgegangener Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen oder infolge neuer Bedürfnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Das ist zum Beispiel hinsichtlich der großen Staaten des Ostens ausgezeichnet geklärt. [m] Nicht weniger gut geklärt ist es auch hinsichtlich der antiken Staaten. [n] Es ist überhaupt nicht schwer, das hinsichtlich jedes bestimmten Staates zu zeigen, über dessen Ursprung wir ausreichend informiert sind. Dabei soll man nur nicht Marx’ Ansicht absichtlich oder unabsichtlich verengen. Wir wollen damit folgendes sagen:

Von dem gegebenen Stand der Produktivkräfte werden die inneren Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft bedingt. Von dem gleichen Stand werden aber auch ihre äußeren Beziehungen zu anderen Gesellschaften bedingt. Auf der Basis dieser äußeren Beziehungen entstehen innerhalb der Gesellschaft neue Bedürfnisse, für deren Befriedigung neue Organe wachsen. Bei einer oberflächlichen Betrachtung der Sache erscheinen die Wechselbeziehungen einzelner Gesellschaften als eine Reihe „politischer“ Handlungen, die keine direkte Beziehung zur Ökonomie haben. In Wirklichkeit aber liegt den Beziehungen zwischen den Gesellschaften gerade die Ökonomie zugrunde, die sowohl die tatsächlichen (und nicht nur die äußerlichen) Ursachen der zwischen den Stämmen und zwischen den Völkern bestehenden Beziehungen als auch ihre Ergebnisse bestimmt. Jeder Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht ihr eigenes System der Rüstung, ihre eigene Kriegstaktik, ihre Diplomatie, ihr Völkerrecht. Man kann natürlich auf viele Fälle hinweisen, in denen internationale Zusammenstöße in keiner direkten Beziehung zur Ökonomie stehen. Niemand unter Marx’ Anhängern wird es einfallen, die Existenz solcher Fälle zu bestreiten. Sie sagen nur: Bleibt nicht an der Oberfläche der Erscheinungen hängen, dringt tiefer ein, stellt auch die Frage, auf welchem Boden dieses Völkerrecht gewachsen ist; was schuf die Möglichkeit solcher internationaler Zusammenstöße? – und ihr werdet in letzter Instanz auf die Ökonomie stoßen. Immerhin wird die Betrachtung einzelner Fälle dadurch erschwert, dass einander häufig Gesellschaften bekämpfen, die ungleiche Phasen der ökonomischen Entwicklung durchmachen.

Hier werden wir von einem Chor scharfsinniger Gegner unterbrochen.

„Gut“, schreien sie, „nehmen wir an, die politischen Verhältnisse wurzelten in den ökonomischen. Doch sobald die politischen Verhältnisse gegeben sind – woher sie auch gekommen sein mögen –, beeinflussen sie ihrerseits die Ökonomie. Folglich besteht hier eine Wechselwirkung und nichts als Wechselwirkung.“

Diesen Einwand haben nicht wir erfunden. Wie hoch er von den Gegnern des „ökonomischen Materialismus“ geschätzt wird, zeigt die folgende „wahre Geschichte“.

Marx führt in seinem Kapital Tatsachen an [ee], die nachweisen, dass die englische Aristokratie ihre politische Macht benutzt hat, ihre unsauberen Geschäfte in Sachen des Grundbesitzes zu erledigen. Dr. Paul Barth, der einen „kritischen Versuch“ unter dem Titel Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer [bis auf Marx und Hartmann, Leipzig 1890] schrieb, nahm die Gelegenheit wahr, Marx einen Widerspruch vorzuhalten: Sie selbst erkennen also an, sagt er, dass hier eine Wechselwirkung besteht. Um aber zu beweisen, dass eine Wechselwirkung tatsächlich vorhanden ist, beruft sich unser Doktor auf ein Buch Sterneggs, eines Autors, der für die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands viel getan hat. Herr Karejew glaubt, dass „die Seiten, die in Barths Buch der Kritik des ökonomischen Materialismus gewidmet sind, als Musterbeispiel dafür angesehen werden können, wie die Frage der Rolle des ökonomischen Faktors in der Geschichte gelöst werden muss“. Selbstverständlich hat er nicht versäumt, den Leser auf die Einwände Barths und auf die kompetente Erklärung Inama-Sterneggs hinzuweisen, „der sogar den allgemeinen Satz formuliert, dass die Wechselwirkung zwischen Politik und Wirtschaft ein Grundzug in der Entwicklung aller Staaten und aller Völker ist“. Dieses Durcheinander müssen wir wenigstens teilweise klären.

Erstens, was sagt Inama-Sternegg eigentlich? Hinsichtlich der karolingischen Periode der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands bemerkt er: „Die Wechselwirkung zwischen Politik und Wirtschaft, welche als ein Grundzug der Entwicklung aller Staaten und aller Völker zu erkennen ist, lässt sich auch hier wieder auf das Allerbestimmteste verfolgen. Wie immer die politische Rolle, die einem Volke zu spielen von dem Weltenschicksale bestimmt ist, für die Entfaltung seiner Kräfte, die Ordnung und Ausgestaltung seiner sozialen Einrichtungen maßgebend wird, so ist andererseits in der Fülle der Kraft, die im Volke wohnt, Maß und Art seiner politischen Betätigung vorgezeichnet. Und so hat auch hier das politische System der Karolinger gewiss nicht minder Einfluss geäußert auf die Umbildung der sozialen Ordnung und auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Zustände, in denen das Volk diese neue Zeit erlebte; aber schließlich waren es doch die elementaren Kräfte des Volks- und Wirtschaftslebens, welche auch diesem politischen System seine Richtung vorgezeichnet, sein eigenartiges Gepräge gegeben haben.“ [o} Das ist alles. Es ist nicht viel, es wird aber als ausreichend angesehen, um Marx zu widerlegen.

Denken wir jetzt, zweitens, daran, was Marx über das Verhältnis der Ökonomie zum Recht und zur Politik sagt:

„Die rechtlichen und politischen Einrichtungen entstehen auf dem Boden der tatsächlichen Beziehungen der Menschen innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Eine Zeitlang begünstigen diese Einrichtungen die Weiterentwicklung der Produktivkräfte des Volkes, das Aufblühen seines ökonomischen Lebens.“ [9]

Das sind die genauen Worte von Marx, und wir fragen jeden beliebigen gewissenhaften Menschen: Enthalten diese Worte eine Negation der Bedeutung politischer Verhältnisse für die wirtschaftliche Entwicklung, und widerlegen jene Menschen Marx, die ihn an diese Bedeutung erinnern? Nicht wahr, von dieser Negation ist bei Marx keine Spur, und die genannten Menschen widerlegen absolut nichts? Wahrlich, so wenig, dass man nicht nur zu erwägen hat, ob Marx widerlegt sei, sondern fragen muss: Warum ist er so schlecht verstanden worden? Diese Frage können wir nur mit einem französischen Sprichwort beantworten: La plus belle fille du monde ne peut donner que ce qu’elle a. [10]

Die Marx-Kritiker können das Maß an Verständnis, das ihnen die gütige Natur gegeben hat, nicht übertreffen. [p]

Eine Wechselwirkung zwischen Politik und Ökonomie ist vorhanden. Das ist ebenso sicher wie die Tatsache, dass Herr Karejew Marx nicht versteht. Verbietet uns aber die Existenz der Wechselwirkung, bei der Analyse des gesellschaftlichen Lebens weiterzugehen? Nein, so denken hieße fast soviel wie sich einbilden, dass das von Herrn Karejew an den Tag gelegte Unverständnis uns hindern werde, zu wahren „historiosophischen“ Begriffen zu gelangen.

Politische Einrichtungen beeinflussen das wirtschaftliche Leben. Entweder fördern sie die Entwicklung dieses Lebens, oder sie hemmen sie. Der erste Fall ist von Marx’ Standpunkt keineswegs erstaunlich, da ein politisches System gerade dazu geschaffen wird, die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu fördern (ob bewusst oder unbewusst, das ist uns hier ganz einerlei). Der zweite Fall widerspricht diesem Standpunkt in keiner Hinsicht, weil sich, wie die Erfahrungen der Geschichte zeigen, ein politisches System, das dem Stand der Produktivkräfte nicht mehr entspricht, zu einem Hemmschuh ihrer Weiterentwicklung verwandelt, dem Untergang zustrebt und schließlich beseitigt wird. Nicht nur, dass dieser Fall Marx’ Lehre nicht widerspricht, er bestätigt sie sogar aufs beste, da er gerade zeigt, in welchem Sinne die Ökonomie die Politik beherrscht, auf welche Art die Entwicklung der Produktivkräfte der politischen Entwicklung des Volkes vorangeht.

Die ökonomische Evolution bringt rechtliche Umwälzungen mit sich. Dem Metaphysiker, der die Erscheinungen trotz seines Geschreis über Wechselwirkung nacheinander und unabhängig voneinander zu betrachten pflegt, fällt es schwer, das zu begreifen. Im Gegensatz dazu begreift es ein Mensch, der des dialektischen Denkens auch nur ein wenig fähig ist, ohne weiteres. Er weiß, dass quantitative Veränderungen, sich allmählich aufspeichernd, schließlich zu Veränderungen der Qualität führen und dass diese qualitativen Veränderungen Momente der Sprünge, Unterbrechungen der Stetigkeit sind.

Hier können unsere Gegner nicht länger an sich halten und verkünden ihr „Wort und Tat“ [11]: So sprach doch Hegel, schreien sie. So handelt die ganze Natur, antworten wir.

Ein Märchen ist schnell erzählt, aber die Sache ist nicht so schnell getan. Dieses Sprichwort kann, auf die Geschichte angewandt, folgendermaßen abgeändert werden: Ein Märchen erzählt sich sehr einfach, die Ausführung der Sache ist aber äußerst schwierig. Man sagt das so leicht dahin: Die Entwicklung der Produktivkräfte bringt Umwälzungen der Rechtsinstitutionen mit sich! Diese Umwälzungen sind komplizierte Vorgänge, in deren Verlauf sich die Interessen einzelner Mitglieder der Gesellschaft auf die wunderlichste Art gruppieren. Einigen ist es vorteilhaft, die alte Ordnung zu unterstützen – sie verteidigen diese mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Anderen ist die alte Ordnung bereits schädlich und verhasst – sie greifen sie mit allen verfügbaren Kräften an. Aber das ist noch nicht alles. Die Interessen der Neuerer sind auch nicht immer die gleichen; manchen sind diese Reformen wichtiger, anderen jene Reformen. Im Lager der Reformatoren selbst entstehen Streitigkeiten, der Kampf verwickelt sich. Obwohl der Mensch, wie Herr Karejew richtig bemerkt, aus Seele und Leib besteht, stellt der Kampf um die zweifellos materiellen Interessen den Streitenden notwendigerweise die offensichtlich geistige Frage: die Frage der Gerechtigkeit. Inwiefern widerspricht ihr die alte Ordnung? Inwiefern entsprechen ihr die neuen Forderungen? Diese Fragen entstehen unbedingt in den Köpfen der Kämpfenden, auch wenn sie die Gerechtigkeit nicht immer einfach als Gerechtigkeit bezeichnen, sondern vielleicht in der Gestalt einer menschenähnlichen oder selbst tierähnlichen Göttin personifizieren. So erzeugt der „Leib“, entgegen der von Herrn Karejew ausgesprochenen Beschwörung, die „Seele“: Der ökonomische Kampf wirft sittliche Fragen auf, die „Seele“ erweist sich bei näherer Betrachtung als „Leib“; die „Gerechtigkeit“ der Altgläubigen entpuppt sich häufig als das Interesse der Ausbeuter.

Die gleichen Menschen, die Marx mit so erstaunlicher Findigkeit zuschreiben, er leugne die Bedeutung der Politik, behaupten, er habe weder den sittlichen noch den philosophischen, religiösen oder ästhetischen Begriffen der Menschen irgendwelche Bedeutung beigemessen, sondern immer und überall nur „das Ökonomische“ gesehen. Das ist wieder so ein unnatürliches Geschwätz, wie sich Schtschedrin ausdrückte. Marx leugnete die „Bedeutung“ aller dieser Begriffe nicht; er klärte nur ihre Herkunft.

„Was ist Elektrizität? – eine besondere Art von Bewegung. Was ist Wärme? – eine besondere Art von Bewegung. Was ist Licht? – eine besondere Art von Bewegung. So also soll es sein! Ihr messt also weder der Elektrizität noch der Wärme, noch dem Licht Bedeutung bei? Bei euch ist alles nur Bewegung; welche Einseitigkeit, welche Begriffsenge!“

Gerade das, gerade die Enge, meine Herren. Sie haben den Sinn der Lehre von der Energieumwandlung ausgezeichnet begriffen.

Jede bestimmte Entwicklungsstufe der Produktivkräfte führt notwendigerweise zu einer bestimmten Gruppierung der Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess, das heißt zu bestimmten Produktionsverhältnissen, das heißt zu einer bestimmten Struktur der gesamten Gesellschaft. Wenn aber die Struktur der Gesellschaft gegeben ist, so ist es unschwer zu begreifen, dass sich ihr Charakter in der ganzen Psychologie der Menschen, in allen ihren Gewohnheiten, Sitten, Gefühlen, Ansichten, Bestrebungen und Idealen widerspiegeln wird. Die Gewohnheiten, Sitten, Ansichten, Bestrebungen und Ideale müssen Menschen, ihrer Art, sich Nahrung zu beschaffen (nach einem Ausdruck Peschels), anpassen. Die Psychologie der Gesellschaft ist hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Ökonomie immer zweckmäßig, entspricht ihr immer, wird immer durch sie bestimmt. Hier wiederholt sich die gleiche Erscheinung, die schon griechische Philosophen in der Natur beobachtet haben: Die Zweckmäßigkeit triumphiert aus dem einfachen Grunde, weil das Unzweckmäßige eben seines Charakters wegen zum Untergang verurteilt ist. Ist es für die Gesellschaft in ihrem Existenzkampf vorteilhaft, ihre Psychologie der Ökonomie, den Lebensbedingungen anzupassen? Sehr vorteilhaft sogar, weil Gewohnheiten und Ansichten, die der Ökonomie nicht entsprechen, die zu den Existenzbedingungen in Widerspruch stehen, die Erhaltung dieser Existenz stören würden. Eine zweckmäßige Psychologie ist der Gesellschaft ebenso nützlich, wie ihren Zwecken gut entsprechende Organe dem Organismus nützlich sind. Wenn man aber sagt, dass die Organe des Tieres seinen Existenzbedingungen entsprechen müssen, heißt denn das, dass die Organe für das Tier bedeutungslos seien? Ganz im Gegenteil. Es heißt ihre kolossale, ihre wesentliche Bedeutung anerkennen. Nur sehr beschränkte Köpfe können die Sache anders auffassen. Genau das gleiche, meine Herren, gerade das gleiche trifft auf die Psychologie zu. Indem Marx erkannte, dass sie sich der Ökonomie der Gesellschaft anpasst, verkündete er ihre ungeheure, durch nichts zu ersetzende Bedeutung.

Der Unterschied zwischen Marx und, zum Beispiel, Herrn Karejew besteht hier darin, dass letzterer, ungeachtet seiner Neigung zur „Synthese“, ein Dualist reinsten Wassers bleibt. Bei ihm steht hier die Ökonomie, dort die Psychologie – im einen Sack die Seele, im anderen Sack der Leib. Zwischen diesen Substanzen besteht eine Wechselwirkung, aber jede führt ihr eigenes selbständiges Leben, dessen Herkunft in undurchdringliches Dunkel gehüllt ist. [q] Marx’ Standpunkt beseitigt diesen Dualismus. Bei ihm sind die Ökonomie und die Psychologie der Gesellschaft zwei Seiten ein und derselben Erscheinung der „Lebensproduktion“ der Menschen, ihres Existenzkampfs, worin sie sich je nach dem gegebenen Stand der Produktivkräfte auf bestimmte Art gruppieren. Der Existenzkampf erzeugt ihre Ökonomie; auf dem gleichen Boden wächst auch ihre Psychologie. Die Ökonomie selber ist, genau wie die Psychologie, etwas Abgeleitetes. Gerade deshalb verändert sich die Ökonomie jeder fortschreitenden Gesellschaft: Ein neuer Stand der Produktivkräfte bringt eine neue ökonomische Struktur mit sich, und ebenso eine neue Psychologie, einen neuen „Zeitgeist“. Daraus ist ersichtlich, dass man nur in populärem Sprachgebrauch von der Ökonomie als der primären Ursache aller gesellschaftlichen Erscheinungen sprechen kann. Sie ist weit davon entfernt, primäre Ursache zu sein, sie ist selbst nur eine Wirkung, eine „Funktion“ der Produktivkräfte.

Jetzt folgen aber die in der Fußnote versprochenen Punkte.

„Sowohl der Leib als auch die Seele haben ihre Bedürfnisse, die ihre Befriedigung suchen und die die Einzelperson in ein unterschiedliches Verhältnis zur Außenwelt, das heißt zur Natur und zu anderen Menschen, bringen ... Das Verhältnis des Menschen zur Natur schafft darum, je nach den physischen und geistigen Bedürfnissen der Persönlichkeit, einerseits Fertigkeiten verschiedener Art, die darauf gerichtet sind, die materielle Existenz der Persönlichkeit zu sichern, anderseits die gesamte geistige und sittliche Kultur ...“

Das materialistische Verhältnis des Menschen zur Natur wurzelt in den Bedürfnissen des Leibes, in den Eigenschaften der Materie. In den Bedürfnissen des Leibes muss man „die Ursachen des Jagdwesens, der Viehzucht, des Ackerbaus, der bearbeitenden Industrie, des Handels und der Geldoperationen“ suchen. – Nüchtern gedacht, ist das natürlich so: Hätten wir keinen Leib, wozu brauchten wir dann Vieh und Wild, Boden und Maschinen, Handel und Gold? Anderseits muss man aber sagen: Was ist der Leib ohne Seele? Nicht mehr als Materie, und die Materie ist ja tot. Kann sie doch selbst nichts schaffen, wenn sie nicht aus Seele und Leib besteht; also fängt die Materie Tiere, zähmt Vieh, bearbeitet den Boden, handelt und hält in Banken Konferenzen ab nicht mit ihrem eigenen Verstand, sondern auf Anweisung der Seele. Folglich müssen die letzten Ursachen des Entstehens eines materialistischen Verhältnisses des Menschen zur Natur in der Seele gesucht werden. Folglich hat auch die Seele zweierlei Bedürfnis, folglich besteht auch sie aus Seele und Leib, was aber ganz absurd ist. Das ist aber noch nicht alles. Unwillkürlich entstehen Zweifel auch aus folgendem Anlass: Nach Herrn Karejew wurzelt in dem Boden der körperlichen Bedürfnisse das materialistische Verhältnis des Menschen zur Natur. Stimmt denn das? Nur zur Natur allein? Vielleicht kann sich Herr Karejew daran erinnern, wie der Abbé Ghibert die nach ihrer Befreiung vom feudalen Joch strebenden Stadtgemeinden, diese „gemeinen“ Einrichtungen, deren einziger Daseinszweck angeblich darin bestand, dass sie sich von der gerechten Erfüllung feudaler Verpflichtungen drückten, mit einem Fluch belegte. Was sprach hier aus dem Abbé Ghibert: der „Leib“ oder die „Seele“? Wenn es der „Leib“ war, so sagen wir wieder: also bestand er ebenfalls aus „Leib“ und „Seele“; wenn es aber die „Seele“ war, so bestand sie auch aus „Leib“ und „Seele“, da sie in diesem Fall sehr wenig von jenem uneigennützigen Verhältnis zu den Erscheinungen zeigte, das nach Herrn Karejews Worten das Kennzeichen der „Seele“ ist. Hier soll sich einer zurechtfinden! Herr Karejew wird vielleicht sagen, aus dem Abbé Ghibert habe eigentlich die Seele gesprochen, jedoch auf Diktat des Leibes, und das gleiche finde beim Tierfang, bei Bankgeschäften usw. statt. Doch erstens, um diktieren zu können, müsste der Leib wiederum aus Leib und Seele bestehen, zweitens könnte aber ein grober Materialist dazu bemerken: Da spricht also die Seele auf Diktat des Leibes, folglich beweist die Tatsache, dass der Mensch aus Seele und Leib besteht, noch gar nichts; vielleicht hat die Seele während der ganzen Geschichte nichts anderes getan, als auf Diktat des Leibes gesprochen? Herr Karejew wird über diese Annahme natürlich empört sein und den „groben Materialisten“ zu widerlegen versuchen. Wir sind fest davon überzeugt, dass der Sieg auf Seiten des ehrwürdigen Professors sein wird; ob ihm jedoch die unbestreitbare Tatsache, dass der Mensch aus Seele und Leib besteht, in diesem Kampf viel helfen wird?

Aber auch das ist noch nicht alles. Wir haben bei Herrn Karejew gelesen, dass auf dem Boden der geistigen Bedürfnisse der Persönlichkeit wachsen: „Mythologie und Religion Literatur und die Künste“ und überhaupt – „die theoretische Beziehung zur Außenwelt (aber auch zu sich selbst), zu den Fragen des Seins und der Erkenntnis“ sowie „die uneigennützige schöpferische Wiedergabe äußerer Erscheinungen (und auch eigener Gedanken)“. Wir haben Herrn Karejew Glauben geschenkt. Aber halt, da haben wir einen Bekannten, einen Studenten der Technik, der sich eifrig der Technologie der verarbeitenden Industrie widmet; eine „theoretische“ Beziehung zu all dem, was der Herr Professor aufgezählt hat, ist bei ihm nicht festzustellen. Und so fragen auch wir uns: Ob unser Freund wohl einzig und allein aus dem Leibe besteht? Wir bitten Herrn Karejew, diesen für uns qualvollen und für den jungen, außerordentlich begabten, vielleicht sogar genialen Techniker kränkenden Zweifel möglichst rasch zu klären!

Wenn dem Gedankengang des Herrn Karejew irgendein Sinn zukommt, so nur folgender: Der Mensch hat Bedürfnisse höherer und niederer Ordnung, er hat egoistische Bestrebungen und auch altruistische Gefühle. Das ist eine unbestreitbare Wahrheit, die sich aber keineswegs dazu eignet, der „Historiosophie“ zugrunde gelegt zu werden. Über inhaltslose, schon abgedroschene Ausführungen zum Thema der menschlichen Natur erlaubt sie uns nicht hinauszugehen; sie ist ja selber nicht mehr als eine solche Ausführung.

Während wir mit Herrn Karejew plauderten, haben es unsere scharfsinnigen Kritiker fertiggebracht, uns eines Widerspruchs zu uns selbst und, was die Hauptsache ist, zu Marx zu überführen. Wir sagten, die Ökonomie sei nicht die primäre Ursache aller gesellschaftlichen Erscheinungen, behaupteten aber gleichzeitig, die Psychologie der Gesellschaft passe sich ihrer Ökonomie an – das ist der erste Widerspruch. Wir sagten, die Ökonomie und die Psychologie der Gesellschaft seien zwei Seiten ein und derselben Erscheinung, aber Marx selber sagt doch, die Ökonomie sei die reale Grundlage, auf der sich die ideologischen Überbauten erhöben – das ist der zweite Widerspruch, für uns um so bedrückender, als wir hier mit dem Mann, dessen Ansichten wir erläutern wollen, auseinandergehen. Erklären wir das.

Dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grundursache des gesellschaftlich-historischen Prozesses ist, sagen wir Wort für Wort mit Marx, so dass hier keinerlei Widerspruch besteht. Wenn nun also ein solcher irgendwo besteht, so nur in der Frage des Verhältnisses der Ökonomie der Gesellschaft zu ihrer Psychologie. Sehen wir nach, ob er existiert.

Der Leser möge sich daran erinnern, wie das Privateigentum entstanden ist. Die Entwicklung der Produktivkräfte stellt die Menschen unter Verhältnisse, unter denen sich die persönliche Aneignung einiger Gegenstände als bequemer für den Produktionsprozess erweist. Dementsprechend ändern sich die Rechtsbegriffe des primitiven Menschen. Die Psychologie der Gesellschaft passt sich ihrer Ökonomie an. Auf der vorhandenen ökonomischen Grundlage erhebt sich schicksalhaft der ihr entsprechende ideologische Überbau. Anderseits stellt jeder neue Schritt in der Entwicklung der Produktivkräfte die Menschen in ihrer täglichen Lebenspraxis in neue Wechselbeziehungen zueinander, die den überlebten Produktionsverhältnissen nicht mehr entsprechen. Diese neuen, nie dagewesenen Verhältnisse spiegeln sich in der Psychologie der Menschen wider und verändern sie sehr stark. In welcher Richtung aber? Manche Mitglieder der Gesellschaft verteidigen die alte Ordnung – das sind die Menschen des Stillstandes. Andere – jene, denen die alte Ordnung unvorteilhaft ist – treten für die fortschrittliche Bewegung ein; ihre Psychologie ändert sich in der Richtung jener Produktionsverhältnisse, durch die die alten, im Absterben begriffenen ökonomischen Verhältnisse mit der Zeit ersetzt werden. Die Anpassung der Psychologie an die Ökonomie wird, wie man sieht, fortgesetzt, aber die allmähliche psychologische Evolution geht der ökonomischen Revolution voran. [r]

Wenn sich diese Revolution dann einmal vollzogen hat, entsteht eine vollständige Übereinstimmung zwischen der Psychologie der Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Danach erblüht auf dem Boden der neuen Ökonomie eine neue Psychologie. Während einer gewissen Zeit wird diese Übereinstimmung nicht gestört; sie festigt sich sogar immer mehr. Nach und nach zeigen sich aber Ansätze einer neuen Unstimmigkeit: Die Psychologie der fortgeschrittenen Klasse sieht sich, aus dem oben angeführten Grunde, wiederum alten Produktionsverhältnissen gegenüber; ohne die Anpassung an die Ökonomie nur für einen Augenblick aufzugeben, richtet sie sich wieder nach den neuen Produktionsverhältnissen, die den Keim der Ökonomie der Zukunft bilden. Nun, sind das etwa nicht zwei Seiten ein und desselben Prozesses?

Bis jetzt erläuterten wir Marx’ Gedanken hauptsächlich an Beispielen aus dem Gebiet des Eigentumsrechts. Dieses Recht ist zweifellos ebenfalls Ideologie, jedoch eine Ideologie erster, sozusagen niederer Ordnung. Wie muss Marx’ Ansicht von der Ideologie höherer Ordnung – Wissenschaft, Philosophie, Kunst usw. – verstanden werden?

Bei der Entwicklung dieser Ideologien ist die Ökonomie in dem Sinne die Grundlage, als die Gesellschaft ein gewisses Maß an Wohlstand erreicht haben muss, um eine Schicht von Menschen herauszubilden, die ihre Kräfte ausschließlich einer wissenschaftlichen oder dieser verwandten Tätigkeit widmen. Ferner zeigt die obenangeführte Ansicht Platos und Plutarchs, dass die eigentliche Richtung der Geistestätigkeit in der Gesellschaft durch ihre Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Über die Wissenschaften hat schon Vico gesagt, dass sie aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen erwachsen. Hinsichtlich einer Wissenschaft wie der politischen Ökonomie wird das jedem, der auch nur ein wenig ihre Geschichte kennt, klar sein. Graf Peccio hat ganz richtig bemerkt, dass die politische Ökonomie ganz besonders gut jene Regel bestätigt, dass die Praxis immer und überall der Wissenschaft vorausgehe. [s] Natürlich kann man auch das in einem sehr abstrakten Sinn auslegen; man kann sagen: „Natürlich, die Wissenschaft braucht Erfahrungen, und je mehr Erfahrungen vorliegen, desto vollständiger wird die Wissenschaft.“ Darauf kommt es jedoch nicht an. Vergleichen Sie die ökonomischen Ansichten von Aristoteles und Xenophon mit den Ansichten Adam Smiths oder Ricardos, und Sie werden sehen, dass zwischen der ökonomischen Wissenschaft des alten Griechenlands einerseits und der ökonomischen Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft anderseits nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Unterschiede bestehen, ein völlig anderer Standpunkt, eine völlig andere Einstellung zur Sache. Wodurch erklärt sich dieser Unterschied? Einfach dadurch, dass die Erscheinungen selbst sich verändert haben: Die Produktionsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft sind den antiken Produktionsverhältnissen nicht mehr ähnlich. Verschiedene Verhältnisse in der Produktion schaffen verschiedene Ansichten in der Wissenschaft. Mehr noch. Vergleichen Sie die Ansichten Ricardos mit den Ansichten, sagen wir, Bastiats, und Sie werden sehen, dass diese Männer Produktionsverhältnisse, die in ihrem Gesamtcharakter unverändert geblieben sind, nämlich die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, verschieden betrachten. Wie kommt das? Weil diese Verhältnisse zur Zeit Ricardos erst im Aufblühen begriffen waren, sich erst festigten, während sie sich zur Zeit Bastiats dem Untergang zuzuwenden begannen. Die Verschiedenartigkeit des Zustandes der gleichen Produktionsverhältnisse musste sich in den Ansichten jener Männer, die sie verteidigten, notwendigerweise widerspiegeln.

Oder nehmen wir die Wissenschaft vom Staatsrecht. Wie, warum hat sich seine Theorie entwickelt?

„Die politische Streitfrage der sich bekämpfenden Parteien“, sagt Professor Gumplowicz, „der in Zwiespalt geratenen herrschenden Klassen ist der Anfang der Wissenschaft des Staatsrechts. Und so ist es denn auch der erste große politische Kampf, der uns in der zweiten Hälfte des europäischen Mittelalters entgegentritt, der Kampf der weltlichen und geistlichen Macht, der Kampf zwischen Kaiser und Papst, an den sich die ersten Anfänge der deutschen Staatsrechtswissenschaft knüpfen ... Eine zweite politische Streitfrage, die die herrschenden Klassen entzweite und somit wieder zur publizistischen Behandlung der betreffenden Partie des Staatsrechts Veranlassung gab, war die Kaiserwahl.“ [t]

Was ist nun das gegenseitige Verhältnis der Klassen? Es ist vor allem jenes Verhältnis, das die Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess miteinander eingehen: es sind die Produktionsverhältnisse. Diese Verhältnisse finden ihren Ausdruck in der politischen Organisation der Gesellschaft und im politischen Kampf verschiedener Klassen; dieser Kampf dient aber als Anlass zur Entstehung und Entwicklung verschiedener politischer Theorien; auf der ökonomischen Grundlage erhebt sich notwendigerweise der ihr entsprechende ideologische Überbau.

Aber auch das ist alles nur Ideologie, wenn nicht der ersten, so jedenfalls auch nicht der höchsten Ordnung. Wie ist es zum Beispiel um die Philosophie, um die Kunst bestellt? Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir etwas abschweifen.

Helvétius ging von dem Satz aus, dass l’homme n’est que sensibilité [12]. Von diesem Standpunkt ausgesehen, ist es klar, dass der Mensch unangenehme Empfindungen vermeidet und angenehme erstrebt. Das ist der unvermeidliche, natürliche Egoismus der empfindenden Materie. Wenn es aber so ist, wie entstehen dann beim Menschen völlig uneigennützige Bestrebungen: Wahrheitsliebe, Heldentum? Das war die Aufgabe, die Helvétius zu lösen hatte. Er brachte es nicht fertig; und um aus den Schwierigkeiten herauszukommen, strich er einfach jenes X, jene Unbekannte, die er bestimmen wollte, weg. Er begann davon zu reden, dass es nicht einen einzigen Gelehrten gebe, der die Wahrheit uneigennützig liebe, dass jeder Mensch in ihr nur den Weg zum Ruhm erblicke, im Ruhm aber den Weg zu Geld, und im Geld das Mittel, sich angenehme physische Empfindungen zu verschaffen, zum Beispiel schmackhafte Nahrung oder belles esclaves [13] zu kaufen. Es ist überflüssig, zu sagen, wie unzutreffend solche Erklärungen sind. In ihnen äußerte sich nur die von uns oben vermerkte Unfähigkeit des französischen metaphysischen Materialismus, mit den Fragen der Entwicklung fertig zu werden.

Dem Vater des modernen dialektischen Materialismus wird eine Auffassung von der Geschichte des menschlichen Denkens zugeschrieben, die nichts anderes ist als eine Wiederholung der metaphysischen Gedankengänge von Helvétius. Marx’ Ansicht von der Geschichte beispielsweise der Philosophie wurde häufig etwa so verstanden: Wenn sich Kant mit Fragen der transzendentalen Ästhetik befasste, wenn er über die Kategorien des Verstandes oder über Antinomien der Vernunft sprach, so waren das alles nur leere Phrasen; in Wirklichkeit habe er sich weder für Ästhetik noch für Antinomien oder Kategorien interessiert; er habe nur eines gesucht: der Klasse, der er angehörte, das heißt dem deutschen Kleinbürgertum, möglichst viele schmackhafte Gerichte und „schöne Sklavinnen“ zu verschaffen. Kategorien und Antinomien erschienen ihm als ein ausgezeichnetes Mittel zu diesem Zwecke, und so begann er sie „zu züchten“.

Muss man erst beteuern, dass das völliger Unsinn ist?! Wenn Marx sagt, dass eine bestimmte Theorie einer bestimmten Epoche der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft entspricht, so will er damit doch keinesfalls sagen, dass die denkenden Vertreter der während dieser Epoche herrschenden Klasse ihre Ansichten den Interessen der mehr oder weniger reichen, der mehr oder weniger freigebigen Wohltäter bewusst anpassten.

Speichellecker hat es natürlich immer und überall gegeben, doch nicht sie waren es, die die menschliche Vernunft vorwärts gebracht haben. Jene jedoch, die sie tatsächlich vorwärts brachten, bemühten sich um die Wahrheit, nicht aber um die Interessen der Mächtigen dieser Welt. [u]

„Auf den verschiedenen Formen des Eigentums“, sagt Marx, „auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen.“ [14]

Der Entstehungsprozess des ideologischen Überbaus vollzieht sich auf eine für die Menschen unmerkliche Weise. Sie betrachten diesen Überbau nicht als ein vorübergehendes Ergebnis vorübergehender Verhältnisse, sondern als etwas Natürliches und seinem eigentlichen Wesen nach Unbedingtes. Einzelne Personen, deren Ansichten und Gefühle unter dem Einfluss der Erziehung und der Umwelt überhaupt entstanden sind, können vom aufrichtigsten, durchaus selbstlosen Verhältnis zu jenen Ansichten und jenen Formen des Zusammenlebens erfüllt sein, die auf dem Boden mehr oder weniger enger Klasseninteressen historisch entstanden sind. Das gleiche betrifft auch ganze Parteien. Die französischen Demokraten von 1848 brachten die Bestrebungen des Kleinbürgertums zum Ausdruck. Das Kleinbürgertum war natürlich bestrebt, seine Klasseninteressen zu schützen.

„Man muss sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen“, sagt Marx, „als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, dass die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muss sich ebenso wenig vorstellen, dass die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, dass sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, dass sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und. die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“ [v]

Das sagt Marx in seinem Buch über den coup d’état [15] Napoleons III. In einem anderen seiner Werke stellt er die psychologische Dialektik der Klassen vielleicht noch klarer dar. Dort spricht er über jene Befreierrolle, die einzelne Klassen manchmal zu spielen genötigt sind:

„Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung und damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eignen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. Damit ... ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muss ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein ... Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muss umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Klasse der Bourgeoisie.“ [w]

Nach dieser vorangegangenen Erläuterung fällt es nicht mehr schwer, sich Marx’ Ansicht von der Ideologie der höchsten Ordnung, zum Beispiel von der Philosophie und Kunst, klarzumachen. Um der größeren Anschaulichkeit willen wollen wir ihr jedoch die Ansicht Hippolyte Taines gegenüberstellen:

„Wir gelangen also dazu, die Regel aufzustellen, dass man sich, um ein Kunstwerk, einen Künstler, eine Gruppe von Künstlern richtig zu verstehen“, sagt dieser Schriftsteller, „mit Genauigkeit den allgemeinen Zustand des Geistes und der Sitten derjenigen Zeit vorstellen muss, der sie angehören. Dort findet sich die letzte Erklärung, dort steckt die Grundursache, welche alles Übrige bestimmt. Diese Wahrheit, meine Herren, wird durch die Erfahrung bestätigt. Wenn man die hauptsächlichsten Epochen der Kunstgeschichte durchläuft, findet man in der Tat, dass die Künste plötzlich erscheinen und dann wieder verschwinden zu der gleichen Zeit wie bestimmte geistige und sittliche Zustände, mit denen sie verknüpft sind. – Das griechische Trauerspiel zum Beispiel, das des Aischylos, des Sophokles, des Euripides, kommt zur Zeit des Sieges der Griechen über die Perser zum Vorschein, in der heldenmütigen Epoche der kleinen, freien Stadtgemeinden, in dem Augenblick des großen Aufschwungs, mit welchem sie ihre Unabhängigkeit errangen und ihren Einfluss auf die gesittete Welt begründeten; und wir sehen sie verschwinden zusammen mit dieser Unabhängigkeit und Macht, als die Verweichlichung der Charaktere und die mazedonische Eroberung Griechenland an die Fremden ausliefert. Die gotische Baukunst entwickelt sich auf gleiche Weise in der Frührenaissance des 11. Jahrhunderts, mit der endgültigen Herstellung der Lehnsherrschaft, zu der Zeit, als sich die Gesellschaft, befreit von Normannen und Räubern, zu festigen beginnt, und man sieht sie in demjenigen Augenblicke verschwinden, in dem sich gegen das Ende des 15. Jahrhunderts dieses soldatische Herrentum der kleinen unabhängigen Barone zusammen mit den aus ihm herrührenden Sitten durch das Herannahen der modernen Monarchien auflöst. Ebenso entfaltet sich die holländische Malerei von jenem glorreichen Zeitpunkte an, in welchem sich Holland kraft seiner Hartnäckigkeit und seines Mutes von der spanischen Herrschaft endlich ganz befreit, England mit ebenbürtigen Waffen bekämpft und der reichste, freieste, gewerbetreibendste und blühendste aller europäischen Staaten wird. – Wir sehen sie verfallen zu Anfang des 18. Jahrhunderts, als Holland, auf die zweite Stufe herabgesunken, die erste England willig überlässt und sich damit begnügt, nichts mehr als ein gut geregeltes, gut verwaltetes, friedliches Bank- und Kaufhaus zu sein, in welchem der Mensch jenseits alles großen Ehrgeizes und aller großen Erregungen als ein ehrbarer Bürger still nach seinem Belieben leben kann. Das französische Trauerspiel endlich beginnt gleicherweise zu der Zeit, als die ordnungsmäßige und ritterliche Monarchie unter Ludwig XIV. das Reich der Wohlanständigkeit, das Hofleben, das schöne, würdevolle Auftreten und das zierlich-feine, adlige Bediententum begründet – und es zergeht in dem Augenblicke, in welchem diese Adelsgesellschaft mitsamt den Vorzimmer-Gesinnungen und -Sitten durch die Revolution verdrängt wird.

... und gleichwie man das körperliche Wärmemaß beobachtet, um das Vorhandensein dieser oder jener Pflanzenart zu erklären, des Maises oder des Hafers, der Aloe oder der Kiefer, ebenso ist es notwendig, das geistige Wärmemaß zu erforschen, um das Vorhandensein einer Kunstart zu begreifen: die heidnische Bildhauerei oder die realistische Malerei, die gotische Baukunst oder das klassische Schrifttum, die sinnliche Musik oder die idealistische Dichtung. So wie die Werke der lebendigen Natur, so werden auch die des menschlichen Geistes nur verständlich durch ihre Daseinssphäre.“ [x]

Mit all dem wird jeder beliebige Anhänger von Marx unbedingt einverstanden sein; ja, besonders jedes Kunstwerk, wie auch jedes beliebige philosophische System, kann man aus der Verfassung der Hirne und Sitten seiner Zeit erklären. Aber wie erklärt sich diese allgemeine Verfassung der Hirne und Sitten? Marx’ Anhänger denken, dass sie sich aus der Gesellschaftsordnung, aus den Eigenarten des sozialen Milieus erklären lasse. „Wenn sich eine große Veränderung in der Lage des Menschen vollzieht, führt sie schrittweise auch eine entsprechende Veränderung in den Anschauungen des Menschen herbei“ [y], sagt der gleiche Taine. Das ist durchaus richtig. Es fragt sich nur, was die Veränderungen in der Lage des gesellschaftlichen Menschen, das heißt in der Gesellschaftsordnung, hervorruft. Nur in dieser Frage weichen die „ökonomischen Materialisten“ von Taine ab.

Für Taine ist die Aufgabe der Geschichte als Wissenschaft letzten Endes eine „psychologische Aufgabe“. Die allgemeine Verfassung der Hirne und Sitten erzeugt bei ihm nicht nur verschiedene Arten von Kunst, Literatur, Philosophie, sondern auch die Industrie dieses Volkes, alle seine gesellschaftlichen Einrichtungen. Das heißt aber, dass das soziale Milieu seine letzte Ursache in der „Verfassung der Hirne und Sitten“ hat.

Es ergibt sich also, dass die Psyche des gesellschaftlichen Menschen durch seine Stellung, seine Stellung aber durch seine Psyche bestimmt wird. Das ist die uns bereits bekannte Antinomie, mit der die Aufklärer des 18.Jahrhunderts nicht fertig werden konnten. Taine konnte diese Antinomie nicht lösen. Er lieferte nur in einer Reihe bemerkenswerter Werke zahlreiche glänzende Illustrationen zu ihrem ersten Satz, zu der These: Die Verfassung der Hirne und Sitten wird durch das soziale Milieu bestimmt.

Taines französische Zeitgenossen, die seine ästhetische Theorie bestritten, stellten die Antithese in den Vordergrund: Die Eigenschaften des sozialen Milieus werden durch die Verfassung der Hirne und Sitten bestimmt. [z] Dieser Streit kann bis zum Jüngsten Gericht fortgeführt werden, ohne die verhängnisvolle Antinomie zu lösen oder auch nur ihre Existenz zu bemerken.

Nur die historische Theorie von Marx löst diese Antinomie und führt damit den Streit einem glücklichen Ende zu oder gibt mindestens den Menschen, die Ohren haben, zu hören, und ein Hirn, zu überlegen, die Möglichkeit, ihn glücklich abzuschließen.

Die Eigenschaften des sozialen Milieus werden von dem jeweiligen Stand der Produktivkräfte bestimmt. Wenn der Stand der Produktivkräfte gegeben ist, sind auch die Eigenschaften des sozialen Milieus gegeben, ist auch die ihm entsprechende Psychologie gegeben und ist auch die Wechselwirkung zwischen dem Milieu einerseits, den Hirnen und Sitten anderseits gegeben. Brunetière ist durchaus im Recht, wenn er sagt, dass wir dem Milieu nicht bloß unterworfen sind, sondern dass wir es uns auch unseren Bedürfnissen entsprechend formen. Sie werden fragen, woher Bedürfnisse kommen, die den Eigenschaften unserer Umwelt nicht entsprechen. Sie entstehen in uns – wenn wir das sagen, meinen wir nicht nur die materiellen, sondern auch alle sogenannten geistigen Bedürfnisse der Menschen – immer durch die gleiche historische Bewegung, immer durch dieselbe Entwicklung der Produktivkräfte, vermöge deren sich jede Gesellschaftsordnung früher oder später als unbefriedigend, veraltet, vielleicht des radikalen Umbaus bedürftig, vielleicht aber nur zum Abbruch verwendbar erweist. Wir haben bereits oben am Beispiel der Rechtsinstitutionen gezeigt, auf welche Weise die Psychologie der Menschen die bestehenden Formen ihres Zusammenlebens überholen kann.

Wir sind davon überzeugt, dass viele, selbst uns wohlgesinnte Leser dieser Zeilen an eine Menge Beispiele, an eine Menge historischer Erscheinungen denken werden, die, von unserem Standpunkt aus gesehen, scheinbar nicht erklärt werden können. Diese Leser sind schon auf dem Sprunge, uns zu sagen: „Ihr habt recht, jedoch nicht völlig; recht haben auch, jedoch ebenfalls nicht völlig, die Menschen, die entgegen gesetzte Ansichten vertreten; sowohl euch als auch ihnen ist die Wahrheit nur zur Hälfte sichtbar.“ Doch gemach, mein Leser, suchen Sie Ihr Heil nicht im Eklektizismus, ohne sich alles das zu Eigen gemacht zu haben, was die moderne monistische, das heißt materialistische, Ansicht von der Geschichte zu geben imstande ist.

Bis jetzt waren unsere Thesen notwendigerweise sehr abstrakt. Aber wir wissen schon: Es gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist immer konkret. Wir müssen unseren Thesen eine konkretere Form verleihen.

Da so gut wie jede Gesellschaft unter dem Einfluss ihrer Nachbarn steht, kann man sagen, dass es für jede Gesellschaft ihrerseits ein gewisses gesellschaftliches historisches Milieu gibt, das ihre Entwicklung beeinflusst. Die Summe der Einflüsse, die jede Gesellschaft seitens ihrer Nachbarn erfährt, kann niemals der Summe jener Einflüsse gleich sein, denen eine andere Gesellschaft gleichzeitig ausgesetzt ist. Darum lebt jede Gesellschaft in ihrem eigenen historischen Milieu, das dem historischen Milieu anderer Völker sehr häufig ähnlich sein kann – und es tatsächlich auch ist –, aber niemals mit ihm identisch ist oder sein kann. Das trägt ein außerordentlich starkes Element der Vielfalt in jenen Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, der, von unserem früheren abstrakten Standpunkt aus gesehen, äußerst schematisch erschien.

Ein Beispiel. Der Gentilverband ist eine Form des Zusammenlebens, die allen menschlichen Gesellschaften auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung eigen ist. Aber der Einfluss des historischen Milieus verändert das Geschick der Gens bei verschiedenen Stämmen auf das mannigfaltigste. Er verleiht der Gens diesen oder jenen, man kann sagen, individuellen Charakter, er hemmt oder beschleunigt ihren Zerfall und verleiht insbesondere diesem Zerfallsprozess die verschiedensten Formen. Die Verschiedenheit des Zerfallsprozesses bedingt aber ihrerseits die Mannigfaltigkeit jener Formen des Zusammenlebens, denen die Gentilordnung ihren Platz abtritt. Bis jetzt haben wir gesagt: Die Entwicklung der Produktivkräfte führt zum Entstehen des Privateigentums, zum Verschwinden des Urkommunismus. Jetzt müssen wir sagen: Der Charakter des Privateigentums, das auf den Trümmern des Urkommunismus entsteht, erhält durch den Einfluss des historischen Milieus, das jede Gesellschaft umgibt, mannigfaltige Formen.

„Ein genaueres Studium der asiatischen, speziell der indischen, Gemeineigentumsformen würde nachweisen, wie aus den verschiedenen Formen des naturwüchsigen Gemeineigentums sich verschiedene Formen seiner Auflösung ergeben. So lassen sich z. B. die verschiedenen Originaltypen von römischem und germanischem Privateigentum aus verschiedenen Formen von indischem Gemeineigentum ableiten.“ [ä]

Der Einfluss des historischen Milieus, das eine Gesellschaft umgibt, zeigt sich natürlich auch in der Entwicklung ihrer Ideologie. Schwächt nun der fremdländische Einfluss die Abhängigkeit dieser Entwicklung von der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ab, und wenn ja, in welchem Masse schwächt er sie ab?

Vergleichen Sie die Äneis mit der Odyssee oder die französische klassische Tragödie mit der klassischen Tragödie der Griechen. Vergleichen Sie die russische Tragödie des 18. Jahrhunderts mit der klassischen französischen Tragödie. Was werden Sie sehen? Die Äneis ist nur eine Nachahmung der Odyssee, die klassische Tragödie der Franzosen ist nur eine Nachahmung der griechischen Tragödie; die russische Tragödie des 18. Jahrhunderts ist, wenn auch von unkundigen Händen, nach Gestalt und Ebenbild der französischen geschaffen. Überall Nachahmungen; doch wird der Nachahmer von seinem Vorbild durch den ganzen Abstand getrennt, der zwischen der Gesellschaft, die ihn, den Nachahmer, hervorbrachte, und der Gesellschaft besteht, in der das Vorbild lebte. Und beachten Sie, wir sprechen nicht von der größeren oder geringeren Vollkommenheit der Bearbeitung, sondern von dem, was die Seele des Kunstwerks ausmacht. Wem ähnelt Racines Achilles: einem Griechen, der den Zustand der Barbarei gerade erst verlassen hat, oder einem Marquis – talon rouge [16] – des 17. Jahrhunderts? Von den Personen der Äneis wurde gesagt, sie seien Römer aus der Zeit des Augustus. Man kann zwar schwerlich behaupten, die Personen der russischen sogenannten Tragödie des 18. Jahrhunderts stellten sich uns als russische Menschen jener Zeit dar, aber die Unzulänglichkeit der Tragödie bezeugt schon den Zustand der russischen Gesellschaft. Sie offenbaren deren Unreife.

Noch ein Beispiel. Locke war zweifellos der Lehrer der überwiegenden Mehrheit der französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts. (Helvétius nannte ihn den größten Metaphysiker aller Zeiten und Völker.) Und doch klafft zwischen Locke und seinen französischen Schülern genau der gleiche Abstand, der die englische Gesellschaft der “Glorious Revolution“ von der französischen Gesellschaft trennt, wie sie einige Jahrzehnte vor der “Great Rebellion“ des französischen Volkes war.

Ein drittes Beispiel. Die „wahren Sozialisten“ Deutschlands in den vierziger Jahren importierten ihre Ideen geradeswegs aus Frankreich. Und doch erhielten diese Ideen, man kann sagen, schon an der Grenze ihre Prägung von jener Gesellschaft, in der sie sich verbreiten sollten.

Also: Der Einfluss der Literatur eines Landes auf die Literatur des anderen ist direkt proportional der Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in diesen Ländern. Er besteht überhaupt nicht, wenn diese Ähnlichkeit gleich Null ist. Beispiel: Die afrikanischen Neger haben bis auf den heutigen Tag nicht den geringsten Einfluss der europäischen Literaturen verspürt. Dieser Einfluss ist einseitig, wenn das eine Volk infolge seiner Rückständigkeit dem anderen weder hinsichtlich der Formen noch hinsichtlich der Inhalte etwas geben kann. Beispiel: Die französische Literatur des vorigen Jahrhunderts beeinflusste die russische Literatur, ohne selber auch nur den geringsten russischen Einfluss zu verspüren. Schließlich ist dieser Einfluss wechselseitig, wenn jedes der beiden im Austausch stehenden Völker infolge der Ähnlichkeit des gesellschaftlichen Lebens und folglich auch der kulturellen Entwicklung von dem anderen etwas entlehnen kann. Beispiel: Die französische Literatur beeinflusste die englische, erfuhr aber auch selber deren Einfluss.

Die pseudoklassische englische Literatur gefiel der englischen Aristokratie seinerzeit sehr gut. Dennoch kamen die englischen Nachahmer nie ihren französischen Vorbildern gleich. Das deshalb, weil alle Bemühungen der englischen Aristokratie nicht imstande waren, jene gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen die französische pseudoklassische Literatur aufgeblüht war, auf England zu übertragen.

Die französischen Philosophen begeisterten sich für die Philosophie Lockes. Aber sie gingen bedeutend weiter als ihr Lehrer. Das deshalb, weil jene Klasse, die sie in Frankreich vertraten, in ihrem Kampf gegen die alte Ordnung bedeutend weiter fortgeschritten war als die Klasse der englischen Gesellschaft, deren Bestrebungen in Lockes philosophischen Werken zum Ausdruck kamen.

Wenn wir – wie zum Beispiel im Europa der Neuzeit – ein ganzes System von Gesellschaften haben, die einander außerordentlich stark beeinflussen, so kompliziert sich die Entwicklung der Ideologie in jeder dieser Gesellschaften ebenso sehr, wie sich ihre ökonomische Entwicklung unter dem Einfluss eines ständigen Handelsverkehrs mit anderen Ländern kompliziert.

Wir haben dann so etwas wie eine einzige, der gesamten zivilisierten Menschheit gemeinsame Literatur vor uns. Wie aber die zoologische Gattung in Arten zerfällt, so zerfällt diese Weltliteratur in Literaturen einzelner Völker. Als Hume nach Frankreich kam, begrüßten ihn die französischen „Philosophen“ als ihren Gesinnungsgenossen. Eines Tages jedoch, während eines Diners bei Holbach, begann dieser scheinbare Gesinnungsgenosse der französischen Philosophen über die „natürliche Religion“ zu sprechen. „Was die Atheisten anbetrifft“, sagte er, „so glaube ich nicht an ihre Existenz: ich bin nie einem begegnet.“ – „Sie haben bis jetzt wenig Glück gehabt“, antwortete ihm der Verfasser des „Systeme de la nature“, „erstmalig sehen Sie hier bei Tisch siebzehn Atheisten.“ Der gleiche Hume übte starken Einfluss auf Kant aus, dem er, nach dessen freimütigem Geständnis, zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach. Trotzdem unterscheidet sich Kants Philosophie wesentlich von der Philosophie Humes. Der gleiche Ideenbestand führte zum militanten Atheismus der französischen Materialisten, zum religiösen Indifferentismus Humes, zur „praktischen“ Religion Kants. Die Sache ist die, dass die religiöse Frage zu jener Zeit in England nicht die Rolle spielte, die sie in Frankreich spielte, und in Frankreich nicht die gleiche wie in Deutschland. Dieser Unterschied in der Bedeutung der religiösen Frage wurde jedoch dadurch bedingt, dass die gesellschaftlichen Kräfte in jedem dieser Länder nicht in den gleichen Wechselbeziehungen zueinander standen wie in den beiden anderen. Die ihrem Wesen nach gleichen, dem Grad ihrer Entwicklung nach jedoch ungleichen gesellschaftlichen Elemente verbanden sich in den verschiedenen europäischen Ländern auf verschiedene Art miteinander und verursachten damit in jedem eine höchst eigenartige „Verfassung der Hirne und Sitten“, die in der nationalen Literatur, in der Philosophie, in der Kunst usw. ihren Ausdruck fand. Infolgedessen konnte dieselbe Frage die Franzosen leidenschaftlich erregen und die Engländer kaltlassen, das gleiche Argument konnte von fortschrittlichen Deutschen geachtet, von fortschrittlichen Franzosen glühend gehasst werden. Wem verdankt die deutsche Philosophie ihre kolossalen Erfolge? Der deutschen Wirklichkeit, antwortet Hegel, die Franzosen haben keine Zeit, sich mit Philosophie zu befassen, das Leben lenkt sie zum Praktischen, die deutsche Wirklichkeit aber ist vernünftiger, und die Deutschen können ruhig beim Theoretischen stehenbleiben. [17] Eigentlich bestand diese angebliche Vernünftigkeit der deutschen Wirklichkeit in der Armut des deutschen sozialen und politischen Lebens, die den gebildeten Deutschen jener Zeit nur die Wahl ließ, entweder als Beamte der unerfreulichen „Wirklichkeit“ zu dienen (sich dem „Praktischen“ hinzugeben), oder Trost in der Theorie zu suchen und die gesamte Kraft ihrer Leidenschaft, die ganze Energie ihres Denkens auf dieses Gebiet zu konzentrieren. Hätten jedoch die dem „Praktischen“ hingegebenen fortschrittlicheren Länder das theoretische Denken der Deutschen nicht vorwärts gestoßen, hätten sie die Deutschen nicht in ihrem „dogmatischen Schlummer“ unterbrochen, so würde diese negative Eigenschaft – die Armut des sozialen und politischen Lebens – niemals dieses großartige positive Ergebnis, die glanzvolle Blüte der deutschen Philosophie erzeugt haben.

Bei Goethe sagt Mephistopheles: „{Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.}“ Auf die Geschichte der deutschen Philosophie angewandt, kann man fast folgendes Paradoxon wagen: Unsinn erzeugte Vernunft, Plage erwies sich als Wohltat.

Offenkundig können wir diesen Teil unserer Darstellung jetzt beenden. Wir fassen das Gesagte zusammen.

Es gibt eine Wechselwirkung im internationalen Leben wie auch im inneren Leben der Völker; sie ist durchaus natürlich und völlig unvermeidlich, erklärt jedoch an und für sich absolut noch nichts. Um die Wechselwirkung zu verstehen, muss man die Eigenschaften der wirkenden Kräfte erklären, diese Eigenschaften können aber ihre letzte Erklärung nicht in der Tatsache der Wechselwirkung finden, mögen sie sich durch sie auch noch so stark verändern. In unserem Fall finden die Qualitäten der wirkenden Kräfte, die Eigenschaften der einander beeinflussenden gesellschaftlichen Organismen ihre Erklärung letzten Endes in der uns bereits bekannten Ursache: in der ökonomischen Struktur dieser Organismen, die vom Stand ihrer Produktivkräfte bestimmt wird.

Jetzt hat die von uns vorgetragene Philosophie der Geschichte hoffentlich eine etwas konkretere Form erhalten. Und doch ist sie immer noch abstrakt, immer noch fern vom „lebendigen Leben“. Wir müssen einen weiteren Schritt zu diesem Leben hin tun.

Erst sprachen wir von der „Gesellschaft“, dann gingen wir zur wechselseitigen Beeinflussung der Gesellschaften über. Nun sind aber die Gesellschaften in ihrer Zusammensetzung nicht homogen; wissen wir doch bereits, dass der Zerfall des Urkommunismus zur Ungleichheit, zur Entstehung der Klassen führt, die verschiedene, häufig völlig entgegen gesetzte Interessen haben. Wir wissen bereits, dass die Klassen einen fast ununterbrochenen, hier verborgenen, da offenen, einmal chronischen, ein andermal akuten Kampf gegeneinander führen. Und dieser Kampf übt einen ungeheuren, höchst wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Ideologien aus. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir in dieser Entwicklung nichts verstehen können, wenn wir den Klassenkampf nicht in Betracht ziehen.

„Wollt ihr, wenn man so sagen darf, die wahre Ursache der Tragödie Voltaires erfahren?“ fragt Brunetière. „Sucht diese erstens in Voltaires Persönlichkeit, insbesondere aber in der auf ihm lastenden Notwendigkeit, etwas anderes zu schaffen, als es Racine und Quinault gemacht haben, und doch gleichzeitig in ihren Fußstapfen zu schreiten. Über das romantische Drama, über das Drama Hugos und Dumas’ gestatte ich mir zu sagen, dass ihre Definition gänzlich in der Definition des Voltaireschen Dramas enthalten ist. Wenn die Romantik auf den Theaterbrettern dieses oder jenes nicht tun wollte, so deshalb, weil sie etwas dem Klassizismus Entgegen gesetztes schaffen wollte ... In der Literatur wie in der Kunst ist, nächst dem Einfluss der Persönlichkeit, der Einfluss eines Kunstwerks auf das andere der Haupteinfluss. Manchmal sind wir bestrebt, mit unseren Vorgängern in ihrem eigenen Genre zu rivalisieren – auf diesem Wege werden gewisse Methoden gefestigt, entstehen Schulen, errichten sich Traditionen. Manchmal aber sind wir bestrebt, anders zu handeln, als sie es getan haben – dann tritt die Entwicklung in Widerspruch zur Tradition, es entstehen neue Schulen, die Methoden werden umgeformt.“ [ö]

Wir lassen die Rolle der Persönlichkeit zunächst beiseite und wollen nur bemerken, dass es schon lange an der Zeit ist, über den „Einfluss eines Kunstwerkes auf das andere“ nachzudenken. Buchstäblich in allen Ideologien vollzieht sich die Entwicklung auf dem von Brunetière dargelegten Wege. Die Ideologen einer Epoche folgen entweder den Spuren ihrer Vorgänger, indem sie deren Gedanken entwickeln, ihre Methoden anwenden und sich nur ein „Rivalisieren“ mit ihnen gestatten, oder sie erheben sich gegen die alten Ideen und Methoden und stellen sich in Widerspruch zu ihnen. Die organischen Epochen werden von den kritischen abgelöst, würde Saint-Simon gesagt haben. Bemerkenswert sind vor allem die letzteren.

Nehmen Sie eine beliebige Frage, zum Beispiel die Frage des Geldes. Für die Merkantilisten war das Geld Reichtum par excellence; sie maßen dem Geld eine übertriebene, fast ausschließliche Bedeutung bei. Die Menschen, die sich gegen die Merkantilisten erhoben und „in Widerspruch“ zu ihnen gerieten, berichtigten nicht nur deren Einseitigkeit, sondern verfielen selber, mindestens die eifrigsten unter ihnen, einer Einseitigkeit, und zwar dem direkten Extrem: Geld sei nur ein konventionelles Zeichen, an und für sich habe es nicht den geringsten Wert. So betrachtete zum Beispiel Hume das Geld. Wenn man auch die Ansicht der Merkantilisten aus der geringen Entwicklung der Warenproduktion und des Verkehrs jener Zeit erklären könnte, so wäre es doch sonderbar, die Ansichten ihrer Gegner einfach damit erklären zu wollen, dass sich Warenproduktion und Verkehr inzwischen stark entwickelten. Denn diese Entwicklung hatte das Geld keinen Augenblick in ein konventionelles Zeichen ohne inneren Wert verwandelt. Woher stammt dann die Radikalität in Humes Ansicht? Sie entstand aus der Tatsache des Kampfes, aus dem „Widerspruch“ zu den Merkantilisten. Er wollte es „umgekehrt machen“ als die Merkantilisten, ähnlich wie es die Romantiker „umgekehrt machen wollten“ als die Klassiker. Darum kann man sagen, wie Brunetière über das romantische Drama, dass Humes Ansicht vom Gelde in der Ansicht der Merkantilisten als deren Gegensatz enthalten ist.

Ein anderes Beispiel: Die Philosophen des 18. Jahrhunderts kämpften hart und entschlossen gegen jeden Mystizismus. Alle französischen Utopisten sind vom Religiösen mehr oder weniger durchdrungen gewesen. Was hat diese Rückkehr zum Mystizismus hervorgerufen? Hatten solche Menschen wie der Verfasser des „Neuen Christentums“ [18] wirklich weniger «lumières» [19] als die Enzyklopädisten? Nein, sie hatten nicht weniger lumières, und im allgemeinen waren ihre Ansichten mit den Ansichten der Enzyklopädisten sehr eng verknüpft; sie stammten von ihnen in direkter Linie ab, aber sie traten in einigen Fragen, das heißt vor allem in der Frage der gesellschaftlichen Organisation, „in Widerspruch“ zu ihnen; auch sie hatten das Bestreben, es „umgekehrt zu machen“ als die Enzyklopädisten; ihr Verhältnis zur Religion war einfach der Gegensatz zu der Einstellung der „Philosophen“; ihre Ansicht über die Religion war in der Ansicht dieser letzteren bereits enthalten.

Nehmen Sie schließlich die Geschichte der Philosophie: Im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte der Materialismus; unter seinem Banner trat die radikale Fraktion des französischen tiers état [20] auf. Im England des 17. Jahrhunderts begeisterten sich für den Materialismus die Verteidiger der alten Ordnung, die Aristokraten, die Anhänger des Absolutismus. Die Ursachen sind auch hier klar. Jene Menschen, zu denen die englischen Aristokraten der Restaurationsepoche „in Widerspruch“ standen, waren extreme religiöse Fanatiker; um es „umgekehrt zu machen“ als sie, mussten die Reaktionäre bis zum Materialismus gehen. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war es gerade umgekehrt: für die Religion waren die Verteidiger der alten Ordnung, und zum Materialismus gelangten die radikalen Revolutionäre. Solcher Beispiele ist die Geschichte des menschlichen Denkens voll, und sie alle bestätigen das gleiche: Um die „Verfassung der Hirne“ jeder kritischen Epoche zu begreifen, um zu erklären, warum während einer Epoche gerade diese und keine anderen Lehren vorherrschten, muss man erst die „Verfassung der Hirne“ in der vorangegangenen Epoche kennenlernen, muss man in Erfahrung bringen, welche Lehren und Richtungen damals geherrscht hatten. Anders werden wir die Geistesverfassung einer Epoche nie begreifen können, mögen wir ihre Ökonomie noch so gut kennengelernt haben.

Aber auch das soll nicht abstrakt verstanden werden, wie es die russische „Intelligenz“ zu tun pflegt. Die Ideologen einer Epoche führen mit ihren Gegnern in allen Fragen des menschlichen Wissens und der gesellschaftlichen Verhältnisse niemals einen Kampf sur toute la ligne. [21] Die französischen Utopisten des 19. Jahrhunderts stimmten in zahlreichen anthropologischen Ansichten mit den Enzyklopädisten völlig überein; die englischen Aristokraten der Restaurationsepoche waren mit den ihnen verhassten Puritanern in vielen Fragen, zum Beispiel des zivilen Rechts usw., völlig der gleichen Meinung. Das psychologische Territorium unterteilt sich in Provinzen, die Provinzen in Kreise, die Kreise in Bezirke und Gemeinden, die Gemeinden sind Verbände von Einzelpersonen (das heißt von Einzelfragen). Wenn ein „ Widerspruch“ entsteht, wenn ein Kampf entbrennt, erfasst er gewöhnlich bloß einzelne Provinzen – wenn nicht gar bloß einzelne Kreise – und spiegelt sich in den benachbarten Gebieten nur wider. Angegriffen wird vor allem jene Provinz, die in der abgelaufenen Zeitspanne die Hegemonie innehatte. Erst nach und nach ergreifen die „Kriegsnöte“ die nächsten Nachbarn, die treuesten Verbündeten der angegriffenen Provinz. Also muss hinzugefügt werden, dass man bei der Feststellung des Charakters einer bestimmten kritischen Epoche nicht nur die allgemeinen psychologischen Züge der vorangegangenen organischen Periode, sondern auch die individuellen Eigenarten ihrer Psychologie in Erfahrung bringen muss. Während einer geschichtlichen Zeitspanne herrscht die Religion vor, während einer anderen die Politik usw. Dieser Umstand spiegelt sich unvermeidlich im Charakter der ihnen jeweils folgenden kritischen Epochen wider, von denen jede, je nach den Umständen, entweder die alte Hegemonie weiterhin formal fortsetzt, wobei ein neuer, entgegen gesetzter Inhalt in die herrschenden Begriffe hineingetragen wird (Beispiel: die erste englische Revolution), oder sie vollständig ablehnt, wodurch die Hegemonie auf neue Provinzen des Denkens übergeht (Beispiel: die französische Literatur der Aufklärung). Wenn wir bedenken, dass diese Streitigkeiten um die Hegemonie einzelner psychologischer Provinzen auf ihre Nachbarn übergreifen, wobei sie sich in jedem Einzelfall in verschiedenem Maße und in verschiedener Richtung ausbreiten, dann begreifen wir, wie wenig man sich hier – wie überall – mit abstrakten Thesen begnügen darf.

„Das alles mag vielleicht so sein“, erwidern unsere Gegner, „aber wir vermögen nicht einzusehen, was der Klassenkampf hiermit zu tun hat; und wir meinen, dass ihr, nachdem ihr mit einem Hoch auf den Klassenkampf begonnen habt, ihn schließlich zu Grabe tragen werdet. Ihr selber gebt jetzt zu, dass die Entwicklung des menschlichen Denkens nach irgendwelchen besonderen Gesetzen verläuft, die mit den Gesetzen der Ökonomie oder mit jener Entwicklung der Produktivkräfte, mit denen ihr uns in den Ohren gelegen habt, gar nichts zu tun haben.“ – Wir beeilen uns zu antworten.

Dass es in der Entwicklung des menschlichen Denkens, genauer gesagt, in den Verbindungen menschlicher Begriffe und Vorstellungen, gewisse eigene Gesetze gibt, wurde – soweit uns bekannt – noch von keinem einzigen „ökonomischen“ Materialisten bestritten. Niemand unter ihnen identifizierte zum Beispiel die Gesetze der Logik mit den Gesetzen des Warenumsatzes. Dessen ungeachtet hielt es keiner dieser Materialisten für möglich, in den Denkgesetzen die letzte Ursache, die Haupttriebfeder der geistigen Entwicklung der Menschheit zu suchen. Gerade das unterscheidet die „ökonomischen Materialisten“ so vorteilhaft von den Idealisten und besonders von den Eklektikern.

Sobald der Magen eine gewisse Menge an Nahrung aufgenommen hat, beginnt er, entsprechend den allgemeinen Verdauungsgesetzen, zu arbeiten. Kann man nun aber mit Hilfe dieser Gesetze die Frage beantworten, warum Ihr Magen täglich schmackhafte und gehaltvolle Nahrung aufnimmt, in meinem aber eine solche Nahrung ein seltener Gast ist? Erklären diese Gesetze, warum die einen zu viel essen, andere aber Hungers sterben? Es scheint doch, dass man die Erklärung auf einem anderen Gebiet suchen müsse, in der Wirkung von Gesetzen anderer Art. Das betrifft auch den Menschenverstand. Sobald er in eine gewisse Lage versetzt ist, sobald ihm seine Umwelt gewisse Eindrücke vermittelt, verbindet er sie nach bestimmten allgemeinen Gesetzen (wobei auch hier die Ergebnisse, infolge der Verschiedenheit der erfahrenen Eindrücke, äußerst mannigfaltige Gestalt annehmen). Was versetzt ihn aber in diese Lage? Wodurch sind Zustrom und Charakter der neuen Eindrücke bedingt? Das ist eine Frage, die sich durch Denkgesetze nicht löst.

Weiter. Stellen Sie sich vor, eine elastische Kugel fällt von einem hohen Turm. Ihre Bewegung vollzieht sich nach einem jedermann bekannten und sehr einfachen Gesetz der Mechanik. Nun fällt die Kugel aber auf eine schiefe Ebene, und ihre Bewegung verändert sich nach einem anderen, ebenfalls sehr einfachen und jedermann bekannten Gesetz der Mechanik. Das Ergebnis ist eine gebrochene Bahnlinie, von der man sagen kann und muss, dass sie ihre Entstehung der vereinten Wirkung der beiden erwähnten Gesetze verdankt. Woher kam aber die schiefe Ebene, auf die die Kugel aufschlug? Das erklärt weder das erste Gesetz noch das zweite, noch auch ihre vereinte Wirkung. Das betrifft auch das menschliche Denken. Woher stammten die Umstände, die den Denkvorgang der vereinten Wirkung dieser oder jener Gesetze unterwarfen? Das erklären weder die einzelnen Denkgesetze noch ihre vereinte Wirkung.

Die Umstände, die den Denkvorgang bedingen, müssen dort gesucht werden, wo die französischen Aufklärer sie suchten. Aber wir bleiben jetzt schon nicht mehr an jener „Schranke“ stehen, die sie nicht „überschreiten“ konnten. Wir sagen nicht nur, dass der Mensch mit allen seinen Gedanken und Gefühlen ein Produkt des gesellschaftlichen Milieus sei; wir versuchen auch die Genesis dieses Milieus zu erfassen. Wir sagen, seine Eigenschaften werden durch die und die außerhalb des Menschen liegenden und von seinem Willen bis jetzt unabhängigen Ursachen bestimmt. Mannigfaltige Veränderungen in den tatsächlichen Wechselbeziehungen der Menschen bringen notwendigerweise Veränderungen in der „Verfassung der Hirne“, in den Wechselbeziehungen der Ideen, Gefühle, Glaubensbekenntnisse mit sich. Ideen, Gefühle und Glaubensbekenntnisse verbinden sich miteinander nach ihren eigenen Gesetzen. Diese Gesetze wirken jedoch vermöge äußerer Umstände, die mit diesen Gesetzen nichts gemein haben. Wo Brunetière nur den Einfluss einiger literarischer Werke auf andere erblickt, sehen wir darüber hinaus den tieferen gegenseitigen Einfluss gesellschaftlicher Gruppen, Schichten und Klassen; wo er einfach sagt: es entstand ein Widerspruch, die Menschen wollten das Gegenteil dessen tun, was ihre Vorgänger taten, dort fügen wir hinzu: aber sie wollten es, weil ein neuer Widerspruch in ihren tatsächlichen Beziehungen entstanden war, weil eine neue Gesellschaftsschicht oder -klasse in den Vordergrund getreten war, die schon nicht mehr so leben konnte, wie die Menschen der alten Zeit gelebt hatten.

Während Brunetière nur zu sagen weiß, dass die Romantiker den Klassikern widersprechen wollten, bemüht sich Brandes, ihre Neigung zum „Widerspruch“ aus der Lage jener gesellschaftlichen Klasse zu erklären, der sie angehörten. Erinnern Sie sich beispielsweise dessen, was er über die Ursache der romantischen Stimmung unter der französischen Jugend der Restaurationsepoche und der Zeit Louis Philippes sagt.

Wenn Marx sagt: „Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muss umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein“ [ff], so weist er ebenfalls auf ein besonderes und dabei sehr wichtiges Entwicklungsgesetz des gesellschaftlichen Denkens hin. Aber dieses Gesetz wirkt nur und kann nur wirken in Gesellschaften, die in Klassen gespalten sind; es wirkt nicht und kann nicht wirken in primitiven Gesellschaften, wo es weder Klassen noch einen Kampf zwischen ihnen gibt.

Denken wir uns in die Wirkungsweise dieses Gesetzes hinein. Wenn ein bestimmter Stand in den Augen der übrigen Bevölkerung der allgemeine Unterdrücker ist, so erscheinen der Bevölkerung auch die in seinem Milieu herrschenden Ideen naturgemäß als Ideen, die nur der Unterdrücker würdig sind. Das gesellschaftliche Bewusstsein tritt „in Widerspruch“ zu ihnen; es begeistert sich für die entgegen gesetzten Ideen. Nun haben wir aber schon gesagt, dass ein solcher Kampf nie auf der ganzen Linie geführt wird; es verbleibt stets ein gewisser Teil von Ideen, der sowohl von den Revolutionären als auch von den Verteidigern der alten Ordnung anerkannt wird; Der stärkste Angriff richtet sich gegen jene Ideen, die als Ausdruck der zu dieser Zeit schädlichsten Seiten der absterbenden Ordnung dienen. Hinsichtlich dieser Seiten verspüren die ideologischen Revolutionäre den unüberwindlichen Wunsch, ihren Vorgängern „zu widersprechen“. Anderen Ideen gegenüber, mögen sie auch auf dem Boden der alten gesellschaftlichen Verhältnisse gewachsen sein, bleiben sie jedoch oft ganz gleichgültig, und manchmal halten sie an diesen Ideen traditionsgemäß fest. So ließen die französischen Materialisten, während sie gegen die philosophischen und politischen Ideen des alten Regimes (das heißt gegen die Geistlichkeit und die Adelsmonarchie) kämpften, die alten literarischen Überlieferungen fast unangetastet. Zwar waren die ästhetischen Theorien Diderots auch hier ein Ausdruck neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, aber der Kampf war hier sehr schwach, weil sich die Hauptkräfte auf einem anderen Felde konzentrierten. [ü] Hier wurde das Banner des Aufstands erst später entrollt, überdies von Menschen, die mit dem von der Revolution gestürzten Regime stark sympathisierten und eigentlich auch den literarischen Ansichten, die sich während der goldenen Zeit dieses Regimes herausgebildet hatten, wohlwollend hätten gegenüberstehen müssen. Doch auch diese scheinbare Eigenart erklärt sich aus dem Prinzip des „Widerspruchs“. Wie hätte zum Beispiel Chateaubriand mit der alten ästhetischen Theorie sympathisieren können, wenn Voltaire – der verhasste, gemeingefährliche Voltaire! – einer ihrer Vertreter war.

„{Der Widerspruch ist das Fortleitende}“, sagt Hegel. Die Geschichte der Ideologien zeigt offenbar aufs neue, dass sich der alte „Metaphysiker“ nicht geirrt hat. Sie bestätigt offenbar auch das Umschlagen von quantitativen Veränderungen in qualitative. Wir bitten den Leser aber, sich das nicht zu Herzen zu nehmen und uns bis zu Ende anzuhören.

Bis jetzt sagten wir, sobald die Produktivkräfte der Gesellschaft gegeben sind, ist auch ihre Struktur und folglich auch ihre Psychologie gegeben. Aus diesem Grunde könnte man uns den Gedanken zuschreiben, die ökonomische Lage einer Gesellschaft lasse genauestens auf ihre Ideenrichtung schließen. Aber das stimmt nicht, denn die Ideologie jeder Zeit steht stets in engster – sowohl positiver als auch negativer – Verbindung mit der Ideologie der vorangegangenen Zeit, Die „Verfassung der Hirne“ in einer bestimmten Zeit kann nur im Zusammenhang mit der Verfassung der Hirne in der vorangegangenen Epoche begriffen werden. Natürlich wird sich keine Klasse für Ideen begeistern, die ihren Bestrebungen entgegenstehen. Jede Klasse passt ihre „Ideale“ stets ihren ökonomischen Bedürfnissen aufs beste an, wenn auch manchmal unbewusst. Diese Anpassung kann sich sehr verschiedenartig vollziehen; und warum sie sich so und nicht anders vollziehe, erklärt sich nicht aus der Stellung dieser für sich betrachteten Klasse, sondern aus allen Einzelheiten des Verhältnisses dieser Klasse zu ihrem (oder ihren) Antagonisten. Mit dem Aufkommen der Klassen wird der Widerspruch nicht nur zum bewegenden, sondern auch zum formenden Prinzip. [α]

Welche Rolle aber spielt die Persönlichkeit in der Geschichte der Ideologien? Brunetière misst dem Individuum eine ungeheure, vom Milieu unabhängige Bedeutung bei. Guyau behauptet, das Genie schaffe stets etwas Neues. [β]

Wir sagen, auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Ideen ist das Genie seinen Zeitgenossen immer in dem Sinne voraus, dass es den Sinn neu entstehender gesellschaftlicher Verhältnisse früher erfasst als diese. Folglich ist es hier ganz unmöglich, von einer Unabhängigkeit des Genies vom Milieu zu reden. In den Naturwissenschaften entdeckt das Genie Gesetze, deren Wirkung natürlich nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt. Aber die Rolle des gesellschaftlichen Milieus zeigt sich in der Geschichte jeder großen Entdeckung erstens in der Bereitstellung jenes Vorrats an Wissen, ohne den kein Genie schaffen kann, zweitens in der Richtung, in die die Aufmerksamkeit des Genies gelenkt wird. [γ] In der Kunst bringt das Genie die vorherrschende ästhetische Neigung einer bestimmten Gesellschaft oder Gesellschaftsklasse am besten zum Ausdruck. [δ]

Schließlich äußert sich auf jedem dieser drei Gebiete der Einfluss des gesellschaftlichen Milieus darin, dass der Entwicklung der genialen Fähigkeiten einzelner Personen größere oder geringere Möglichkeiten geboten werden.

Natürlich werden wir nie imstande sein, die gesamte Individualität des Genies aus dem Einfluss des Milieus zu erklären, aber das beweist noch gar nichts.

Die Ballistik kann die Bewegung des Artilleriegeschosses erklären. Sie kann seine Bewegung voraussehen. Sie wird es aber niemals fertigbringen, Ihnen zu sagen, in wie viel Teile ein bestimmtes Geschoss zersplittern und wohin jedes einzelne Sprengstück fliegen wird. Dadurch wird jedoch die Gewissheit jener Folgerungen, zu denen die Ballistik gelangt, keineswegs abgeschwächt. Wir haben es nicht nötig, einen idealistischen (oder eklektizistischen) Standpunkt in der Ballistik zu beziehen: uns genügen völlig die mechanischen Erklärungen, obwohl – wer will das bestreiten? – diese Erklärungen die „individuellen“ Geschicke, die Größen und Formen einzelner Sprengstücke im dunkel lassen.

Eine sonderbare Ironie des Schicksals! Das gleiche Prinzip des Widerspruchs, das unsere Subjektivisten als leere Erfindung des „Metaphysikers“ Hegel so eifrig bekämpfen, führt uns avec nos chers amis les ennemis [22] näher zusammen. Wenn Hume den inneren Wert des Geldes aus Widerspruch gegen die Merkantilisten bestreitet, wenn die Romantiker ihr Drama nur geschaffen haben, „um es umgekehrt zu machen“ als die Klassiker, so gibt es keine objektive Wahrheit, so gibt es nur etwas Wahres für mich, für Herrn Michailowski, für den Fürsten Meschtscherski usf. Die Wahrheit ist subjektiv, wahr ist alles, was unser Bedürfnis nach Erkenntnis befriedigt.

Nein, so ist es nicht! Das Prinzip des Widerspruchs zerstört die objektive Wahrheit nicht, es führt uns nur zu ihr hin. Zwar ist der Weg, den es die Menschheit zu beschreiten zwingt, keinesfalls ein gerader Weg. Auch in der Mechanik sind Fälle bekannt, wo das, was an Entfernung eingebüßt wird, an Geschwindigkeit gewonnen wird; ein Körper, der sich auf einer Zykloide bewegt, gelangt manchmal schneller von einem Punkt zu einem tiefer liegenden Punkt, als wenn er sich geradlinig bewegen würde. Der „Widerspruch“ entsteht dort und nur dort, wo es Kampf, wo es Bewegung gibt; dort aber, wo es Bewegung gibt, kommt das Denken vorwärts, wenn auch auf Umwegen. Der Widerspruch gegen die Merkantilisten führte Hume zu einer falschen Ansicht vom Gelde. Aber das gesellschaftliche Leben und folglich auch das menschliche Denken blieben nicht auf dem zu Humes Zeit erreichten Punkt stehen. Sie brachten uns in „Widerspruch“ zu Hume, und dieser Widerspruch ergab schließlich die richtige Ansicht vom Gelde. Und diese richtige Ansicht, das Ergebnis einer allseitigen Betrachtung der Wirklichkeit, ist bereits eine objektive Wahrheit, die von keinen weiteren Widersprüchen widerlegt wird. Schon der Verfasser der Kommentare zu Mill [23] sagte begeistert:

„Was einmal ins Leben den Weg gefunden, Wird nie mehr vom Schicksal uns entwunden ...“

Auf das Wissen angewandt, ist das unbedingt richtig. Kein Schicksal ist mehr imstande, uns die Entdeckung des Kopernikus, die Entdeckung der Umwandlung der Energie, die Entdeckung der Veränderlichkeit der Arten oder Marx’ geniale Entdeckungen zu entwinden.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sich; mit ihnen ändern sich auch die wissenschaftlichen Theorien. Als Resultat dieser Veränderungen ergibt sich schließlich eine allseitige Betrachtung der Wirklichkeit, also auch die objektive Wahrheit. Xenophon hatte andere ökonomische Anschauungen als Jean Baptiste Say. Says Ansichten hätte Xenophon sicherlich für unsinnig gehalten; Say erklärte Xenophons Ansichten für Unsinn. Wir aber wissen jetzt, woher Xenophons Ansichten, woher Says Ansichten kamen und woher ihre Einseitigkeit stammte. Und dieses Wissen ist bereits objektives Wissen, und kein „Schicksal“ kann uns von diesem endlich entdeckten richtigen Standpunkt abbringen.

„Das menschliche Denken wird doch nicht bei dem stehenbleiben, was ihr als Entdeckungen oder als Entdeckung von Marx bezeichnet?“ – Natürlich nicht, meine Herren! Es wird neue Entdeckungen machen, die diese Marxsche Theorie ergänzen und bestätigen werden, wie die neuen Entdeckungen der Astronomie die Entdeckung des Kopernikus ergänzt und bestätigt haben.

Die „subjektive Methode“ in der Soziologie ist der größte Unsinn. Aber jeder Unsinn hat seinen zureichenden Grund, und wir, die bescheidenen Anhänger des großen Mannes, können nicht ohne Stolz erklären: Wir kennen die hinreichende Ursache dieses Unsinns. Hier ist sie:

Die „subjektive Methode“ wurde erstmalig nicht von Herrn Michailowski entdeckt, auch nicht vom „Engel der Schule“, das heißt nicht vom Verfasser der Historischen Briefe. An sie hielten sich schon Bruno Bauer und seine Anhänger – jener Bruno Bauer, der den Verfasser der Historischen Briefe in die Welt setzte, jenen Verfasser der Historischen Briefe, der Herrn Michailowski und Konsorten zeugte.

„Die Objektivität des Historikers ist, wie jede Objektivität, nicht mehr als ein leeres Geschwätz. Und zwar nicht in dem Sinne, dass die Objektivität ein unerreichbares Ideal sei. Bis zur Objektivität, das heißt der Ansicht, die der Mehrheitigen ist, bis zur Weltanschauung der Masse, kann ein Historiker sich nur erniedrigen. Wenn er aber so handelt, hört er auf, ein Schaffender zu sein, er arbeitet für Stücklohn, er wird zum Söldner seiner Zeit.“ [ε]

Diese Zeilen stammen von Szeliga, der ein eifriger Jünger Bruno Bauers war und den Marx und Engels in ihrem Buch Die heilige Familie so beißend verlachten. Man setze in diese Zeilen „Soziologe“ statt „Historiker“, ersetze das „künstlerische Schaffen“ der Geschichte durch das Schöpfertum gesellschaftlicher „Ideale“, und man erhält die „subjektive Methode in der Soziologie“.

Versetzen Sie sich in die Psychologie eines Idealisten. Für ihn sind die „Ansichten“ der Menschen die hauptsächliche, die letzte Ursache der gesellschaftlichen Erscheinungen. Ihm scheint es, dass in den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie die Geschichte bezeuge, häufig die unsinnigsten Ansichten verwirklicht worden seien. „Warum soll denn“, so überlegt er, „nicht auch meine Ansicht verwirklicht werden, die, Gott sei Dank, keineswegs Unsinn ist. Wenn ein bestimmtes Ideal existiert, besteht mindestens die Möglichkeit zu gesellschaftlichen Umgestaltungen, die vom Standpunkt dieses Ideals wünschenswert sind. Was jedoch eine Überprüfung dieses Ideals an irgendeinem objektiven Maßstab betrifft, so ist sie unmöglich, da es einen solchen Maßstab nicht gibt; die Ansichten der Mehrheit können doch nicht als Maßstab der Wahrheit gelten.“

Also gibt es eine Möglichkeit zu gewissen Umgestaltungen, weil sie von meinen Idealen herbeigesehnt werden, weil ich diese Umgestaltungen für nützlich halte. Für nützlich halte ich sie aber, weil ich sie dafür halten will. Nach dem Ausschluss des objektiven Maßstabes habe ich kein anderes Kriterium mehr als meine Wünsche. Widersteh’ meinem Willen nicht! – das ist das letzte subjektive Argument. Die subjektive Methode ist eine reductio ad absurdum [24] des Idealismus, nebenbei aber auch des Eklektizismus, da auf das Haupt dieses Parasiten alle Fehler der „guten Herren“ der Philosophie zurückfallen, bei denen er schmarotzt.

Von Marx’ Standpunkt aus ist eine Gegenüberstellung der „subjektiven“ Ansichten des Individuums und der Ansichten der „Masse“, der „Mehrheit“ usw., als dem Objektiven, nicht möglich. Die Masse besteht aus Menschen, die Ansichten der Menschen sind aber stets „subjektiv“, denn diese oder jene Ansichten bilden immer eine der Eigenschaften des Subjekts. Objektiv sind nicht die Ansichten der „Masse“, objektiv sind die Verhältnisse in der Natur oder in der Gesellschaft, die in diesen Ansichten zum Ausdruck kommen. Das Kriterium der Wahrheit liegt nicht in mir, sondern in den außerhalb meiner Person bestehenden Verhältnissen. Wahr sind Ansichten, die diese Verhältnisse richtig darstellen, falsch sind Ansichten, die sie entstellen. Wahr ist jene naturwissenschaftliche Theorie, die die wechselseitigen Beziehungen der Naturerscheinungen richtig erfasst; wahr ist jene historische Beschreibung, die die während der beschriebenen Epoche vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse richtig darstellt. Wo der Historiker den Kampf entgegen gesetzter gesellschaftlicher Kräfte darstellen muss, wird er unvermeidlich mit dieser oder jener Seite sympathisieren, sofern er nicht selber zu einem trockenen Pedanten geworden ist. In diesem Sinne wird er subjektiv sein, unabhängig davon, ob er mit der Minderheit oder mit der Mehrheit sympathisiert. Ein derartiger Subjektivismus hindert ihn aber nicht, ein durchaus objektiver Historiker zu sein, sofern er nur nicht jene realen ökonomischen Verhältnisse entstellt, auf deren Boden die einander bekämpfenden gesellschaftlichen Kräfte erwachsen sind. Der Anhänger der „subjektiven“ Methode vergisst aber diese realen Verhältnisse, darum kann er nichts als sein herzliches Mitgefühl oder seine furchtbare Antipathie geben, darum schlägt er großen Lärm, indem er seinen Gegnern jedes Mal Verstöße gegen die Sittlichkeit vorwirft, wenn man ihm sagt, das sei nicht genug. Er fühlt, dass er nicht in das Geheimnis der realen gesellschaftlichen Verhältnisse eindringen kann, und darum erscheint ihm jede Anspielung auf ihre objektive Kraft als Beleidigung, als Verhöhnung seiner eigenen Ohnmacht. Er will diese Verhältnisse in dem Strom seiner sittlichen Entrüstung ertränken.

Vom Marxschen Standpunkt aus gibt es also verschiedenartige Ideale, niedrige und hohe, richtige und unrichtige. Richtig ist ein Ideal, das der ökonomischen Wirklichkeit entspricht. Subjektivisten, die das vernehmen, behaupten, sobald ich meine Ideale der Wirklichkeit anpasste, würde ich mich zum jämmerlichen Lakaien der „Jauchzenden“ machen. Sie werden das aber ausschließlich darum sagen, weil sie, in ihrer Eigenschaft als Metaphysiker, den zwiespältigen, antagonistischen Charakter der Wirklichkeit nicht begreifen. Die „Jauchzenden“ stützen sich auf eine schon im Ableben begriffene Wirklichkeit, unter der die neue Wirklichkeit keimt, die Wirklichkeit der Zukunft, der zu dienen den Triumph der „großen Sache der Liebe“ fördern heißt. [25]

Der Leser sieht jetzt, ob jene Vorstellung von den Marxisten, der zufolge sie den Idealen keine Bedeutung beimäßen, der „Wirklichkeit“ entspricht. Diese Vorstellung erweist sich als das genaue Gegenteil der „Wirklichkeit“. Wenn über „Ideale“ gesprochen wird, so muss man sagen, dass die Marxsche Theorie die idealistischste Theorie ist, die je in der Geschichte des menschlichen Denkens existiert hat. Das ist sowohl hinsichtlich ihrer rein wissenschaftlichen als auch hinsichtlich ihrer praktischen Aufgaben in gleichem Maße richtig.

„Was soll man tun, wenn Herr Marx die Bedeutung des Selbstbewusstseins und seiner Kraft nicht begreift? Was soll man tun, wenn er die bewusst gewordene Wahrheit des Selbstbewusstseins so niedrig bewertet?“

Diese Worte sind bereits 1847 von einem der Anhänger Bruno Bauers geschrieben worden; [ζ] und obwohl man heute nicht mehr die Sprache der vierziger Jahre spricht, sind die Herren, die Marx das Ignorieren der Elemente des Denkens und des Gefühls in der Geschichte vorwerfen, bis heute noch nicht über Opitz hinausgekommen. Sie alle sind bis auf diesen Tag überzeugt, dass Marx die Kraft des menschlichen Selbstbewusstseins sehr gering einschätze; sie alle wiederholen auf die verschiedenste Art das gleiche. [η] In Wirklichkeit hielt Marx die Erklärung des menschlichen „Selbstbewusstseins“ für die wichtigste Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft.

Er sagte: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, dass die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt.“ [gg]

Haben Sie sich, meine Herren, in diese Worte von Marx hineingedacht? Wir werden Ihnen sagen, was sie bedeuten.

Holbach, Helvétius und ihre Jünger richteten alle ihre Bemühungen darauf, die Möglichkeit einer materialistischen Erklärung der Natur zu beweisen. Selbst die Negierung der angeborenen Ideen führte diese Materialisten über eine Betrachtung des Menschen als eines Angehörigen des Tierreichs, als matière sensible [26] nicht hinaus. Sie versuchten auch nicht, die Geschichte des Menschen von ihrem Standpunkt aus zu deuten, und wenn sie es versuchten (Helvétius), dann endeten ihre Versuche erfolglos. Aber der Mensch wird zum „Subjekt“ nur in der Geschichte, denn nur in ihr entwickelt sich sein Selbstbewusstsein. Sich auf eine Betrachtung des Menschen als eines Angehörigen des Tierreichs beschränken heißt sich mit seiner Betrachtung als eines „Objekts“ begnügen, heißt seine geschichtliche Entwicklung, seine gesellschaftliche „Praxis“, die konkrete menschliche Tätigkeit außer acht lassen. Das alles außer acht lassen heißt aber den Materialismus „grau, cimmerisch, totenhaft“ (Goethe) machen. Mehr noch, es hieße ihn – wie wir oben schon gezeigt haben – fatalistisch machen und den Menschen zur absoluten Unterordnung unter die blinde Materie verdammen. Marx bemerkte diesen Fehler des französischen und auch des Feuerbachschen Materialismus und stellte sich die Aufgabe, ihn zu verbessern. Sein „ökonomischer“ Materialismus ist die Antwort auf die Frage, wie die „konkrete Tätigkeit“ des Menschen sich entwickele, wie sich durch sie das Selbstbewusstsein des Menschen entwickele, wie die subjektive Seite der Geschichte entstehe. Sobald diese Frage, wenn auch nur teilweise, entschieden sein wird, hört der Materialismus auf, grau, cimmerisch und totenhaft zu sein, hört er auf, bei der Deutung der tätigen Seite der menschlichen Existenz dem Idealismus den ersten Platz einzuräumen. Dann wird er sich von dem ihm eigentümlichen Fatalismus befreien.

Empfindsame, aber schwachköpfige Menschen empören sich deshalb gegen Marx’ Theorie, weil sie ihr erstes Wort für das letzte halten. Marx sagt: Bei der Deutung des Subjekts wollen wir sehen, welche Beziehungen die Menschen unter dem Einfluss der objektiven Notwendigkeit eingehen. Sobald diese Beziehungen bekannt sind, wird man klären können, wie sich das menschliche Selbstbewusstsein unter ihrem Einfluss entwickelt. Die objektive Wirklichkeit wird uns helfen, die subjektive Seite der Geschichte zu klären. An dieser Stelle nun wird Marx von empfindsamen, aber schwachköpfigen Menschen unterbrochen. Hier wiederholt sich gewöhnlich etwas, was dem Gespräch zwischen Tschazki und Famussow [27] außerordentlich ähnlich ist. – „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse ...“ – „Ach, mein Gott, er ist ja Fatalist! ...“ – „Auf der ökonomischen Basis erheben sich die ideologischen Überbauten ...“ – „Was er nicht alles sagt! Er redet, wie er schreibt! Er will die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte gar nicht anerkennen! ...“ – „Hören Sie mich doch nur einmal an, aus dem Gesagten folgt, dass ...“ – „Ich höre nicht; verklagt ihn! Vor das Sittengericht aktiv progressiver Persönlichkeiten mit ihm, unter die öffentliche Kontrolle der subjektiven Soziologie!!“

Bekanntlich wurde Tschazki durch das Erscheinen Skalosubs gerettet. Bei den Diskussionen der russischen Anhänger von Marx mit ihren gestrengen subjektiven Kennern verlief die Sache bis jetzt anders. Skalosub hielt den Tschazkis den Mund zu, während die Famussows der subjektiven Soziologie die Finger aus den Ohren nahmen und im Bewusstsein ihrer Überlegenheit zu sprechen begannen; sie haben aber alles in allem nur ein paar Worte gesagt; ihre Ansichten blieben völlig unklar.

Schon Hegel sagte, dass man jede Philosophie zu einem inhaltslosen Formalismus machen kann, wenn man sich auf eine einfache Wiederholung ihrer Grundsätze beschränkt. Marx begeht aber auch diesen Fehler nicht. Er beschränkt sich nicht darauf, zu wiederholen, die Entwicklung der Produktivkräfte liege der gesamten historischen Entwicklung der Menschheit zugrunde. Nur wenige Denker haben soviel wie er für die Fortentwicklung ihrer Grundthesen getan.

„Aber wo, wo hat er denn seine Ansichten dargelegt?“ singen, jammern, rufen und sprechen die Herren Subjektivisten in allen Tonarten. „So seht euch doch Darwin an, der hat Bücher, Marx aber hat keine Bücher, seine Ansichten müssen rekonstruiert werden!“

Man muss schon sagen, das „Rekonstruieren“ ist eine unangenehme und schwere Sache, besonders für den, dem es an der „subjektiven“ Veranlagung für das richtige Verständnis und damit auch für das „Rekonstruieren“ fremder Gedanken mangelt. Es ist aber nicht notwendig, etwas zu rekonstruieren; und die Bücher, deren Fehlen die Herren Subjektivisten so sehr betrauern, sind längst vorhanden. Es gibt sogar mehrere Bücher, von denen eines die Geschichtstheorie von Marx immer besser erklärt als das andere.

Das erste Buch ist die Geschichte der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaft, beginnend mit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Machen Sie sich mit diesem interessanten Buch bekannt (von „Lewes“ [28] ist hier natürlich wenig zu finden); es wird Ihnen zeigen, warum die Marxsche Theorie entstand, warum sie entstehen musste, welche bis jetzt ungelösten und unlösbaren Fragen sie beantwortete und worin folglich ihr wahrer Sinn liegt.

Das zweite Buch ist Das Kapital [hh], jenes Kapital, das Sie alle „gelesen“ haben, mit dem Sie alle „einverstanden“ sind, das jedoch keiner von Ihnen, sehr verehrte Herren, verstanden hat.

Das dritte Buch ist die Geschichte der europäischen Ereignisse seit dem Jahre 1848, das heißt seit dem Erscheinen des bekannten Manifests. [29] Machen Sie sich die Mühe, in den Inhalt dieses großartigen und lehrreichen Buches einzudringen, und sagen Sie uns, Hand aufs Herz, wenn Ihr „subjektives“ Herz noch unvoreingenommen ist: Hat ihm, Marx, seine Theorie nicht tatsächlich eine erstaunliche, früher ungekannte Fähigkeit verliehen, kommende Ereignisse vorauszusehen? Was ist aus den gleichzeitigen Utopisten der Reaktion, des Stillstands oder des Fortschritts geworden? Zu welchem Kitt wurde der Staub verarbeitet, zu dem ihre „Ideale“ beim ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit zerfielen? Ist doch selbst von diesem Staub keine Spur übriggeblieben, während das, was Marx sagte, Tag für Tag, natürlich in großen Zügen, Wirklichkeit wurde und auch in Zukunft so lange Wirklichkeit werden wird, bis seine Ideale schließlich Tatsachen werden.

Scheint es nicht, dass das Zeugnis dieser drei Bücher genügt? Und sieht es wohl so aus, als ob sich die Existenz eines dieser Bücher leugnen lasse? Sie werden natürlich sagen, wir haben aus ihnen nicht herausgelesen, was in ihnen steht? Gut, wenn Sie das sagen, sollen Sie es auch beweisen; wir erwarten Ihre Beweise mit Ungeduld; damit Sie sich aber in diesen Büchern nicht zu sehr verheddern, wollen wir Ihnen zunächst den Sinn des zweiten Buches erklären.

Sie erkennen Marx’ ökonomische Ansichten an, leugnen aber seine Geschichtstheorie, sagen Sie. Man muss zugeben, dass damit sehr viel gesagt ist, und zwar ist damit gesagt, dass Sie weder seine Geschichtstheorie noch seine ökonomischen Ansichten verstanden haben.

Wovon handelt der erste Band des Kapitals? Dort ist zum Beispiel die Rede vom Wert. Dort wird gesagt, dass der Wert ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis ist. Sind Sie damit einverstanden? Wenn nicht, so leugnen Sie Ihre eigenen Worte über Ihr Einverständnis mit Marx’ ökonomischer Theorie. Wenn ja, so erkennen Sie auch seine Geschichtstheorie an, offensichtlich jedoch, ohne sie zu begreifen.

Wenn Sie einmal anerkannt haben, dass die unabhängig vom Willen der Menschen existierenden, hinter ihrem Rücken wirkenden Produktionsverhältnisse sich in ihren Köpfen als verschiedene Kategorien der politischen Ökonomie – als Wert, als Geld, als Kapital usf. – widerspiegeln, so erkennen Sie damit gleichzeitig an, dass auf einem bestimmten ökonomischen Boden notwendig bestimmte, seinem Charakter entsprechende ideologische Überbauten erwachsen. In diesem Fall ist die Sache Ihrer Bekehrung zu drei Vierteln bereits vollbracht, da Sie jetzt nur noch Ihre „eigene“, das heißt bei Marx entlehnte, Ansicht auf die Analyse der ideologischen Kategorien höherer Ordnung – des Rechts, der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit, der Gleichheit usf. – anzuwenden brauchen.

Oder sind Sie vielleicht mit Marx nur vom zweiten Band seines Kapitals an einverstanden? Es gibt doch Herrschaften, die nur insofern „Marx anerkennen“, als er den sogenannten Brief an Herrn Michailowski [ii] schrieb.

Sie erkennen Marx’ Geschichtstheorie nicht an? Also ist Ihrer Ansicht nach jener Standpunkt falsch, von dem aus er zum Beispiel die Ereignisse der französischen Geschichte von 1848 bis 1851 in seinem Blatt Neue Rheinische Zeitung und in anderen Zeitschriften jener Periode sowie in seinem Buch Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte betrachtete? Wie schade, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, die Fehlerhaftigkeit dieses Standpunktes zu zeigen; wie schade, dass Ihre Ansichten unentwickelt bleiben und dass es infolge Mangels an Material nicht möglich ist, sie wenigstens „zu rekonstruieren“.

Sie erkennen Marx’ Geschichtstheorie nicht an? Also ist Ihrer Ansicht nach jener Standpunkt falsch, von dem aus er zum Beispiel die Bedeutung der philosophischen Lehren der französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts beurteilte? Schade, dass Sie auch in diesem Falle versäumt haben, Marx zu widerlegen. Vielleicht wissen Sie nicht einmal, wo er sich zu dieser Sache geäußert hat? In diesem Fall wollen wir Ihnen aus dieser Kalamität nicht heraus helfen; Sie müssen doch die „Literatur des Gegenstandes“ kennen, über den Sie diskutieren wollen; viele von Ihnen tragen doch – um in der Sprache des Herrn Michailowski zu reden – den Titel ordentlicher und außerordentlicher Glöckner [30] der Wissenschaft. Aber dieser Titel hat Sie nicht gehindert, sich vorzugsweise mit „privaten“ Wissenschaften, wie subjektiver Soziologie, subjektiver Historiosophie usw., zu befassen.

„Warum hat Marx kein Buch verfasst, in dem er von seinem Standpunkt aus die gesamte Geschichte der Menschheit von der Antike bis auf unsere Tage dargestellt und alle Zweige der Entwicklung – der ökonomischen, juristischen, religiösen, philosophischen usf. – betrachtet hat?“

Das erste Merkmal eines gebildeten Verstandes besteht in der Fähigkeit, Fragen zu stellen, und im Wissen darum, welche Antworten man von der gegenwärtigen Wissenschaft fordern kann und welche man nicht fordern darf. Bei Marx’ Gegnern ist dieses Merkmal offenbar nicht festzustellen, ungeachtet ihrer Außerordentlichkeit und manchmal selbst Ordentlichkeit, vielleicht aber auch gerade deshalb. Glauben Sie denn, dass es in der biologischen Literatur schon ein Buch gäbe, in dem die gesamte Geschichte des Tier- und Pflanzenreichs vom Darwinschen Standpunkt aus dargestellt wäre? Sprechen Sie deswegen einmal bei irgendeinem Botaniker oder Zoologen vor, und der wird Ihnen – nachdem er sich über Ihre kindliche Naivität lustig gemacht hat – mitteilen, dass eine Darstellung der ganzen langen Geschichte der Arten vom Standpunkt Darwins das Ideal der gegenwärtigen Wissenschaft ist, das sie, unbestimmt wann, erreichen wird; jetzt ist erst der Standpunkt entdeckt worden, von dem aus die Geschichte der Arten allein begriffen werden kann. [θ] Genauso ist es um die gegenwärtige Geschichtswissenschaft bestellt.

„Was ist das Gesamtwerk Darwins?“ fragt Herr Michailowski. „Einige verallgemeinernde, aufs engste miteinander verbundene Ideen, die einen ganzen Montblanc an Tatsachenmaterial krönen. Wo ist ein entsprechendes Marxsches Werk? Es fehlt ... Nicht nur, dass es ein solches Werk von Marx nicht gibt, es gibt es auch in der gesamten marxistischen Literatur nicht – trotz ihres großen Umfangs und ihrer Verbreitung ... Die eigentlichen Grundthesen des ökonomischen Materialismus, die unendlich viele Male als Axiome wiederholt wurden, sind bis jetzt miteinander nicht verbunden und tatsächlich nicht überprüft, was bei einer Theorie, die sich grundsätzlich auf materielle, greifbare Tatsachen stützt und vorzugsweise die Bezeichnung einer ‚wissenschaftlichen‘ Theorie führt, besondere Beachtung verdient.“ [ι]

Dass die eigentlichen Grundtheorien des ökonomischen Materialismus miteinander nicht verbunden seien, ist die nackte Unwahrheit. Es genügt, das Vorwort zu dem Buche Zur Kritik der politischen Ökonomie durchzulesen, um einzusehen, wie harmonisch und eng sie miteinander verknüpft sind. Dass diese Thesen nicht überprüft seien, ist ebenfalls unrichtig; sie sind mit Hilfe einer Analyse der gesellschaftlichen Erscheinungen sowohl im Achtzehnten Brumaire als auch im Kapital überprüft, und zwar keineswegs „insbesondere“ im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation, wie Herr Michailowski meint, sondern buchstäblich in allen Kapiteln vom ersten bis zum letzten. Wenn diese Theorie jedoch noch nicht in Verbindung mit einem „ganzen Montblanc“ an Tatsachenmaterial dargestellt worden ist, was sie nach Ansicht Herrn Michailowskis von Darwins Theorie unvorteilhaft unterscheidet, so liegt auch hier wieder ein Missverständnis vor. Mit Hilfe des Tatsachenmaterials, das zum Beispiel in dem Buche The origin of species enthalten ist, wird hauptsächlich die Veränderlichkeit der Arten bewiesen; die Geschichte einiger einzelner Arten wird von Darwin nur flüchtig und auch dann nur hypothetisch behandelt: die Geschichte habe so oder vielleicht auch anders verlaufen können – eines sei unbestreitbar: Es hat eine Geschichte gegeben, die Arten haben sich verändert. Jetzt fragen wir Herrn Michailowski: Hat Marx es nötig gehabt zu beweisen, dass die Menschheit nicht auf einer Stelle steht, dass sich die gesellschaftlichen Formen verändern, dass verschiedene Ansichten der Menschen einander ablösen, mit einem Wort, war es nötig, die Veränderlichkeit dieser Art von Erscheinungen zu beweisen? Das war natürlich nicht nötig, obwohl es für die Beweisführung ein leichtes gewesen wäre, ein Dutzend von „Montblancs an Tatsachenmaterial“ aufzutürmen. Was musste Marx aber tun? Die vorangegangene Geschichte der Gesellschaftswissenschaft und der Philosophie hatte „einen ganzen Montblanc“ an Widersprüchen aufgespeichert, die dringend nach einer Lösung verlangten. Marx löste sie eben mit Hilfe einer Theorie, die – ähnlich der Darwinschen – aus „einigen verallgemeinernden, aufs engste miteinander verbundenen Ideen“ besteht. Als diese Ideen hervortraten, stellte es sich heraus, dass sie alle Widersprüche lösten, die frühere Denker in Verlegenheit gebracht hatten. Marx brauchte nicht Berge von Tatsachenmaterial aufzutürmen, das seine Vorgänger zusammengetragen hatten, sondern hatte – indem er unter anderem auch dieses Material benutzte – die Erforschung der tatsächlichen Geschichte der Menschheit von dem neuen Standpunkt aus in Angriff zu nehmen. Das hat Marx auch getan, indem er sich dem Studium der Geschichte der kapitalistischen Epoche zuwandte, und als Ergebnis dieses Studiums erschien Das Kapital (wir lassen solche Monographien wie den Achtzehnten Brumaire außer acht).

Doch behandelt Das Kapital – nach einem Einwand des Herrn Michailowski – „nur eine einzige historische Periode, wobei der Gegenstand selbst innerhalb dieser Grenzen auch nicht annähernd erschöpft ist.“ Das stimmt. Wir erinnern Herrn Michailowski nur wieder daran, dass das erste Merkmal eines gebildeten Verstandes darin besteht, dass er weiß, welche Anforderungen man an die Männer der Wissenschaft stellen kann. Marx konnte in seiner Untersuchung keinesfalls alle historischen Perioden behandeln, wie auch Darwin nicht die Geschichte aller Tier- und Pflanzenarten schreiben konnte.

Selbst hinsichtlich der einen geschichtlichen Periode ist der Gegenstand nicht erschöpft, nicht einmal annähernd. – Nein, Herr Michailowski, er ist nicht einmal annähernd erschöpft. Doch erstens, sagen Sie bitte, welcher Gegenstand ist bei Darwin, wenn auch nur „annähernd“, erschöpft. Zweitens werden wir Ihnen gleich erklären, wieso und warum im „Kapital“ der Gegenstand nicht erschöpft ist.

Nach der neuen Theorie wird die historische Bewegung der Menschheit durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, die zur Veränderung der ökonomischen Verhältnisse führt. Darum muss jede historische Forschung mit dem Studium des Standes der Produktivkräfte und der ökonomischen Verhältnisse des jeweiligen Landes eingeleitet werden. Natürlich darf sich darauf die Forschung nicht beschränken; sie muss zeigen, wie sich das dürre Skelett der Ökonomie mit dem lebendigen Fleisch der sozialen und politischen Formen, dann aber – und das ist die interessanteste, die faszinierendste Seite der Aufgabe – der menschlichen Ideen, Gefühle, Bestrebungen und Ideale bedeckt. In die Hände des Forschers, so kann man wohl sagen, gelangt tote Materie (wie der Leser sieht, beginnen wir hier halb und halb in der Sprache des Herrn Karejew zu sprechen), aus seinen Händen soll ein lebensvoller Organismus hervorgehen. Marx gelang es nur – und auch das natürlich nur annähernd –, Fragen zu erschöpfen, die sich auf die materielle Lebensweise der von ihm gewählten Zeitspanne bezogen. Marx starb als keineswegs alter Mann. Hätte er noch zwanzig Jahre gelebt, so wäre er sicherlich weiterhin bemüht gewesen (wieder abgesehen vielleicht von einigen Monographien), die Fragen der materiellen Lebensweise der gleichen Periode zu erschöpfen. Das ist es ja, was Herrn Michailowski so ärgert. Die Arme in die Seiten gestemmt, beginnt er dem berühmten Denker Vorhaltungen zu machen: „Wie kommt denn das, mein Lieber? ... Nur ein Zeitabschnitt ... Und nicht mal vollständig ... Nein, das kann ich nicht gutheißen ... Du müsstest dir ein Beispiel an Darwin nehmen.“ Diese ganze subjektive Tirade beantwortet der arme Verfasser des „Kapitals“ nur mit einem tiefen Seufzer und mit dem traurigen Eingeständnis: „{Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben}.“ [jj]

Herr Michailowski wendet sich rasch und drohend der „Masse“ der Marx-Anhänger zu: „Was habt ihr denn getan, warum habt ihr dem Alten nicht geholfen, warum habt ihr nicht alle Epochen erschöpft?“ – „Wir hatten keine Zeit, mein Herr subjektiver Held“, antworten die Anhänger, sich tief verbeugend und ihre Mützen mit weit ausholender Armbewegung lüftend; „wir hatten anderes zu tun, wir kämpften gegen jene Produktionsverhältnisse, die gegenwärtig als schweres Joch auf der Menschheit lasten. Wir bitten um Nachsicht! Nebenbei gesagt, wir haben doch einiges erreicht und – lassen Sie uns Zeit! – werden noch mehr erreichen.“

Herr Michailowski wird etwas milder:

„ Ihr seht jetzt also selbst ein, dass ihr noch nicht alles getan habt?“ – „Natürlich sehen wir das ein! Auch die Darwinisten [κ], auch die subjektiven Soziologen haben noch nicht alles erreicht, und das sind doch ganz andere Leute.“

Die Erinnerung an die Darwinisten ruft in unserem Schriftgelehrten einen neuen Wutanfall hervor:

„Lasst mich mit eurem Darwin in Ruhe!“ ruft er aus. „Für Darwin haben sich bessere Herren begeistert, viele Professoren haben ihm beigestimmt, wer aber folgt Marx? Nur Arbeiter und von niemand patentierte Privatglöckner der Wissenschaft.“

Die Standpauke nimmt so interessante Formen an, dass wir ihr unwillkürlich folgen müssen.

„In dem Buch Der Ursprung der Familie usw. [kk] sagt Engels unter anderem, Marx’ Kapital sei von den zünftigen deutschen Ökonomen ‚totgeschwiegen‘ worden, und in dem Buch Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie [ll] weist er darauf hin, dass sich die Theoretiker des ökonomischen Materialismus ‚von vornherein vorzugsweise an die Arbeiterklasse‘ wandten und ‚hier die Empfänglichkeit fanden‘, ‚die sie bei der offiziellen Wissenschaft weder suchten noch erwarteten‘. Inwiefern stimmen diese Feststellungen, und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Vor allem ist es heutzutage selbst bei uns in Russland – trotz der ganzen Schwäche und Kleinlichkeit unseres wissenschaftlichen und literarischen Lebens – auf die Dauer nicht möglich, irgend etwas Wertvolles ‚totzuschweigen‘. Um so weniger möglich ist das in Deutschland mit seinen zahlreichen Universitäten, mit seiner allgemeinen Lese- und Schreibfertigkeit, mit seinen zahllosen Zeitungen, Blättern aller Richtungen, mit der Bedeutung, die dort nicht nur dem gedruckten, sondern auch dem gesprochenen Wort beigemessen wird. Auch wenn ein gewisser Teil der offiziellen Hohepriester der deutschen Wissenschaft das Kapital im ersten Augenblick mit Schweigen aufgenommen hatte, so kann man das wohl kaum aus dem Wunsch, Marx’ Werk ‚totzuschweigen‘, erklären. Richtiger ist die Annahme, dass das Motiv des Schweigens Verblüffung war, neben dem sehr schnell sowohl eine heiße Opposition als auch höchster Respekt emporwuchsen, wodurch der theoretische Teil des Kapitals sehr rasch einen unbestreitbar hohen Platz in der allgemein anerkannten Wissenschaft erlangte. Gänzlich anders ist das Geschick des ökonomischen Materialismus als einer Geschichtstheorie unter Einschluss auch jener Perspektiven und Richtungen der Zukunft, die im Kapital enthalten sind. Der ökonomische Materialismus hat ungeachtet seiner fünfzigjährigen Existenz bis jetzt keinen bemerkenswerten Einfluss auf wissenschaftliche Kreise ausgeübt, hat sich aber in der Arbeiterklasse tatsächlich sehr schnell verbreitet.“ [λ]

Also soll nach kurzem Schweigen eine Opposition rasch gewachsen sein. Das stimmt. Eine so heiße Opposition, dass kein Dozent den Professorentitel erhalten wird, wenn er Marx’ „ökonomische“ Theorie als richtig auch nur anerkennt; eine so heiße, dass jeder, selbst der unfähigste, Privatdozent auf schnelle Beförderung rechnen kann, wenn es ihm nur gelingt, einige Entgegnungen wider das Kapital zu erfinden, mögen sie auch schon morgen von jedermann wieder vergessen sein. Was wahr ist, ist wahr: eine sehr heiße Opposition.

Und höchster Respekt ... Auch das stimmt, Herr Michailowski: tatsächlich Respekt. Genau der gleiche Respekt, mit dem die Chinesen jetzt das japanische Heer betrachten müssen; es versteht sich zu schlagen, und es ist höchst unangenehm, unter seine Schläge zu geraten. Diesen Respekt vor dem Verfasser des Kapitals zeigten die deutschen Professoren und verspüren ihn auch noch jetzt. Je klüger ein Professor ist, je mehr Wissen er besitzt, desto mehr solchen Respekt hat er, desto klarer ist er sich bewusst, dass er das Kapital nicht widerlegen kann. Das ist der Grund, warum keine einzige Leuchte der offiziellen Wissenschaft sich entschließen kann, das Kapital anzugreifen. Diese Leuchten ziehen es vor, die jungen, unerfahrenen, nach Beförderung strebenden „Privatglöckner“ zum Angriff vorzuschicken.

„Dort braucht man keinen klugen Mann,
Schickt doch den Read mal hin,
Ich werde nur ein bisschen zuschauen ...“

Was soll man schon sagen; dieser Respekt ist groß. Von einem anderen Respekt haben wir aber nichts gehört; ihn kann kein Professor empfinden, da man keinen Mann, der ihn hat, in Deutschland zum Professor machen würde.

Was beweist aber dieser Respekt? Er beweist folgendes: Das vom Kapital behandelte Forschungsgebiet ist gerade jenes Gebiet, das von dem neuen Standpunkt aus, vom Standpunkt der Marxschen historischen Theorie aus, bereits bearbeitet ist. Dieses Gebiet wagen die Gegner eben nicht anzugreifen; sie „respektieren es“. Das ist für die Gegner natürlich sehr gut. Man braucht aber die ganze Naivität eines „subjektiven“ Soziologen, um erstaunt zu fragen, warum diese Gegner die Bearbeitung der benachbarten Gebiete im Marxschen Sinne bis jetzt nicht mit eigenen Kräften in Angriff genommen hätten. „Was Sie nicht alles wünschen, mein lieber Held! Schon das eine Gebiet, in diesem Sinne bearbeitet, vergällt einem das Leben! Allein dieses Gebiet bringt einen zum Verzweifeln, Sie aber fordern, wir sollen nach dem gleichen System auch die Nachbargebiete bearbeiten!“ Herr Michailowski dringt in das Wesen der Dinge schlecht ein, darum begreift er auch nicht „das Geschick des ökonomischen Materialismus als einer Geschichtstheorie“; er begreift auch nicht die Einstellung der deutschen Professoren zu den „Perspektiven der Zukunft“. Nicht die Zukunft haben jene im Sinn, Verehrtester, da ihnen die Gegenwart unter den Füssen entgleitet.

Aber doch nicht alle Professoren in Deutschland sind in diesem Maße vom Geist des Klassenkampfes und der „wissenschaftlichen“ Disziplin durchdrungen. Gibt es doch auch Fachgelehrte, die an nichts anderes denken als an die Wissenschaft. Natürlich gibt es auch solche, und nicht nur in Deutschland. Aber diese Fachgelehrten sind – gerade weil sie Fachgelehrte sind – von ihrem Fach erfüllt; sie beackern ihren schmalen Streifen wissenschaftlichen Gebiets und interessieren sich nicht für allgemeine philosophisch-historische Theorien. Von Marx haben diese Fachgelehrten nur selten eine Vorstellung, wenn sie aber eine haben, so als von einem unangenehmen Menschen, der irgendwo irgendjemand belästigt hat. Wie sollen sie da in Marxschem Sinne schreiben? Ihre Monographien enthalten meistens gar keinen philosophischen Geist. Hier geschieht aber etwas, was an Fälle erinnert, da Steine reden, während die Menschen schweigen. Die Fachgelehrten selber wissen nichts von Marx’ Theorie, aber die von ihnen erzielten Ergebnisse sprechen laut zugunsten dieser Theorie. So gibt es keine einzige ernste Spezialuntersuchung über die Geschichte der politischen Verhältnisse oder über die Geschichte der Kultur, die diese Theorie nicht so oder anders bestätigte. In welchem Maße der gesamte Geist der modernen Gesellschaftswissenschaft die Fachgelehrten zwingt; den Standpunkt der Marxschen historischen Theorie (gerade der historischen, Herr Michailowski) unbewusst zu beziehen, zeigen zahlreiche verblüffende Beispiele. Im Vorangegangenen konnte sich der Leser von zwei solchen Beispielen bereits überzeugen: Oskar Peschel und Giraud-Teulon. Wir wollen jetzt noch ein drittes anführen: In seinem Werk «La Cité antique» äußert der berühmte Fustel de Coulanges den Gedanken, dass allen gesellschaftlichen Einrichtungen der Antike religiöse Ansichten zugrunde gelegen hätten. Offenbar hätte er auch bei der Untersuchung von Einzelfragen aus der Geschichte Griechenlands und Roms diesen Gedanken vertreten müssen. Doch da berührt Fustel de Coulanges die Frage des Falls von Sparta. Er gelangt hier zu dem Ergebnis, dass die Ursache dieses Niedergangs eine rein ökonomische gewesen sei. [μ] Er behandelt weiter die Frage des Untergangs der römischen Republik – und wendet sich wieder der Ökonomie zu. Was heißt das nun? In einzelnen Fällen bestätigt er die Marxsche Theorie; bezeichnete man ihn aber als Marxisten, so würde er sich sicherlich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, was Herrn Karejew unsäglich erfreut hätte. Was soll man tun, wenn nicht alle Menschen bis zu Ende konsequent sind?

Erlaubt bitte auch mir, unterbricht uns Herr Michailowski, einige Beispiele anzuführen. „Wenn wir uns ... dem Buch von Blos zuwenden, sehen wir, dass das eine sehr achtbare Arbeit ist, in der jedoch keine besonderen Spuren einer grundlegenden Umwälzung in der Geschichtswissenschaft festzustellen sind. Daraus, was Blos über den Klassenkampf und über die ökonomischen Verhältnisse sagt (und das ist relativ wenig), folgt noch nicht, dass er die Geschichte auf der Eigenentwicklung der Produktions- und Tauschformen aufbaut; die ökonomischen Verhältnisse bei der Wiedergabe der Ereignisse von 1848 zu umgehen, wäre geradezu ein Kunststück. Man entferne aus Blos&rsquo: Buch den Lobgesang auf Marx als den Schöpfer einer Umwälzung in der Geschichtswissenschaft sowie einige konventionelle Phrasen mit marxistischer Terminologie, und es wird einem nicht mehr einfallen zu vermuten, dass man es mit einem Anhänger des ökonomischen Materialismus zu tun habe. Einzelne gute Seiten geschichtlichen Inhalts bei Engels, Kautsky und einigen anderen könnten ebenfalls ohne das Etikett des ökonomischen Materialismus auskommen, da dort tatsächlich die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens in Betracht gezogen wird, wenn auch unter besonderer Betonung der ökonomischen Saite in diesem Akkord.“ [ν]

Herr Michailowski kennt offenbar sehr gut die Redewendung: „Wer A sagt, muss auch B sagen.“ Sein Gedankengang ist folgender: Wenn du ökonomischer Materialist bist, so musst du dich auch an das Ökonomische halten, nicht aber „die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens, wenn auch unter besonderer Betonung der ökonomischen Saite“, in Betracht ziehen. Wir haben Herrn Michailowski jedoch schon dargelegt, dass die wissenschaftliche Aufgabe der Marxisten gerade darin besteht, von der „Saite“ ausgehend die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens zu deuten. Wieso will er nun, dass sie auf diese Aufgabe verzichten und zugleich Marxisten bleiben? Zwar hat sich Herr Michailowski nie in den Sinn dieser Aufgabe hineindenken wollen, aber daran ist selbstverständlich nicht die Marxsche Geschichtstheorie schuld.

Wir begreifen, dass Herr Michailowski, solange wir uns von dieser Aufgabe nicht lossagen, häufig in eine sehr schwierige Situation geraten wird: beim Lesen einer „guten Seite geschichtlichen Inhalts“ wird ihm so manches Mal der Gedanke fern liegen („es wird einem nicht mehr einfallen zu vermuten“!), dass sie von einem „ökonomischen“ Materialisten geschrieben sein könnte. Das ist gerade jene Situation, von der man sagt: Schlimmer als die eines Gouverneurs! [31] Ist aber Marx daran schuld, dass Herr Michailowski in diese Situation gerät?.

Der Achilles der subjektiven Schule bildet sich ein, die „ökonomischen“ Materialisten müssten nur über die „Eigenentwicklung der Produktions- und Tauschformen“ sprechen. Was soll das für eine „Eigenentwicklung“ sein, tiefgründiger Herr Michailowski? Wenn Sie denken, dass sich die Produktionsformen nach Marx’ Ansicht „von selbst“ entwickeln können, so irren Sie sich gewaltig. Was sind gesellschaftliche Produktionsverhältnisse? Das sind Beziehungen der Menschen untereinander. Wie sollen sie sich ohne Menschen entwickeln? Wo es keine Menschen gäbe, würde es auch keine Produktionsverhältnisse geben! Der Chemiker sagt: Die Materie besteht aus Atomen, die sich zu Molekülen verbinden, die Moleküle bilden wiederum kompliziertere Gruppierungen; alle chemischen Prozesse vollziehen sich nach bestimmten Gesetzen. Daraus schließen Sie unerwartet, dass es nach Ansicht des Chemikers nur auf die Gesetze ankomme, dass sich aber die Materie – die Atome und Moleküle – einfach überhaupt nicht bewegen könne, ohne dabei die „Eigenentwicklung“ der chemischen Verbindungen zu verhindern. Die Unsinnigkeit dieser Schlussfolgerung ist jedermann klar. Leider ist die Unsinnigkeit eines seinem inneren Wert nach völlig analogen Schlusses über die Gegenüberstellung von Individuen und Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, von menschlicher Tätigkeit und innerer Logik der Formen des Zusammenlebens, noch nicht jedermann klar.

Wir wiederholen, Herr Michailowski: Die Aufgabe der neuen Geschichtstheorie besteht in der Deutung „der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens“ mit Hilfe dessen, was Sie als ökonomische Saite bezeichnen, das heißt tatsächlich mit Hilfe der Entwicklung der Produktivkräfte. Die „Saite“ ist in gewissem Sinne nur die Grundlage (in welchem Sinne, das haben wir schon erklärt), jedoch vermutet Herr Michailowski ganz vergeblich, dass der Marxist „nur dieser Saite lebt“, wie es eine der Personen in G. I. Uspenskis Erzählung Das Wärterhäuschen tut.

Es ist eine schwierige Sache, den gesamten historischen Prozess zu erklären und sich dabei konsequent an ein Prinzip zu halten. Was soll man aber machen? Die Wissenschaft ist überhaupt keine leichte Sache, sofern sie keine „subjektive“ Wissenschaft ist; in der freilich lassen sich alle Fragen mit erstaunlicher Leichtigkeit lösen. Da wir diese Angelegenheit nun schon einmal zur Sprache gebracht haben, möchten wir Herrn Michailowski sagen, dass sich in Fragen der Entwicklung von Ideologien manchmal sogar die besten Kenner der „Saite“ als ohnmächtig erweisen können, wenn sie nicht eine gewisse Fähigkeit besitzen, und zwar künstlerischen Spürsinn. Die Psychologie passt sich der Ökonomie an. Aber diese Anpassung ist ein komplizierter Prozess, und um seinen gesamten Verlauf zu begreifen, um sich selbst und anderen anschaulich zu zeigen, wie er vor sich geht, ist so manches Mal das Talent eines Künstlers erforderlich. So hat zum Beispiel schon Balzac viel dazu beigetragen, die Psychologie der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft seiner Zeit zu erklären. Manches könnte man auch bei Ibsen lernen, aber bei wem wohl außerdem noch? Wir wollen hoffen, dass mit der Zeit viele solche Künstler auftreten, die einerseits die „ehernen Gesetze“ der Bewegung der „Saite“ begreifen, anderseits verstehen und zeigen können, wie auf der „Saite“, und zwar gerade infolge ihrer Bewegung, die „lebendige Hülle“ der Ideologie wächst. Sie werden entgegnen, wo die dichterische Phantasie eingreife, werde künstlerische Willkür, Phantasterei der Mutmaßungen nicht ausbleiben. Natürlich ist es so! Ohne das geht es nicht ab. Das hat auch Marx sehr gut gewusst; darum sagte er ja auch, man müsse zwischen dem ökonomischen Zustand einer Epoche, den man mit naturwissenschaftlicher Exaktheit bestimmen kann, und dem Zustand ihrer Ideen strengstens unterscheiden. Vieles, sehr vieles auf diesem Gebiet ist für uns noch in dunkel gehüllt. Dunkler aber ist es für die Idealisten, und noch dunkler für die Eklektiker, die übrigens die Bedeutung auftretender Schwierigkeiten nie begreifen und sich einbilden, sie könnten jede beliebige Frage mit Hilfe der berüchtigten „Wechselwirkung“ lösen. In Wirklichkeit jedoch werden sie mit keiner Sache fertig, sondern verstecken sich nur hinter dem Rücken der auftretenden Schwierigkeiten. Bis jetzt hat man die konkrete menschliche Tätigkeit, nach einem Marxschen Ausdruck, ausschließlich vom idealistischen Standpunkt aus erklärt. Was ist daraus geworden? Hat man viele zufriedenstellende Erklärungen gefunden? Unsere Urteile über die menschliche „Geistes“tätigkeit erinnern, vermöge ihrer geringen Gründlichkeit, an die Urteile der alten griechischen Philosophen über die Natur; es sind bestenfalls geniale, meist nur geistvolle Hypothesen, die aus Mangel an jeglichem Anhaltspunkt für einen wissenschaftlichen Beweis weder bestätigt noch bewiesen werden können. Nur dort, wo man genötigt war, die gesellschaftliche Psychologie mit der „Saite“ in Verbindung zu bringen, hat man einiges erreicht. Und nun, da Marx das feststellte und empfahl, die einmal begonnenen Versuche nicht aufzugeben, als er sagte, man müsse sich von der „Saite“ leiten lassen, wurde ihm Einseitigkeit und Begriffsenge vorgeworfen! Wo hier die Gerechtigkeit bleibt, wissen wohl nur die subjektiven Soziologen.

Schwatzt nur drauf los! setzt Herr Michailowski seine Sticheleien fort, euer letztes Wort ist „vor fünfzig Jahren gesagt worden“. Jawohl, Herr Michailowski, so ungefähr. Umso trauriger ist es, dass Sie es bis jetzt nicht begriffen haben. Mangelt es denn in der Wissenschaft an solchen „Wörtern“, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten gesprochen wurden, die aber dennoch vielen der Wissenschaft gegenüber recht sorglosen Millionen von „Persönlichkeiten“ bis jetzt unbekannt geblieben sind? Stellen Sie sich vor, Sie seien einem Hottentotten begegnet und bemühten sich, ihn zu überzeugen, dass die Erde um die Sonne kreist. Der Hottentotte hat sowohl hinsichtlich der Sonne als auch hinsichtlich der Erde eine eigene „originale“ Theorie. Es fällt ihm schwer, sich von ihr zu trennen. So beginnt er nun mit Sticheleien: Sie sind zu mir mit einem neuen Wort gekommen, dabei sagen Sie doch selbst, dass es schon einige Jahrhunderte alt ist! – Was beweisen diese Hottentotten-Sticheleien? Höchstens, dass ein Hottentotte ein Hottentotte ist. Das brauchte jedoch nicht erst bewiesen zu werden.

Herrn Michailowskis Sticheleien beweisen übrigens bedeutend mehr, als die Sticheleien des Hottentotten beweisen könnten. Sie beweisen, dass unser „Soziologe“ unter die gehört, die sich ihrer Verwandtschaft nicht erinnern. Sein subjektiver Standpunkt ist von Bruno Bauer, Szeliga und anderen Vorgängern von Marx überkommen, Vorgängern im chronologischen Sinn dieses Begriffs. Folglich ist Herrn Michailowskis „neues Wort“ selbst im chronologischen Sinn auf jeden Fall älter als das unsrige, hinsichtlich seines inneren Gehalts aber ganz erheblich älter, da der historische Idealismus Bruno Bauers eine Rückkehr zu den Ansichten der Materialisten des vorigen Jahrhunderts bedeutete. [ξ]

Herr Michailowski ist sehr bestürzt, dass das Buch des Amerikaners Morgan über die „Urgesellschaft“ viele Jahre später erschien, als Marx und Engels die Grundlagen des ökonomischen Materialismus veröffentlicht hatten, und zwar „völlig unabhängig von ihnen“. Dazu wollen wir folgendes bemerken:

Erstens ist Morgans Buch aus dem einfachen Grunde vom sogenannten ökonomischen Materialismus „unabhängig“, weil Morgan selber auf eben diesem Standpunkt steht, wovon sich Herr Michailowski leicht überzeugen kann, wenn er das erwähnte Buch durchliest. Zwar ist Morgan unabhängig von Marx und Engels zum Standpunkt des ökonomischen Materialismus gelangt, doch ist das um so besser für ihre Theorie.

Zweitens, was tut es, wenn Marx’ und Engels’ Theorie „viele Jahre später“ durch Morgans Entdeckungen bestätigt wurde? Wir sind überzeugt, dass noch viele Entdeckungen folgen werden, die diese Theorie bestätigen. Was aber Herrn Michailowski betrifft, so sind wir vom Gegenteil überzeugt: Der „subjektive“ Standpunkt wird weder nach fünf noch nach fünftausend Jahren durch irgendeine Entdeckung gerechtfertigt werden.

Aus einem Engelsschen Vorwort [nn] erfuhr Herr Michailowski, dass in den vierziger Jahren die Kenntnisse des Verfassers der Lage der arbeitenden Klasse in England [oo] und seines Freundes Marx auf dem Gebiet der ökonomischen Geschichte „unvollständig“ waren (wie Engels selber sagt). Herr Michailowski hüpft und jubelt aus diesem Anlass: Folglich sei auch die gesamte Theorie des „ökonomischen Materialismus“, die ja gerade in den vierziger Jahren entstanden sei, auf unvollständige Kenntnisse gegründet. Das ist eine Folgerung, die eines scharfsinnigen Gymnasiasten der vierten Klasse würdig ist. Ein reifer Mensch hätte begriffen, dass Ausdrücke wie „vollständig“, „unvollständig“, „klein“, „groß“ hinsichtlich wissenschaftlicher Kenntnis wie auch in anderer Hinsicht relativ aufzufassen sind. Nachdem die Grundlagen der neuen Geschichtstheorie veröffentlicht waren, lebten Marx und Engels noch mehrere Jahrzehnte; sie befassten sich eifrig mit ökonomischer Geschichte und erzielten auf diesem Gebiet ungeheure Erfolge, was in Anbetracht ihrer außerordentlichen Fähigkeiten besonders leicht zu verstehen ist. Dank dieser Erfolge mussten ihnen ihre früheren Kenntnisse „unvollständig“ erscheinen; das beweist aber noch nicht, dass ihre Theorie haltlos war. Darwins Werk über die Entstehung der Arten erschien 1859. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass Darwin bereits zehn Jahre später jene Kenntnisse für unvollständig hielt, die er bei der Veröffentlichung seines Buches besessen hatte. Was folgt aber daraus?

Recht ironisch äußert sich Herr Michailowski auch dazu, dass „für eine Theorie, die auf Erhellung der Weltgeschichte Anspruch erhob, noch vierzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung“ (das heißt angeblich bis zum Erscheinen von Morgans Werk) „die alte griechische und germanische Geschichte ein ungelöstes Rätsel war“ [ο]. Diese Ironie beruht ausschließlich auf „Verlegenheit“.

Dass der griechischen und römischen Geschichte der Klassenkampf zugrunde lag, konnte Marx und Engels Ende der vierziger Jahre einfach deshalb nicht unbekannt sein, weil es bereits die griechischen und römischen Schriftsteller wussten. Lesen Sie Thukydides, Xenophon, Aristoteles, lesen Sie die römischen Historiker, ja, auch Titus Livius, der übrigens bei der Beschreibung von Ereignissen zu häufig den „subjektiven“ Standpunkt bezieht – bei allen werden Sie auf die feste Überzeugung stoßen, dass die ökonomischen Verhältnisse und der von ihnen hervorgerufene Klassenkampf die Grundlage der inneren Geschichte aller damaligen Gesellschaften waren. Diese Überzeugung erschien bei ihnen in der unvermittelten Form der einfachen Feststellung einer einfachen, allgemein bekannten Tatsache, obwohl man bei Polybios schon so etwas wie eine Geschichtsphilosophie findet, die auf der Anerkennung dieser Tatsache beruht.

Wie dem auch sei, die Tatsache haben alle anerkannt. Glaubt Herr Michailowski nun wirklich, dass Marx und Engels „die Alten nicht gelesen haben“? Unlösbare Rätsel für Marx und Engels wie für alle Wissenschaftler waren Fragen, die die prähistorischen Lebensformen in Griechenland, Rom und bei den germanischen Stämmen betrafen (wie es Herr Michailowski an einer anderen Stelle selber sagt). Auf diese Fragen hat Morgans Buch geantwortet. Denkt aber unser Verfasser vielleicht, es habe für Darwin keine ungelösten Fragen in der Biologie seiner Zeit gegeben, als er sein berühmtes Buch schrieb?

„Die Kategorie der Notwendigkeit“, fährt Herr Michailowski fort, „ist so allgemein und unbestreitbar, dass sie selbst die wahnsinnigsten Hoffnungen umfasst sowie die sinnlosesten Befürchtungen, mit denen zu kämpfen sie offenbar berufen ist. Von ihrem Standpunkt aus gesehen, ist die Hoffnung, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, nicht Dummheit, sondern Notwendigkeit, ebenso, wie Quasimodo keine Missgestalt, sondern eine Notwendigkeit, Kain und Judas keine Bösewichter, sondern Notwendigkeiten waren. Mit einem Wort, wenn wir uns im praktischen Leben von ihr allein leiten lassen, gelangen wir in irgendeinen phantastischen, grenzenlosen Raum, wo es weder Ideen noch Dinge, noch Erscheinungen gibt, sondern nur einfarbige Schatten von Ideen und Dingen.“ [π]

Das stimmt, Herr Michailowski, gerade die verschiedenen Missgestalten sind ebenso Produkte der Notwendigkeit wie die anomalsten Erscheinungen, obwohl daraus noch nicht folgt, dass Judas kein Bösewicht war, denn es ist unsinnig, den Begriff „Bösewicht“ und den Begriff „Notwendigkeit“ einander gegenüberzustellen. Da Sie aber, verehrter Herr, als Held erscheinen wollen (denn jeder subjektive Denker ist ein Held, sozusagen ex professo [32]), so beweisen Sie doch bitte, dass Sie kein „wahnsinniger“ Held sind, dass Ihre „Hoffnungen“ nicht „unsinnig“, dass Ihre „Befürchtungen“ nicht „sinnlos“, dass Sie kein „Quasimodo“ des Denkens sind, dass Sie die Masse nicht dazu auffordern, „mit dem Kopf durch die Wand zu rennen“.

Um das zu beweisen, müssten Sie sich der Kategorie der Notwendigkeit bedienen; Sie aber verstehen nicht, mit ihr zu operieren, Ihr subjektiver Standpunkt schließt selbst die Möglichkeit solcher Operationen aus; dank dieser „Kategorie“ verwandelt sich die Wirklichkeit für Sie in ein Schattenreich. Hier ist es, wo Sie in eine Sackgasse geraten, hier ist es, wo Sie Ihrer Soziologie ein „testimonium paupertatis“ [33] ausstellen, hier ist es, wo Sie zu wiederholen beginnen, die „Kategorie der Notwendigkeit“ beweise überhaupt nichts, da sie angeblich zu viel beweise. Das Zeugnis der theoretischen Armut ist die einzige Urkunde, mit der Sie Ihre „die Stadt heimsuchenden“ Anhänger ausrüsten. Das ist dürftig, recht dürftig, Herr Michailowski!

Die Meise behauptet, sie sei ein heroischer Vogel, und es bereite ihr also keine Schwierigkeiten, das Meer in Brand zu stecken. [34] Wenn man sie auffordert, zu erklären, auf welchen physikalischen oder chemischen Gesetzen ihr Plan, das Meer in Brand zu stecken, beruhe, dann gerät sie in Verwirrung und beginnt, um sich herauszureden, trist und unverständlich daher zu schwätzen, man rede immer von „Gesetzen“, eigentlich jedoch erklärten Gesetze überhaupt nichts, man könne keine Pläne auf sie gründen, man müsse auf einen glücklichen Zufall hoffen, da es schon längst bekannt sei, dass man, so Gott wolle, auch aus einem Spazierstock schießen könne und dass überhaupt la raison finit toujours par avoir raison. [35] Welch leichtsinniger, welch unangenehmer Vogel!

Vergleichen wir mit diesem unverständlichen Gemurmel der Meise die mutige, erstaunlich harmonische Geschichtsphilosophie von Marx.

Unsere menschenähnlichen Vorfahren waren, wie alle anderen Tiere, völlig der Natur unterworfen. Ihre gesamte Entwicklung war jene völlig unbewusste Entwicklung, die in der Anpassung an die Umwelt, in der natürlichen Zuchtwahl im Existenzkampf besteht. Das war das dunkle Reich der physischen Notwendigkeit. Damals dämmerte das Morgenrot des Bewusstseins und folglich der Freiheit noch nicht einmal. Aber die physische Notwendigkeit führte den Menschen auf eine Entwicklungsstufe, auf der er sich nach und nach vom übrigen Tierreich zu scheiden begann. Er wurde zu einem Tier, das Werkzeuge herstellt. Ein Werkzeug ist ein Organ, mit dem der Mensch, um seine Ziele zu erreichen, auf die Natur einwirkt. Es ist ein Organ, das die Notwendigkeit dem menschlichen Bewusstsein unterwirft, wenn auch anfangs nur in sehr geringem Maße, nur stückweise, nur augenblicksweise, wenn man so sagen darf. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt das Maß der Herrschaft des Menschen über die Natur.

Die Entwicklung der Produktivkräfte selbst wird von den Eigenschaften des geographischen Milieus bestimmt, das die Menschen umgibt. Somit gibt die Natur selber dem Menschen die Mittel an die Hand, mit denen er sie sich unterwirft.

Aber der Mensch führt den Kampf gegen die Natur nicht allein; nach Marx’ Ausdruck kämpft mit ihr der vergesellschaftete Mensch, das heißt ein nach seinem Umfang mehr oder weniger bedeutender gesellschaftlicher Verband. Die Eigenschaften des vergesellschafteten Menschen werden in jedem Augenblick von dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt, da vom Entwicklungsstand dieser Kräfte die gesamte Ordnung des gesellschaftlichen Verbandes abhängt. So wird diese Ordnung letzten Endes von den Eigenarten des geographischen Milieus bestimmt, das den Menschen eine größere oder geringere Möglichkeit zur Entwicklung ihrer Produktivkräfte liefert. [36] Sobald aber gewisse gesellschaftliche Verhältnisse entstanden sind, vollzieht sich ihre Weiterentwicklung nach eigenen ihnen innewohnenden Gesetzen, deren Wirkung die Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigt oder hemmt, die ihrerseits die historische Bewegung der Menschheit bedingt. Die Abhängigkeit des Menschen vom geographischen Milieu verwandelt sich aus einer unmittelbaren in eine mittelbare. Das geographische Milieu beeinflusst den Menschen über das gesellschaftliche. Infolgedessen wird das Verhältnis des Menschen zu seiner geographischen Umwelt außerordentlich veränderlich. Auf jeder neuen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte wird es zu etwas anderem, als es vorher war. Das geographische Milieu beeinflusste die Briten zu Caesars Zeit völlig anders, als es auf die jetzigen Bewohner Englands wirkt. So löst der moderne dialektische Materialismus die Widersprüche, mit denen die Aufklärer des 18. Jahrhunderts nicht fertig werden konnten. [ρ]

Die Entwicklung des gesellschaftlichen Milieus unterliegt ihren eigenen Gesetzen. Das bedeutet, dass seine Eigenschaften ebenso wenig vom Willen und vom Bewusstsein der Menschen abhängen wie die Eigenschaften des geographischen Milieus. Die produktive Einwirkung des Menschen auf die Natur erzeugt eine neue Art der Abhängigkeit des Menschen, eine neue Art seiner Versklavung: die ökonomische Notwendigkeit. Und je größer seine Macht über die Natur wird, je weiter sich seine Produktivkräfte entwickeln, desto mehr festigt sich diese neue Versklavung: Mit der Entwicklung der Produktivkräfte komplizieren sich die Wechselbeziehungen der Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess; der Ablauf dieses Prozesses entzieht sich gänzlich ihrer Kontrolle; der Erzeuger wird zum Sklaven seines eigenen Erzeugnisses (Beispiel: die kapitalistische Anarchie der Produktion).

Aber wie die den Menschen umgebende Natur ihm selbst die erste Möglichkeit zur Entwicklung seiner Produktivkräfte und folglich zu seiner allmählichen Befreiung aus ihrer Gewalt lieferte, führen die Produktionsverhältnisse, als gesellschaftliche Verhältnisse, durch die eigene Logik ihrer Entwicklung den Menschen zum Bewusstsein seiner Versklavung durch die ökonomische Notwendigkeit. So ergibt sich die Möglichkeit eines neuen und endgültigen Triumphs des Bewusstseins über die Notwendigkeit, der Vernunft über das blinde Gesetz.

Einmal dessen bewusst geworden, dass die Ursache der Versklavung durch das eigene Produkt in der Anarchie der Produktion besteht, organisiert der Erzeuger („der vergesellschaftete Mensch“) diese Produktion und ordnet sie damit seinem Willen unter. Damit hört das Reich der Notwendigkeit auf, und es entsteht die Freiheit, die sich selbst als Notwendigkeit erweist. Die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ist vorbei, es beginnt ihre Geschichte. [ς]

Somit strebt der dialektische Materialismus keinesfalls danach – wie seine Gegner behaupten –, den Menschen zu überzeugen, es sei unsinnig, sich gegen die ökonomische Notwendigkeit aufzulehnen, sondern er zeigt ihm erstmalig, wie sie zu überwinden sei. So wird jener fatalistische Unvermeidlichkeitscharakter beseitigt, wie er dem metaphysischen Materialismus eigen ist. Genauso wird auch jede Grundlage für jenen Pessimismus beseitigt, zu dem, wie wir gesehen haben, jedes konsequent idealistische Denken unbedingt hinführt. Der einzelne sei nur Schaum auf der Welle, die Menschen unterlägen einem ehernen Gesetz, das man höchstens erkennen, nicht aber mit dem menschlichen Willen beherrschen könne, sagte Georg Büchner. Nein, erwidert Marx, wenn wir dieses eherne Gesetz erkannt haben, hängt es von uns ab, sein Joch abzuwerfen, hängt es von uns ab, die Notwendigkeit zur gehorsamen Dienerin der Vernunft zu machen.

Ich bin ein Wurm, sagt der Idealist. Ich bin ein Wurm, solange ich unwissend bin, erwidert der materialistische Dialektiker; aber ich bin ein Gott, wenn ich weiß. Tantum possumus, quantum scimus. [37]

Und gegen diese Theorie, die das Recht des Menschenverstandes erstmalig fest begründete, die erstmalig die Vernunft nicht als hilfloses Spielzeug des Zufalls, sondern als eine gewaltige, unüberwindliche Kraft anzusehen begann, erhebt man sich im Namen der von ihr angeblich mit Füßen getretenen Rechte derselben Vernunft, im Namen der von ihr angeblich verleugneten Ideale! Gerade dieser Theorie wird Quietismus vorgeworfen, das Streben nach einer Versöhnung mit der Umwelt, fast ein Anbiedern an diese Umwelt, wie es ein Moltschalin [38] tat, der sich bei allen, die im Rang über ihm standen, anbiederte! Wahrlich, da kann man sagen: Hier wird die Schuld auf einen Unschuldigen abgewälzt.

Der dialektische Materialismus [τ] sagt: Die menschliche Vernunft konnte nicht der Schöpfer der Geschichte sein, da sie selbst ihr Produkt ist. Doch sobald dieses Produkt in Erscheinung getreten ist, soll es sich nicht und kann es sich seinem Wesen nach nicht der von der vergangenen Geschichte hinterlassenen Wirklichkeit unterordnen; es ist notwendigerweise bemüht, sie nach seinem Bilde zu formen, sie vernünftiger zu gestalten.

Der dialektische Materialismus sagt wie Goethes Faust:

„{Im Anfang war die Tat!}“

Aus dem Handeln (der gesetzmäßigen Tätigkeit der Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess) erklärt sich für den dialektischen Materialisten die historische Entwicklung der Vernunft des vergesellschafteten Menschen. [υ] Ebenfalls auf das Handeln läuft seine ganze praktische Philosophie hinaus. Der dialektische Materialismus ist die Philosophie des Handelns.

Wenn der subjektive Denker sagt: „mein Ideal“, so sagt er damit: der Triumph der blinden Notwendigkeit. Der subjektive Denker versteht es nicht, sein Ideal auf den Entwicklungsprozess der Wirklichkeit zu gründen; so beginnt bei ihm gleich hinter dem winzigen Gärtchen des Ideals das unermessliche Feld des Zufalls und folglich der blinden Notwendigkeit. Der dialektische Materialismus kennt die Methoden, mit deren Hilfe man dieses ganze unermessliche Feld in einen blühenden Garten des Ideals umwandeln kann. Er fügt nur hinzu, dass die Mittel zu dieser Umwandlung im Schoße dieses Feldes selbst verborgen sind, dass man sie nur zu finden und zu nutzen verstehen muss.

Der dialektische Materialismus beschränkt nicht – wie es der Subjektivismus tut – die Rechte der menschlichen Vernunft. Er weiß, dass die Rechte der Vernunft unermesslich und grenzenlos sind wie ihre Kräfte. Er sagt: Alles, was im Kopf des Menschen an Vernunft vorhanden ist, das heißt alles, was eine wahre Erkenntnis der Wirklichkeit und keine Illusion ist, wird unbedingt in diese Wirklichkeit übergehen, wird unbedingt seinen Teil an Vernünftigkeit in sie hinein tragen.

Daraus ist zu ersehen, worin nach Ansicht der dialektischen Materialisten die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte besteht. Es liegt ihnen fern, diese Rolle gleich Null zu setzen, sie stellen der Persönlichkeit eine Aufgabe, die man – unter Benutzung einer gewöhnlichen, wenn auch unrichtigen Bezeichnung – als ausnehmend idealistisch anerkennen muss. Da die menschliche Vernunft nur über die blinde Notwendigkeit triumphieren kann, wenn sie ihre eigenen inneren Gesetze erkennt, wenn sie diese Notwendigkeit mit ihrer eigenen Waffe geschlagen hat, ist die Entwicklung des Wissens, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins die gewaltigste, edelste Aufgabe der denkenden Persönlichkeit. Licht, mehr Licht! – das ist es, was vor allem notwendig ist.

Da es indessen schon seit langem bekannt ist, dass niemand sein Licht anzündet, um es unter den Scheffel zu stellen, fügen die dialektischen Materialisten hinzu: Man soll das Licht nicht im engen Arbeitszimmer der „Intelligenz“ lassen! Solange es „Helden“ gibt, die sich einbilden, dass es für sie genüge, ihre eigenen Köpfe zu erhellen, um dann die Masse zu führen, wohin es ihnen beliebt, um aus ihr, wie aus Ton, alles, was ihnen einfällt, zu kneten – solange bleibt das Reich der Vernunft nur eine schöne Phrase, nur ein edler Traum. Es kommt uns erst dann mit Siebenmeilenstiefeln entgegen, wenn die „Masse“ selber zum Helden der historischen Handlung wird und wenn in ihr, in dieser grauen „Masse“, das entsprechende Bewusstsein wach geworden ist. Entwickelt das menschliche Bewusstsein, haben wir gesagt. Entwickelt das Selbstbewusstsein der Produzenten, fügen wir jetzt hinzu. Die subjektive Philosophie erscheint uns gerade deshalb so schädlich, weil sie die Intelligenz daran hindert, die Entwicklung dieses Selbstbewusstseins zu fördern, weil sie der Masse die Helden gegenüberstellt, weil sie wähnt, die Masse sei nicht mehr als ein Haufen Nullen, deren Bedeutung nur von den Idealen der sich an ihre Spitze stellenden Helden abhänge.

Wenn nur ein Sumpf da ist – die Sumpfgeister werden schon kommen, sagt unverhüllt ein Sprichwort des Volkes. Wenn nur Helden da sind – die Masse wird sich schon finden, sagen die Subjektivisten, und diese Helden, das sind wir, das ist die subjektive Intelligenz. Darauf erwidern wir: Eure Gegenüberstellung von Helden und Masse ist einfacher Eigendünkel und darum Selbstbetrug. So bleibt ihr gewöhnliche – Schwätzer bis zu jenem Augenblick, da ihr begreifen lernt, dass es der Triumph eurer eigenen Ideale erfordert, selbst die Möglichkeit zu einer solchen Gegenüberstellung zu beseitigen, dass es nötig ist, in der Masse das heroische Selbstgefühl zu wecken. [φ]

Die Ansichten regieren die Welt, sagten die französischen Materialisten; wir sind die Vertreter der Ansichten, also sind wir die Schöpfer der Geschichte; wir sind die Helden, denen die Masse zu folgen hat.

Diese Enge des Gesichtswinkels entsprach der exklusiven Stellung der französischen Aufklärer. Sie waren Vertreter der Bourgeoisie.

Der moderne dialektische Materialismus strebt nach der Beseitigung der Klassen; er ist gerade in dem Augenblick auf den Plan getreten, da diese Beseitigung zur historischen Notwendigkeit wurde. Darum wendet er sich den Produzenten zu, die zu den Helden der kommenden Geschichtsperiode werden müssen. Darum findet zum ersten Mal, seit unsere Welt besteht und die Erde um die Sonne kreist, eine Annäherung zwischen der Wissenschaft und den Arbeitern statt: Die Wissenschaft eilt der werktätigen Masse zu Hilfe, und die werktätige Masse stützt sich in ihrer bewussten Bewegung auf die Erfolge der Wissenschaft.

Wenn das alles nicht mehr ist als Metaphysik, dann wissen wir wirklich nicht mehr, was unsere Gegner als Metaphysik bezeichnen.

„Alles, was ihr sagt, bezieht sich nur auf das Gebiet der Prophezeiungen; es ist alles eine einzige Wahrsagerei, die nur dank den Kniffen der Hegelschen Dialektik eine einigermaßen harmonische Form erhält; deshalb bezeichnen wir euch als Metaphysiker“, antworten die Herren Subjektivisten.

Wir haben schon gezeigt, dass man die „Triade“ nur dann in unsere Diskussion einbeziehen kann, wenn man von ihr nicht den geringsten Begriff hat. Wir haben schon gezeigt, dass sie selbst bei Hegel nie die Rolle eines Arguments gespielt hat und dass sie keinesfalls ein Merkmal seiner Philosophie ist. Wir haben auch gezeigt – so hoffen wir –, dass nicht die Berufung auf die Triade, sondern die wissenschaftliche Erforschung des historischen Prozesses die Kraft des historischen Materialismus ausmacht. Wir könnten diesen Einwand jetzt also unbeachtet lassen. Wir nehmen aber an, dass es nicht gerade unnütz sein wird, den Leser an folgende interessante Tatsache aus der Geschichte der russischen Literatur der siebziger Jahre zu erinnern.

In einer Besprechung des Kapitals bemerkte Herr J. Schukowski, der Verfasser stütze sich in seinen, wie man jetzt sagt, Wahrsagereien nur auf „formale“ Überlegungen, seine Beweisführung sei nur ein unbewusstes Spiel mit Begriffen. Auf diese Beschuldigung erwiderte der verstorbene N. Sieber folgendes:

„Wir bleiben bei der Überzeugung, dass die Untersuchung der materiellen Aufgabe bei Marx überall der formalen Seite seiner Arbeit vorangeht. Wir meinen, dass, wenn Herr Schukowski Marx' Buch aufmerksam und unvoreingenommen gelesen hätte, er mit uns in dieser Hinsicht einverstanden wäre. Dann hätte er zweifellos gesehen, dass der Verfasser des „Kapitals“ gerade durch die Erforschung der materiellen Verhältnisse jener Periode der kapitalistischen Entwicklung, die wir durchleben, den Beweis erbringt, dass sich die Menschheit nur lösbare Aufgaben stellt. Marx führt seine Leser Schritt für Schritt durch das Labyrinth der kapitalistischen Produktion und gibt uns durch die Analyse aller ihrer Bestandteile die Möglichkeit, ihren zeitweiligen Charakter zu verstehen.“ [χ]

„Nehmen wir ... die Fabrikindustrie“, fuhr N. Sieber fort, „mit ihrem ständigen Wechsel der Hände bei jeder Operation, mit ihrer fieberhaften Bewegung, die die Arbeiter fast Tag für Tag aus einer Fabrik in die andere wirft; sind ihre materiellen Verhältnisse nicht ein vorbereitendes Milieu für neue Formen der gesellschaftlichen Ordnung, für die gesellschaftliche Kooperation? Geht denn die Wirkung der periodisch sich wiederholenden Wirtschaftskrisen nicht in gleicher Richtung? Strebt denn die Schrumpfung der Märkte, die Kürzung des Arbeitstages, die Konkurrenz verschiedener Länder auf dem allgemeinen Markt, der Sieg des Großkapitals über das kleinere Kapital nicht dem gleichen Ziel zu?“

N. Sieber weist dann auf das unglaublich schnelle Wachstum der Produktivkräfte im Entwicklungsprozess des Kapitalismus hin und fragt wiederum:

„Oder sind das alles keine materiellen, sondern rein formale Umgestaltungen? ... Ist denn zum Beispiel der Umstand, dass die kapitalistische Produktion den Weltmarkt periodisch mit Waren überschwemmt und zugleich Millionen zum Hungern verurteilt, während es zu viel Gebrauchsgüter gibt, nicht ein tatsächlicher Widerspruch der kapitalistischen Produktion? ... Ist es ferner nicht ein tatsächlicher Widerspruch des Kapitalismus, ein Widerspruch, den, nebenbei gesagt, die Kapitalbesitzer selbst gern zugeben, wenn er eine große Zahl von Menschen von der Arbeit befreit und zugleich über einen Mangel an Arbeitskräften klagt? Ist es nicht ein tatsächlicher Widerspruch, wenn die Mittel zur Verringerung der Arbeit, wie mechanische und sonstige Verbesserungen und Vervollkommnungen, zu Mitteln der Verlängerung des Arbeitstages werden? Ist es nicht ein tatsächlicher Widerspruch, wenn der Kapitalismus, der für die Unantastbarkeit des Eigentums eintritt, der Mehrheit der Bauern das Land nimmt und den größten Teil der Bevölkerung in bloßer Lohnarbeit hält? Ist das alles und noch manches andere bloße Metaphysik, ist das etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt? Es genügt doch, eine beliebige Nummer des englischen Economist in die Hand zu nehmen, um sich sofort vom Gegenteil zu überzeugen. Somit bedarf der Erforscher der gegenwärtigen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lebensweise keinesfalls einer künstlichen Anpassung der kapitalistischen Produktion an vorsorglich erfundene formale, dialektische Widersprüche; die tatsächlichen Widersprüche allein sind für ihn mehr als ausreichend.“

Siebers inhaltlich überzeugende Antwort war ihrer Form nach sehr mild. Völlig anderen Charakter trug die Erwiderung des Herrn Michailowski an den gleichen Herrn Schukowski

Unser ehrwürdiger Subjektivist hat von dem Werk, das er damals in Schutz nahm, bis jetzt noch eine äußerst „beschränkte“, um nicht zu sagen, einseitige Auffassung behalten und bemüht sich, auch andere davon zu überzeugen, dass seine einseitige Auffassung gerade das richtige Werturteil sei. Solch ein Mensch konnte selbstredend kein guter Verteidiger des Kapitals sein. Darum ist seine Erwiderung voll von kindlichsten Kuriositäten. Hier ist zum Beispiel eine: Herr Schukowski bekräftigte seine Behauptung, Marx treibe Formalismus und missbrauche die Hegelsche Dialektik, unter anderem durch einen Hinweis auf eine Stelle im Vorwort des Buches Zur Kritik der politischen Ökonomie. Herr Michailowski fand, dass Marx’ Gegner in diesem Vorwort „mit Recht eine Widerspiegelung der Hegelschen Philosophie erblickt habe“: „Wenn Marx nur dieses< Vorwort Zur Kritik geschrieben hätte, dann wäre Herr Schukowski durchaus im Recht“ [ψ], das heißt, es wäre dann bewiesen, dass Marx nicht mehr als ein Formalist und Hegelianer war. Hier hat Herr Michailowski so gut ins Blaue geschossen und diesen Schuss so gut „ausgeschlachtet“, dass man sich unwillkürlich die Frage stellt: Hat denn unser damals noch zu großen Hoffnungen berechtigender Verfasser dieses von ihm erwähnte Vorwort überhaupt gelesen? [ω] Man könnte noch mehr solcher Kuriositäten anführen (eine wird später noch genannt werden), aber hier kommt es darauf nicht an. Herr Michailowski mag Marx noch so schlecht begriffen haben, er hat immerhin sofort gemerkt, dass Herr Schukowski hinsichtlich des „Formalismus“ „nur so daher geschwatzt“ hat; immerhin bildete er sich ein, dieses Geschwätz sei ein einfaches Produkt der – Skrupellosigkeit.

„Hätte Marx gesagt“, bemerkt Herr Michailowski mit Recht, „das Entwicklungsgesetz der modernen Gesellschaft sei so gestaltet, dass sie ihren vorherigen Zustand selbst spontan negiert und dann diese Negation negiert, indem sie den Widerspruch der abgelaufenen Stadien in der Einheit des individuellen und gesellschaftlichen Eigentums versöhnt; hätte er das gesagt und nur das gesagt (wenn auch auf vielen Seiten), so wäre er reiner Hegelianer gewesen, der die Gesetze aus den Tiefen seines Geistes aufbaut und sich mit rein formalen, das heißt vom Inhalt unabhängigen Grundsätzen zufriedengibt. Aber jeder, der das Kapital gelesen hat, weiß, dass er nicht nur das gesagt hat.“

Nach den Worten des Herrn Michailowski lässt sich die Hegelsche Formel von dem von Marx in sie angeblich hineingepressten ökonomischen Inhalt ebenso leicht „abziehen“, wie sich ein Handschuh von der Hand ziehen lässt oder ein Hut vom Kopfe,

„Hinsichtlich der durchlaufenen Stufen der ökonomischen Entwicklung kann es hier keinen Zweifel geben ... Ebenso unbestreitbar ist auch der weitere Verlauf des Prozesses: die Konzentration der Produktionsmittel in einer immer geringer weidenden Zahl von Händen. Hinsichtlich der Zukunft können natürlich Zweifel bestehen. Marx glaubt, dass da die Konzentration des Kapitals von einer Vergesellschaftung der Arbeit begleitet und diese letztere eben jenen ökonomischen und moralischen Boden darstellen werde (wie soll denn diese Vergesellschaftung der Arbeit den moralischen Boden „darstellen“? Was soll nun mit der „Eigenentwicklung der Formen“ werden? G. P.), auf dem die neue rechtliche und politische Ordnung erwachsen wird. Herr Schukowski hatte das volle Recht, diese Konstruktion als wahrsagerisch zu bezeichnen, hatte jedoch kein Recht (moralisches natürlich. G. P.), die Bedeutung völlig totzuschweigen, die Marx dem Vergesellschaftungsprozess beimisst.“ [A]

„Das ganze Kapital, bemerkt Herr Michailowski ganz richtig, „ist der Untersuchung gewidmet, wie die einmal entstandene gesellschaftliche Form sich weiterentwickelt, ihre typischen Züge verstärkt, wobei sie Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen von Produktionsmethoden, neue Märkte, selbst die Wissenschaft sich unterordnet, sie assimiliert (?) und sie zwingt, für sich zu arbeiten, und wie die bestehende Form weitere Veränderungen der materiellen Bedingungen schließlich nicht mehr vertragen kann.“ [B]

Bei Marx „bleibt gerade die Analyse der Beziehungen der gesellschaftlichen Form (das heißt des Kapitalismus, nicht wahr, Herr Michailowski?) zu den materiellen Bedingungen ihrer Existenz (das heißt zu den Produktivkräften, die den Bestand der kapitalistischen Produktionsform immer unsicherer machen, nicht wahr, Herr Michailowski?) für immer als Denkmal des logischen Systems und einer eminenten Gelehrsamkeit bestehen. Herr Schukowski hat den moralischen Mut, zu behaupten, dass Marx gerade diese Frage umgehe. Hier lässt sich nichts weiter tun. Es bleibt nur übrig, die weiteren halsbrecherischen Übungen des zur Erheiterung des Publikums Purzelbäume schlagenden Kritikers mit Verwunderung zu verfolgen, eines Publikums, dessen einer Teil zweifellos sofort begreifen wird, dass sich hier ein kühner Akrobat produziert, während der andere Teil diesem staunenswerten Schauspiel vielleicht noch eine ganz andere Bedeutung beimessen könnte.“ [Γ]

Summa summarum [39] Wenn Herr Schukowski Marx Formalismus vorwarf, so ist dieser Vorwurf, nach den Worten des Herrn Michailowski, „eine große Lüge, die aus einer Reihe kleiner Lügen bestand“.

Dieses Urteil war hart, aber durchaus gerecht. Wenn es aber in Bezug auf Schukowski gerecht war, dann ist es auch gerecht in Bezug auf alle jene, die heute wiederholen, Marx’ „Prophezeiungen“ beruhten nur auf der Hegelschen Triade. Wenn dieses Urteil aber in Bezug auf alle jene Menschen gerecht ist, so – machen Sie sich doch die Mühe, folgenden Auszug durchzulesen:

„Er“ (Marx) „füllte das leere dialektische Schema so stark mit Tatsacheninhalt aus, dass man es von diesem Inhalt, wie einen Deckel von einem Napf, abheben kann, ohne etwas zu verändern, ohne etwas zu beschädigen mit Ausnahme nur eines Punktes von allerdings riesiger Bedeutung. Und zwar: Hinsichtlich der Zukunft sind die ‚immanenten’ Gesetze der Gesellschaft ausschließlich dialektisch aufgestellt. Dem orthodoxen Hegelianer genügt es, zu sagen, dass der ‚Negation’ die ‚Negation der Negation’ folgen müsse; die in Hegels Weisheit nicht Eingeweihten können sich damit jedoch nicht begnügen; für sie ist eine dialektische Schlussfolgerung kein Beweis, und ein Nichthegelianer, der ihr geglaubt hat, muss wissen, dass er eben geglaubt und nicht etwa sich überzeugt hat.“ [Δ]

Herr Michailowski hat sein eigenes Urteil gesprochen.

Herr Michailowski ist sich dessen bewusst, dass er die Worte des Herrn J. Schukowski über das „Formale“ der Marxschen Argumente zugunsten der „Prophezeiungen“ jetzt wiederholt. Er hat seinen Aufsatz Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn J. Schukowski nicht vergessen und befürchtet, sein Leser könne sich im unpassenden Augenblick seiner erinnern. Darum tut er erst so, als spreche er auch jetzt genauso wie in den siebziger Jahren. Zu diesem Zweck wiederholt er, dass man „das dialektische Schema“ „wie einen Deckel“ abheben könne usw. Danach kommt „nur ein Punkt“, in dem Herr Michailowski, vor dem Leser verborgen, mit Herrn J. Schukowski völlig übereinstimmt. Doch dieser „eine Punkt“ ist gerade jener Punkt von riesiger Bedeutung, der dazu diente, Herrn Schukowski des „Akrobatentums“ zu überführen.

Im Jahre 1877 sagte Herr Michailowski, dass sich Marx auch hinsichtlich der Zukunft – das heißt gerade hinsichtlich des „einen Punktes von riesiger Bedeutung“ – nicht mit einem Hinweis auf Hegel begnügt hat. Jetzt erweist es sich bei Herrn Michailowski, er habe sich darauf beschränkt. Im Jahre 1877 sagte Herr Michailowski, Marx habe mit „logischer Kraft“ und „eminenter Gelehrsamkeit“ gezeigt, wie die „bestehende Form“ (das heißt der Kapitalismus) weitere Veränderungen „der materiellen Bedingungen“ ihrer Existenz „nicht vertragen kann“. Das bezog sich gerade auf den „einen Punkt von riesiger Bedeutung“. Jetzt hat Herr Michailowski vergessen, wie viel Überzeugendes Marx zu diesem Punkt gesagt und wie viel logische Kraft und eminente Gelehrsamkeit er dabei gezeigt hatte. Im Jahre 1877 bestaunte Herr Michailowski jenen „moralischen Mut“, den Herr Schukowski zeigte, als er verschwieg, dass Marx zur Bekräftigung seiner Vermutungen auf die in der kapitalistischen Gesellschaft bereits vor sich gehende Vergesellschaftung der Arbeit hingewiesen hatte. Auch das bezieht sich auf den „einen Punkt von riesiger Bedeutung“. Gegenwärtig versucht Herr Michailowski seine Leser zu überzeugen, Marx stelle in dieser Hinsicht „ausschließlich dialektische“ Vermutungen an. Im Jahre 1877 wusste „jeder, der das Kapital gelesen hat, dass Marx nicht nur das gesagt hat“. Jetzt stellt es sich heraus, er habe „nur das“ gesagt und die Überzeugung seiner Anhänger hinsichtlich der Zukunft „beruhe ausschließlich auf dem Schluss der Hegelschen Kette mit drei Enden“ [Ε]. Welche Wendung mit Gottes Beistand!

Herr Michailowski hat sein eigenes Urteil gesprochen und ist sich dessen auch bewusst.

Warum aber ist es Herrn Michailowski eingefallen, sich selbst seinem so erbarmungslosen eigenen Urteil auszuliefern? Hat dieser Mann, der früher leidenschaftlich literarische „Akrobaten“ entlarvte, im hohen Alter etwa selber eine Neigung zu „akrobatischen Künsten“ verspürt? Sind solche Wandlungen wirklich möglich? Möglich sind alle Wandlungen, verehrter Leser! Und sind die Menschen, mit denen solche Wandlungen geschehen, zu verurteilen? Wir wollen sie nicht rechtfertigen. Aber auch sie verdienen das, was man humane Behandlung nennt. Erinnern Sie sich doch an die zutiefst humanen Worte des Verfassers der Kommentare zu Mill: Wenn ein Mensch schlecht handelt, ist es häufig weniger seine Schuld als sein Unglück; denken Sie an das, was der gleiche Verfasser über die literarische Tätigkeit N. A. Polewois sagte:

„N. A. Polewoi war ein Anhänger Cousins, den er für den Besitzer aller Weisheiten und den größten Philosophen der Welt hielt ... Cousins Anhänger konnte sich mit der Hegelschen Philosophie nicht versöhnen; und als Hegels Philosophie in die russische Literatur eindrang, erwiesen sich Cousins Jünger als rückständige Menschen; dass sie ihre Überzeugungen verteidigten und das als unsinnig bezeichneten, was Menschen sagten, die sie in geistiger Hinsicht überholt hatten, war in sittlicher Hinsicht nicht verbrecherisch. Man kann einem Menschen nicht zum Vorwurf machen, dass andere, die frischere Kräfte und größere Entschlossenheit besitzen, ihn überholt haben – sie sind im Recht, weil sie der Wahrheit näher sind, er ist nicht schuldig – er irrt sich bloß.“ [Z]

Herr Michailowski war sein Leben lang Eklektiker. Entsprechend seiner ganzen Denkweise, entsprechend dem Charakter seiner gesamten früheren philosophischen Bildung – wenn man diesen Ausdruck auf Herrn Michailowski anwenden darf – konnte er sich mit der Marxschen Geschichtsphilosophie nicht aussöhnen. Als Marx’ Ideen nach Russland einzudringen begannen, versuchte er zunächst, sie zu verteidigen, was natürlich nicht ohne zahlreiche Vorbehalte und bedeutende „Bedenken“ abging. Damals glaubte er, es würde ihm gelingen, auch diese Ideen in seiner eklektischen Mühle zu zermahlen und dadurch in seine geistige Nahrung noch mehr Abwechslung hineinzubringen. Später sah er ein, dass die Marxschen Ideen sich keineswegs dazu eignen, jene Mosaikarbeiten, die man Weltanschauung der Eklektiker nennt, auszuschmücken, und dass ihre Verbreitung das ihm so lieb gewordene Mosaik zu zerstören drohte. Nun zog er gegen diese Ideen zu Felde. Natürlich wurde er damit sofort zu einem rückständigen Menschen, doch wahrlich, uns scheint, er ist nicht schuldig – er irrt sich bloß.

„Das alles rechtfertigt doch aber nicht das ‚Akrobatentum‘!“

Wir wollen es ja auch keinesfalls rechtfertigen, sondern weisen nur auf die mildernden Umstände hin: Auf eine für ihn selbst völlig unmerkliche Art und Weise geriet Herr Michailowski durch die Weiterentwicklung des russischen gesellschaftlichen Denkens in eine Lage, der man nur durch „Akrobatentum“ entkommen kann. Es gäbe natürlich noch einen Ausweg, ihn aber würde nur ein Mensch beschreiten, dem wahres Heldentum eigen ist. Dieser Ausweg wäre: die eklektischen Waffen strecken.

* * *

Anmerkungen

A. Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat von Edgar Bauer, Charlottenburg 1843, S. 208/209.

B. Ebenda, S. 209.

C. Soviel wie die absolute Idee. G. P.

D. Der Leser wird Hegels oben angeführten Satz „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ nicht vergessen haben. G. P.

1. nach dem Fest; hinterdrein.

E. Bruno Bauer – der ältere Bruder des obengenannten Edgar Bauer, Verfasser der zu ihrer Zeit berühmten Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker.

F. Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten von Friedrich Engels und Karl Marx, Frankfurt am Main 1845, S. 126–128. [pp] Diese Schrift ist eine Sammlung von Aufsätzen von Marx und Engels, die sich gegen verschiedene Ansichten der „kritischen Kritik“ richten. Die zitierte Stelle ist einem Aufsatz von Marx gegen einen Artikel Bruno Bauers entnommen. Aus Marx ist auch die im vorigen Kapitel angeführte Stelle.

G. Ebenda, S. 6. [qq]

H. “So thoroughly is the use of tools the exclusive attribute of man, that the discovery of a single artificially shaped flint in the drift or cave-breccia, is deemed proof enough that man has been there“ [So ausnahmslos ist der Gebrauch von Werkzeugen das ausschließliche Merkmal des Menschen, dass die Entdeckung eines einzigen künstlich bearbeiteten Feuersteins im Geschiebe oder im Trümmergestein von Höhlen als hinreichender Beweis dafür gilt, dass dort der Mensch gelebt hat]. Prehistoric Man, by Daniel Wilson, v. I, p. 151/152, London 1876.

I. Lohnarbeit und Kapital von Karl Marx. [rr]

J. Lohnarbeit und Kapital von Karl Marx. [ss]

K. «La descendance de l’homme etc.», Paris 1881, p. 51. [Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Stuttgart 1919, S. 56.]

L. In dem bekannten Buche von Martius über die Ureinwohner Brasiliens kann man einige interessante Beispiele dafür finden, wie wichtig selbst die scheinbar unbedeutendsten örtlichen Besonderheiten für die Entwicklung der gegenseitigen Verbindungen zwischen den Bewohnern sind. [C. F. Ph. von Martius, Von dem Rechtszustande unter den Ureinwohnern Brasiliens, München 1832.]

M. Über das Meer muss man allerdings sagen, dass es die Menschen nicht, immer einander nähert. Ratzel (Anthropo-Geographie, Stuttgart 1882, S. 94) bemerkt ganz richtig, im Vergleich mit allen andern natürlichen Grenzscheiden der Völker seien auf einer bestimmten niederen Entwicklungsstufe die vom Meer gebildeten dadurch ausgezeichnet, dass sie absolut sind, das heißt, das Meer macht jeglichen Verkehr zwischen den von ihm getrennten Völkern unmöglich. Der Verkehr seinerseits, dessen Möglichkeit zunächst ausschließlich durch die Eigenarten des geographischen Milieus bedingt war, drückt der Physiognomie primitiver Stämme seinen Stempel auf. Inselbewohner unterscheiden sich stark von Festlandbewohnern. {„Die Bevölkerungen der Inseln sind in einigen Fällen völlig andere als die des nächstgelegenen Festlandes oder der nächsten größeren Insel; aber auch wo sie ursprünglich derselben Rasse oder Völkergruppe angehören, sind sie immer weit von derselben verschieden; und zwar, kann man hinzusetzen, in der Regel weiter als die entsprechenden festländischen Abzweigungen dieser Rasse oder Gruppe untereinander“} (Ratzel, loc. cit., S. 96).

N. Marx, Das Kapital, [I. Band,] 3. Auflage, S. 524–526. [tt] In einer Anmerkung (S. 526) fügt Marx hinzu: „Eine der materiellen Grundlagen der Staatsmacht über die zusammenhanglosen kleinen Produktionsorganismen Indiens war Reglung der Wasserzufuhr. Die mohammedanischen Herrscher Indiens verstanden dies besser als ihre englischen Nachfolger.“ Der im Text angeführten Ansicht von Marx wollen wir die Ansicht der neuesten Forschung entgegensetzen: {„Unter dem, was die lebende Natur dem Menschen an Gaben bietet, ist nicht der Reichtum an Stoffen, sondern der an Kräften oder, besser gesagt, Kräfteanregungen am höchsten zu schätzen“} (Ratzel, loc. cit., S. 343).

2. Fußnote der sowjetischen Redaktion: Plechanows Argumentation zur Bedeutung des geographischen Milieus für die Entwicklung der Gesellschaft kann man nicht als völlig richtig anerkennen. Bekanntlich spricht Plechanow in seinen späteren Werken geradezu vom entscheidenden Einfluss des geographischen Milieus auf den Gesamtverlauf der gesellschaftlichen Entwicklung.

Zugleich mit der richtigen Behauptung, dass das geographische Milieu den Menschen mittels der gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflusse, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, einmal entstanden, nach, ihren eigenen, inneren Gesetzen entwickeln, sagt Plechanow irrtümlicherweise, dass die Gesellschaftsordnung „letzten Endes von den Eigenarten des geographischen Milieus bestimmt“ werde, dass man „die Fähigkeit des Menschen, ‚Werkzeuge herzustellen‘, vor allem als konstante Größe, die äußeren Bedingungen der Verwendung dieser Fähigkeit in der Praxis aber als eine sich ständig verändernde Größe ansehen“ müsse.

O. „Wir müssen uns hüten“, sagt Geiger, „dem Nachdenken bei der Entstehung des Werkzeugs einen zu großen Anteil zuzuschreiben. Die Erfindung der ersten, höchst einfachen Werkzeuge geschah gewiss gelegentlich, zufällig, wie so manche große Erfindung der Neuzeit. Sie wurden ohne Zweifel mehr gefunden als erfunden. Diese Ansicht hat sich mir besonders aus der Beobachtung gebildet, dass die Werkzeuge niemals von einer Bearbeitung, niemals genetisch benannt sind, sondern immer von der Verrichtung, die sie auszuführen haben. Eine Schere, eine Säge, eine Hacke sind Dinge, die scheren, sägen, hacken. Dieses Sprachgesetz muss umso auffallender erscheinen, als die Geräte, die nicht Werkzeuge sind, genetisch, passivisch, nach ihrem Stoff oder der Arbeit benannt zu werden pflegen, aus der sie hervorgehen. Der Schlauch (Weinbehälter) zum Beispiel ist überall als eine abgezogene Tierhaut aufgefasst; neben dem deutschen Worte Schlauch steht im Englischen slough – Schlangenbalg; das griechische ασκός [askós] ist beides, Schlauch und Tierhaut. Hier lehrt uns also die Sprache ganz deutlich, wie und woraus das Geräte, das sie Schlauch nennt, bereitet worden ist. Bei den Werkzeugen ist dies nicht der Fall, und sie können daher, soweit es die Sprache angeht, sehr wohl anfangs gar nicht bereitet, das erste Messer kann ein zufällig gefundener, ich möchte sagen, spielend verwendeter scharfer Stein gewesen sein.“ (L.Geiger, Die Urgeschichte der Menschheit im Lichte der Sprache, mit besonderer Beziehung auf die Entstehung des Werkzeugs, auf S. 36/37 des Sammelbandes Zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Stuttgart 1878.)

P. „Ursprünglich haben nämlich Eudoxus und Archytas die so beliebte und gepriesene Mechanik, zu bunter Verzierung der Geometrie durch niedliche Schaustücke, aufgebracht, indem sie in Schluss und Konstruktion schwer zu beweisende Aufgaben auf sinnfällige und werkzeugliche Beispiele stützten ... Als sich aber Platos Unwillen gegen sie ereiferte, dass sie die Mathematik elend um ihren Vorzug bringen, wann dieselbe von unsinnlichen Gedanken ihre Zuflucht zum Handgreiflichen nehme, und sich hinwiederum mit dem Körper einlasse, der so vieler lästigen und handwerksmäßigen Vorrichtungen bedürfe: so wurde Mechanik von Geometrie rein ausgeschieden, und war lange Zeit ohne philosophische Anerkennung eine der kriegerischen Hilfswissenschaften.“ (Plutarchi Vita Marcelli, edit. Teubneriana, Lipsiae 1883, Cap. XIV, pp. 135/136.)

Wie der Leser sieht, war Plutarchs Ansicht zu jener Zeit keineswegs neu.

Q. Es ist bekannt, dass russische Bauern lange Zeit hindurch selbst Leibeigene besitzen durften und auch häufig besaßen. Der Zustand der Leibeigenschaft konnte dem Bauern nicht angenehm sein. Aber bei dem damaligen Stand der Produktivkräfte Russlands konnte kein Bauer diese Einrichtung für anomal halten. Der „Muschik“, zu etwas Geld gekommen, dachte ebenso selbstverständlich an den Kauf von Leibeigenen, wie ein römischer Freigelassener den Erwerb von Sklaven anstrebte. In dem Aufstand unter Spartacus führten die Sklaven Krieg gegen ihre Herren, nicht aber gegen die Sklaverei; wäre es ihnen gelungen, die Freiheit zu erobern, so würden sie unter günstigen Bedingungen selber ruhigen Gewissens Sklavenhalter geworden sein. Hier fallen einem unwillkürlich Schellings Worte ein und nehmen dabei einen neuen Sinn an: Freiheit soll Notwendigkeit, Notwendigkeit Freiheit sein. Die Geschichte zeigt, dass jede beliebige Art der Freiheit nur dort aufkommt, wo sie sich zur ökonomischen Notwendigkeit erhebt.

R. Siehe [Karejew,] «Экономический материализм в истории»; «вестник Европы» [Westnik Jewropy], August 1894.

3. Holz und Holz – Anspielung auf den „Arzt wider Willen“ von Molière; der Ausdruck bedeutet etwa: Zwischen Holz und Holz ist ein Unterschied.

4. naturwissenschaftliche Bezeichnung für den heute lebenden Menschen und seine entwicklungsgeschichtlich gleichartigen Vorfahren.

S. Wir zitieren die französische Ausgabe von 1874.

T.Studies in Ancient History, [comprising a reprint of] Primitive Marriage“ by John Ferguson MacLennan, p. 75.

U. «вестник Европы» [Westnik Jewropy], Juli 1894, S. 12.

V. Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft von Friedrich Carl von Savigny, Heidelberg 1814, S. 15/14.

W. Erster Band, Berlin 1840, S. 14.

X. Erster Band, S. 22.

Y. Ibid., S. 16.

Z. Cursus der Institutionen, Erster Band, Leipzig 1841, S. 30/31. In einer Anmerkung tritt Puchta entschlossen den Eklektikern entgegen, die „in ängstlicher Flucht vor Extremen eine sichere Mitte gesucht“ und sich bemüht haben, entgegen gesetzte Ansichten über die Entstehung des Rechts zu vereinen, und zwar tritt er ihnen in einer Art entgegen, die unwillkürlich die Frage aufkommen lässt: Hat er etwa die Existenz des Herrn Karejew vorausgeahnt? Anderseits muss man aber auch sagen, dass Deutschland zu Puchtas Zeit genug eigene Eklektiker hatte; mag es fehlen, woran es will, Geister dieser Art werden stets und überall im Überfluss vorhanden sein.

Ä. Ibid., S. 29.

Ö. Tales and Traditions of the Escimo by Dr. Henry Rink, pp. 9 and 30.

Ü. M. Kovalevsky, «Tableau des origines et de l’évolution de la famille et de la propriété», Stockholm 1890, p. 52/53. In dem Buche des verstorbenen N. Sieber, Skizzen der primitiven Wirtschaftskultur, findet der Leser eine Menge von Tatsachen, die außerordentlich klar zeigen, dass die Formen der Aneignung durch die Produktionsmethoden bestimmt werden.

a. Ibid., p. 95.

b. Ibid., p. 57.

c. Ibid., p. 93.

d. Bekanntlich besteht bei allen primitiven Stämmen eine enge Beziehung zwischen dem Jäger und seiner Waffe. „{Der Jäger darf sich keiner fremden Waffen bedienen}“, sagt Martius über die Ureinwohner Brasiliens und erklärt auch gleich, woher die Wilden diese „Überzeugung“ nahmen: „{Besonders behaupten diejenigen Wilden, die mit dem Blasrohr schießen, dass dieses Geschoss durch den Gebrauch eines Fremden verdorben werde, und geben es nicht aus ihren Händen.}“ (Von dem Rechtszustande unter den Ureinwohnern Brasiliens, München 1832, S. 50.)

„{Die Führung dieser Waffen}“ (Pfeil und Bogen) „{erfordert eine große Geschicklichkeit und beständige Übung. Wo sie bei wilden Völkern im Gebrauche sind, berichten uns die Reisenden, dass schon die Knaben sich mit Kindergeräten im Schießen üben.}“ (Oskar Peschel, Völkerkunde, Leipzig 1875, S. 190.)

e. Loc. cit., p. 56.

f. Der Ursprung des Rechts. Prolegomena zu einer allgemeinen vergleichenden Rechtswissenschaft von Dr. Alb. Herm. Post, Oldenburg 1876 [S. 25].

g. Gerade Post gehört zu den Menschen, die den Idealismus noch längst nicht überwunden haben. So entspricht bei ihm zum Beispiel der Sippenverband der Jäger- und Nomadenlebensweise; mit dem Aufkommen des Ackerbaus und der damit verbundenen Sesshaftigkeit tritt der Sippenverband seinen Platz an die „{Gaugenossenschaft}“ (wir würden sagen: Gebietsgenossenschaft) ab. Offenbar sucht der Verfasser den Schlüssel zur Erklärung der Geschichte gesellschaftlicher Verhältnisse in nichts anderem als in der Entwicklung der Produktivkräfte. In Einzelfällen bleibt Post dieser Richtung fast immer treu. Das hindert ihn jedoch nicht, den „{im Menschen schaffenden Geist}“ als die Hauptursache der Rechtsgeschichte anzusehen. Dieser Mann scheint speziell dazu geschaffen, Herrn Karejew Freude zu bereiten.

h. Loc. cit., S. 199. Als wir dieses Zitat abschrieben, schien es uns, als erhebe sich Herr Michailowski rasch von seinem Platz und rufe aus: „Das bestreite ich: Chinesen können mit englischen Gewehren bewaffnet sein. Ist es denn statthaft, auf Grund dieser Gewehre über den Grad ihrer Zivilisation zu urteilen?“ Sehr gut, Herr Michailowski, auf Grund der englischen Gewehre wäre es unlogisch, auf die chinesische Zivilisation zu schließen; nach ihnen muss man gerade die englische Zivilisation beurteilen.

i. Loc. cit., S. 252/253.

5. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Neuausgabe, S. 13. [uu] Hervorhebungen von Plechanow.

6. Ebenda, S. 12. [vv] Hervorhebung von Plechanow.

7. moralische (ethische) und politische Wissenschaften.

j. Aus einem Brief an seine Braut, geschrieben im Jahre 1835 [Georg Büchner, Sämtliche Werke, herausgegeben von Karl Emil Franzos, S. 371 bis 372]. Für Herrn Michailowski sei vermerkt: Das ist nicht der Büchner, der den Materialismus in „allgemein-philosophischem Sinne“ predigte; es ist dessen frühverstorbener Bruder, der Verfasser der berühmten Tragödie Dantons Tod.

8. Hervorhebungen von Plechanow.

k. «вестник Европы», [Westnik Jewropy], Juli 1894, S. 6.

l. Ebenda, S. 7.

m. Siehe das Buch des verstorbenen L. Metschnikow über die „großen historischen Strömungen“. In diesem Buch hat der Verfasser im Wesentlichen nur die Schlussfolgerungen zusammengefasst, zu denen die kompetentesten Fachhistoriker, zum Beispiel Lenormant, schon gelangt waren. Elisée Reclus sagt im Vorwort zu dem genannten Buch, Metschnikows Ansicht mache in der Geschichte der Wissenschaft Epoche. Das ist insofern falsch, als diese Ansicht nicht neu ist; Hegel hat sie schon aufs bestimmteste ausgesprochen. Aber die Wissenschaft wird zweifellos sehr viel gewinnen, wenn sie konsequent an ihr festhält.

n. Siehe Morgans Buch Ancient society und Engels’ Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats.

o. Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum Schluss der Karolingerperiode, Leipzig 1889, S. 233.

9. Dies findet sich so bei Marx nicht wörtlich, wohl aber sinngemäß an zahlreichen Stellen.

10. Die schönste Tochter der Welt kann nur geben, was sie hat.

p. Marx sagt: „Jeder Klassenkampf aber ist ein politischer Kampf“ [Hervorhebung von Plechanow]. [ww] Folglich, schließt Barth, beeinflusst die Politik eurer Ansicht nach durchaus nicht die Ökonomie, dabei führt ihr aber selbst Tatsachen an, die zeigen ... und sofort. – Bravo! ruft Herr Karejew aus, das nenne ich ein Musterbeispiel dafür, wie man mit Marx diskutieren muss. Das „Musterbeispiel“ des Herrn Karejew offenbart überhaupt eine erstaunliche Kraft der Gedanken. „Rousseau“, sagt das Musterbeispiel, „lebte in einer Gesellschaft der aufs höchste gesteigerten Privilegien und Ständeunterschiede, der Unterordnung unter einen allmächtigen Despotismus; aber durch die aus dem Altertum überlieferte, durch Hobbes und Locke fortgepflanzte Methode, den Staat rationell zu konstruieren, kam Rousseau zu der Entwerfung des Bildes einer Gesellschaft, welche, auf allgemeine Gleichheit und Souveränität des Volkes gegründet, zu der bestehenden Verfassung Frankreichs in diametralem Gegensatz stand. Seine Theorie wurde durch den Convent zur Praxis, die Philosophie also bestimmte die Politik und indirekt durch diese auch die Ökonomie“ (loc. cit., S 58).

Wie gefällt Ihnen diese glänzende Argumentation, in deren Interesse Rousseau, der Sohn eines armen Genfer Republikaners, zu einem Produkt der aristokratischen Gesellschaft wurde? Herrn Barth widersprechen hieße sich wiederholen. Was soll man aber über Herrn Karejew sagen, der Barth Beifall spendet? Ach, Herr W. W., Ihr „Geschichtsprofessor“ ist bei Gott nicht viel wert! Wir raten Ihnen ganz uneigennützig: Suchen Sie sich einen neuen „Professor“.

11. Mit dieser Formel wurden im alten Russland (vor Katharina II.) Verbrechen öffentlich angezeigt.

q. Denken Sie nicht, dass wir den ehrwürdigen Professor verleumden. Er zitiert mit großem Lob Barths Ansicht: „Das Recht führt also eine selbständige, eigene, wenn auch nicht unabhängige Existenz ...“ Gerade diese „Selbständigkeit, wenn auch nicht Unabhängigkeit“ hindert Herrn Karejew, „das Wesen des historischen Prozesses“ zu erkennen. Wieso sie ihn hindert, dazu folgen gleich im Text einige Punkte.

r. Im Wesen ist das der gleiche psychologische Prozess, den jetzt das europäische Proletariat durchlebt: Seine Psychologie passt sich schon neuen, künftigen Produktionsverhältnissen an.

s. „Quand’essa cominciava appena a nascere nel diciasettesimo secolo, alcune nazioni avevano già da più secoli florito colla loro sola esperienza, da cui poscia la scienza ricavò i suoi dettami.“ [Zu dem Zeitpunkt, da sie im siebzehnten Jahrhundert erst zu entstehen begann, florierten einige Nationen bereits mehrere Jahrhunderte lang, wobei sie sich nur auf ihre praktische Erfahrung stützten, die dann von der Wissenschaft für ihre Thesen benutzt wurde.] (Storia della Economia publica in Italia etc., Lugano 1829, p. 11.)

J. St. Mill wiederholt:

„In every department of human affairs Practice long precedes Science ... The conception, accordingly, of Political Economy as a branch of science, is extremely modern; but the subject with which its enquiries are conversant has in all ages necessarily constituted one of the chief practical interests of mankind.“ [Auf jedem Gebiet der menschlichen Angelegenheiten geht die Praxis der Wissenschaft weit voraus ... Dementsprechend ist die Auffassung der politischen Ökonomie als eines Zweiges der Wissenschaft überaus modern; aber der Gegenstand, mit dem sich ihre Untersuchungen befassen, hat notwendigerweise zu allen Zeiten zu den wichtigsten praktischen Interessen der Menschheit gehört.] (Principles of Political Economy, London 1843, t. I, p. 1.)

t. Rechtsstaat und Sozialismus, Innsbruck 1881, S. 123–125.

12. der Mensch nichts als Empfindungsfähigkeit ist.

13. schöne Sklavinnen.

u. Das hinderte sie jedoch nicht, zuweilen vor den Mächtigen zu zittern. So sagte zum Beispiel Kant über sich selbst: „Niemand wird mich zwingen können, das Gegenteil von dem zu sagen, was ich denke, doch werde ich nicht wagen, alles zu sagen, was ich denke.“

14. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. [xx]

v. [Ebenda, S. 252/253.] Lamarck beweist, dass die Lebensbedingungen (les circonstances) auf die Organisation der Tiere einwirken, und macht dazu eine Bemerkung, an die sich – um Missverständnisse zu vermeiden – zu erinnern nützlich ist: „Wer nicht über den Buchstabensinn meiner Worte hinausgeht“, sagt er, „wird mir eine falsche Ansicht zuschreiben. Denn welcher Art auch die Lebensbedingungen sein mögen, sie rufen keine unmittelbaren Veränderungen in der Form und Organisation der Tiere hervor.“ Dank bedeutender Veränderungen in den Lebensbedingungen entstehen bei den Tieren neue, von den alten sich unterscheidende Bedürfnisse. Wenn diese Bedürfnisse sehr lange bestehen, führen sie zum Aufkommen neuer Gewohnheiten. „Wenn aber neue Lebensbedingungen ... das Entstehen neuer Gewohnheiten bei den Tieren verursacht, das heißt, sie zu neuen Handlungen veranlasst haben, die üblich geworden sind, entsteht im Ergebnis eine bevorzugte Übung einiger Organe und manchmal eine völlig mangelnde Übung anderer, nutzlos gewordener Organe.“ Die verstärkte Übung oder ihr Fehlen bleibt nicht ohne Einfluss auf die Struktur der Organe und folglich auf den ganzen Organismus (Lamarck, «Philosophie zoologique» etc., nouvelle édition par Charles Martin, 1873, v. I, p. 223/224). – Genauso muss auch der Einfluss ökonomischer und anderer sich daraus ergebender Bedürfnisse auf die Psychologie eines Volkes verstanden werden. Hier vollzieht sich ein langsamer Anpassungsprozess durch Übung und Nichtübung; unsere Gegner des „ökonomischen Materialismus“ bilden sich jedoch ein, nach Marx’ Ansicht legten sich die Menschen beim Aufkommen neuer Bedürfnisse sogleich und absichtlich neue Ansichten zu. Verständlicherweise erscheint ihnen das als Unsinn. Aber diesen Unsinn haben sie selbst ausgedacht; bei Marx findet sich etwas Derartiges nicht. Die Einwände dieser Denker erinnern uns ganz allgemein an folgende triumphierende Argumentation eines Geistlichen gegen Darwin: „Darwin sagt: ‚Werft ein Huhn ins Wasser, und es werden ihm Schwimmhäute wachsen!‘ – Ich behaupte aber, das Huhn wird einfach ertrinken.“

15. Staatsstreich.

w. Deutsch-Französische Jahrbücher, Paris 1844, Artikel Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, S. 82. [yy]<

x. «Philosophie de l’art», Paris 1872, p. 13–17 [Hippolyte Taine, Philosophie der Kunst, Erster Band, Leipzig 1902, S. 10–13].

y. «Philosophie de l’art dans les Pays-Bas», Paris 1869, p. 96.

z. «Nous subissons l’influence du milieu politique ou historique, nous subissons l’influence du milieu social, nous subissons aussi l’influence du milieu physique. Mais il ne faut pas oublier que si nous la subissons, nous pouvons pourtant aussi lui resister et vous savez sans doute qu’il y en a de mémorables exemples ... Si nous subissons l’influence du milieu, un pouvoir que nous avons aussi, c’est de ne pas nous laisser faire, ou pour dire encore quelque chose de plus, c’est de conformer, c’est d’adapter le milieu lui-même à nos propres convenances.» [Wir sind dem Einfluss des politischen oder historischen Milieus unterworfen, wir sind dem Einfluss des sozialen Milieus unterworfen, wir sind auch dem Einfluss des physischen Milieus unterworfen. Man darf aber nicht vergessen, dass wir ihm zwar unterworfen, ihm aber auch Widerstand zu leisten fähig sind, und Sie wissen zweifellos, dass es dafür denkwürdige Beispiele gibt ... Wenn wir dem Einfluss des Milieus unterworfen sind, haben wir auch die Fähigkeit, das nicht geschehen zu lassen oder, um noch etwas mehr zu sagen, das Milieu selber zu formen, es unseren Bedürfnissen anzupassen.] (F. Brunetière, «L’évolution de la critique depuis la renaissance jusqu’à nos jours», Paris 1890, p. 260/261.)

ä. [Karl Marx], Zur Kritik der politischen Ökonomie, Anmerkung S. 1. [zz]

16. Höfling.

17. Siehe G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1949, S. 554.

ö. Loc. cit., p. 262/265.

18. Saint-Simon.

19. Einsichten; Kenntnisse (auch: Aufklärung).

20. dritten Standes (des Bürgertums).

21. auf der ganzen Front.

ü. In Deutschland verlief der Kampf der literarischen Ansichten bekanntlich viel heftiger, aber hier wurde die Aufmerksamkeit der Neuerer auch nicht durch den politischen Kampf abgelenkt.

α. Man könnte meinen, die Geschichte einer Kunst wie, nehmen wir an, der Architektur habe keine Beziehung zum Klassenkampf, und doch ist auch sie mit diesem Kampf eng verknüpft. Siehe Ed. Corruaille, «L’architecture gothique», insbesondere den vierten Teil «L’architecture civile».

β. «II introduit dans le monde des idées et des sentiments, des types nouveaux» [Es führt Ideen und Gefühle von neuem Typus in die Welt ein]. («L’art au point de vue sociologique», Paris 1889, p. 51.)

γ. Übrigens besteht hier der zwiefache Charakter der Beeinflussung nur formal. Jeder Wissensvorrat ist gerade gesammelt worden, weil die gesellschaftlichen Bedürfnisse die Menschen veranlassten, ihn zu sammeln, und ihre Aufmerksamkeit in die entsprechende Richtung lenkten.

δ. Bis zu welchem Grade aber die ästhetischen Neigungen und Urteile einer Klasse von ihrer ökonomischen Lage abhängen, wusste schon der Verfasser der Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit. Das Schöne, das ist das Leben, sagte er und erläuterte seinen Gedanken in den folgenden Ausführungen:

„Das ‚schöne Leben‘, ‚das Leben, wie es sein soll‘, besteht beim einfachen Volk darin, dass man sich satt essen, in einem schönen Haus wohnen und sich ausschlafen kann; aber gleichzeitig schließt der Begriff ‚Leben‘ beim Landbewohner stets auch den Begriff der Arbeit ein: ohne Arbeit kann man nicht leben; es wäre ja auch langweilig. Die Folge eines Lebens unter auskömmlichen Verhältnissen bei großer Arbeit, die jedoch nicht bis zur Erschöpfung geht, werden bei dem jungen Landmann oder dem Dorfmädchen eine frische Gesichtsfarbe und knallrote Backen sein – dieses erste Schönheitsmerkmal nach den Begriffen des einfachen Volkes. Da das Dorfmädchen viel arbeitet und infolgedessen kräftig gebaut ist, wird es bei reichlicher Ernährung ziemlich drall sein – auch das ist ein notwendiges Merkmal der Dorfschönen: Die ‚ätherische‘ schöne Dame erscheint dem Landbewohner ‚unansehnlich‘, ja sie macht auf ihn einen unangenehmen Eindruck, denn er ist gewöhnt, ‚Magerkeit‘ für die Folge von Krankheit oder ‚bitterem Los‘ *zu halten. Aber Arbeit lässt kein Fett ansetzen: wenn das Dorfmädchen dick ist, so ist das eine Art von Kränklichkeit, das Anzeichen einer ‚zerdunsenen‘ Statur, und das Volk hält besondere Dicke für einen Mangel. Die Dorfschöne kann nicht kleine Händchen und Füßchen haben, weil sie viel arbeitet – dieses Zubehör der Schönheit wird in unseren Volksliedern nie erwähnt. Mit einem Wort: Bei der Beschreibung von schönen Mädchen finden wir in unseren Volksliedern nicht ein einziges Schönheitsmerkmal, welches nicht der Ausdruck der blühenden Gesundheit und des Gleichgewichts der Kräfte im Organismus ist, die immer die Begleiterscheinung eines auskömmlichen Lebens bei ständiger, ernster, aber nicht übermäßiger Arbeit sind. Ganz anders steht es mit der schönen Dame: Schon mehrere Generationen ihrer Vorfahren haben nicht von ihrer eignen Hände Arbeit gelebt; bei untätigem Leben fließt weniger Blut in die Glieder, mit jeder Generation werden die Muskeln an Händen und Füssen schlaffer und die Knochen feiner; die notwendige Folge hiervon sind kleine Händchen und Füßchen – sie sind das Kennzeichen eines Lebens, das den höheren Gesellschaftsklassen allein als Leben erscheint: des Lebens ohne physische Arbeit; wenn die Dame große Hände und Füße hat, so ist das ein Anzeichen entweder dafür, dass sie schlecht gebaut ist, oder dafür, dass sie nicht aus einer alten, guten Familie stammt ... Gewiss kann die Gesundheit in den Augen des Menschen niemals ihren Wert verlieren, denn ohne Gesundheit sind auch Wohlleben und Luxus schlecht zu ertragen; infolgedessen bleiben rote Backen und blühende, gesunde Frische auch für die gute Gesellschaft anziehende Eigenschaften; aber krankhaftes Aussehen, Schwäche, Mattheit haben in ihren Augen auch einen Schönheitswert, nämlich sobald sie als die Folge eines untätigen Luxuslebens erscheinen. Blässe, angegriffenes, kränkliches Aussehen haben für die höhere Gesellschaft noch eine andere Bedeutung: Wenn der Landbewohner Erholung und Ruhe sucht, so suchen die Menschen der gebildeten Stände, die materielle Not und physische Müdigkeit nicht kennen, die sich aber dafür aus Untätigkeit und aus Mangel an materiellen Sorgen oft langweilen, ‚stärkere Erregungen, Sensationen, Leidenschaften‘, die dem sonst monotonen und farblosen Leben der höheren Gesellschaft Farbe und Mannigfaltigkeit geben und es anziehend machen. Aber in starken Erregungen und feurigen Leidenschaften verbraucht sich der Mensch schneller: wie sollte man das angegriffene Aussehen, die Blässe einer schönen Frau nicht reizend finden, wenn sie das Anzeichen dafür sind, dass sie eine ‚Frau mit Vergangenheit‘ ist?“ (Siehe den Sammelband Ästhetik und Dichtung, S. 6–8 [N. G. Tschernyschewski, Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit; deutsch nach: Ausgewählte philosophische Schriften, S. 369–371].)

22. mit unseren lieben Freunden, den Feinden.

23. Tschernyschewski.

ε. Die Organisation der Arbeit der Menschheit und die Kunst der Geschichtsschreibung Schlossers, Gervinus’, Dahlmanns und Bruno Bauers von Szeliga, Charlottenburg 1846, S. 6.

24. Nachweis der Widersinnigkeit.

25. Die „Jauchzenden“ und die „große Sache der Liebe“ sind Worte aus dem Gedicht Ritter für eine Stunde von Nekrassow.

ζ. Die Helden der Masse. Charakteristiken, Herausgegeben von Theodor Opitz, Grünberg 1848, S. 6/7. Wir legen Herrn Michailowski sehr nahe, dieses Werk zu lesen. Er wird dort eine Menge seiner originalen Gedanken finden.

η. Übrigens, nein, nicht alle: Noch niemand ist es eingefallen, Marx durch den Hinweis zu widerlegen, dass „der Mensch aus Seele und Leib besteht“. Herr Karejew ist doppelt originell: 1. Niemand vor ihm hat so mit Marx gestritten, 2. wahrscheinlich wird auch niemand nach ihm so mit Marx streiten. Aus dieser Anmerkung mag Herr W. W. ersehen, dass auch wir seinem „Professor“ Tribut zollen können.

26. empfindungsfähige Materie.

27. Gestalten aus Verstand schafft Leiden von Gribojedow.

28. Gemeint ist George Henry Lewes’ Geschichte der Philosophie.

29. Vermutlich ist mit dem ersten Buch Die heilige Familie ... [AA] und mit dem dritten Buch Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. [BB] gemeint.

30. Bedeutet in übertragenem Sinne auch Schwätzer, Klatschmaul.

θ. „{Alle diese verschiedenen Zweige der Entwicklungsgeschichte, die jetzt noch teilweise weit auseinander liegen und die von den verschiedensten empirischen Erkenntnisquellen ausgegangen sind, werden von jetzt an mit dem steigenden Bewusstsein ihres einheitlichen Zusammenhanges sich höher entwickeln. Auf den verschiedensten empirischen Wegen wandelnd und mit den mannigfaltigsten Methoden arbeitend, werden sie doch alle auf ein und dasselbe Ziel hinstreben, auf das große Endziel einer universalen monistischen Entwicklungsgeschichte.}“ (E. Haeckel, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1875, S. 96.)

ι. «Русское Вогатство», [Russkoje Bogatstwo], Januar 1894, Abt. II, S. 105 bis 106.

κ. Interessant ist, dass Darwins Gegner noch lange behaupteten und auch jetzt zu behaupten noch nicht aufgehört haben, dass es seiner Theorie gerade an einem „Montblanc“ tatsächlicher Beweise mangele. In diesem Sinne äußerte sich bekanntlich Virchow auf einer Tagung deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1877 in München. In seiner Erwiderung sagte Haeckel ganz richtig, wenn Darwins Theorie durch die jetzt bekannten Tatsachen nicht bewiesen sei, so gebe es keine neuen Tatsachen, die irgend etwas zu ihren Gunsten aussagen könnten.

λ. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Januar 1894, Abt. II, S. 115/116.

μ. Siehe sein Buch Du droit de propriété à Sparte. Die unter anderem darin enthaltene Ansicht über die Geschichte des primitiven Eigentums ist für uns hier bedeutungslos.

ν. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Januar 1894, Abt. II, S. 117.

31. Vorrevolutionäre russische Scherzrede bei einer besonders peinlichen Situation.

ξ. Was aber die Benutzung der Biologie zur Lösung gesellschaftlicher Fragen betrifft, so gehen die „neuen Worte“ des Herrn Michailowski, wie wir gesehen haben, ihrem „Typ“ nach, auf die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zurück. Die „neuen Worte“ des Herrn Michailowski sind wahrlich ehrwürdige Greise! In ihnen „wiederholt der russische Geist und die russische Seele“ wirklich „das Alte und lügt für zwei“!

ο. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Januar 1894, Abt. II, S. 108.

π. Ebenda, S. 113/114.

32. von Amts wegen.

33. „Armutszeugnis“.

34. Anspielung auf eine Krylowsche Fabel.

35. die Vernunft schließlich immer recht behält.

36. Siehe die Fußnote der sowjetischen Redaktion oben.

ρ. Montesquieu sagte: Wenn das geographische Milieu gegeben ist, so sind auch die Eigenschaften des Gesellschaftsverbandes gegeben. In dem einen geographischen Milieu kann es nur Despotismus geben, in dem anderen nur kleine unabhängige republikanische Gesellschaften usw. Nein, entgegnete Voltaire: In dem gleichen geographischen Milieu erscheinen im Laufe der Zeit verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse, folglich übt das geographische Milieu keinen Einfluss auf das historische Geschick der Menschheit aus; es kommt nur auf die Ansichten der Menschen an. – Montesquieu sah nur die eine Seite der Antinomie, Voltaire und seine Anhänger nur die andere. Gewöhnlich wurde diese Antinomie nur durch die Wechselwirkung gelöst. Der dialektische Materialismus anerkennt, wie wir sehen, die Existenz der Wechselwirkung, erklärt sie jedoch mit dem Hinweis auf die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Antinomie, die die Aufklärer bestenfalls unterschlagen haben, löst sich sehr einfach: Die dialektische Vernunft erweist sich auch hier als unendlich stärker denn der gesunde Sinn („Menschenverstand“) der Aufklärer.

ς. Nach alledem wird hoffentlich auch das Verhältnis der Marxschen Lehre zur Darwinschen klar. Darwin gelang es, die Frage zu lösen, wie die Pflanzen- und Tierarten im Existenzkampf entstehen. Marx gelang es, die Frage zu lösen, wie die verschiedenen Arten gesellschaftlicher Organisation im Kampf der Menschen um ihre Existenz entstehen. Logischerweise beginnt Marx’ Untersuchung gerade dort, wo Darwins Untersuchung endet. Tiere und Pflanzen stehen unter dem Einfluss des physischen Milieus. Auf den Gesellschaftsmenschen wirkt die physische Umwelt mittelbar über jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf der Grundlage der sich ursprünglich mehr oder weniger rasch – je nach den Eigenschaften des physischen Milieus – entwickelnden Produktivkräfte entstanden sind. Darwin erklärt die Entstehung der Arten nicht aus der dem tierischen Organismus angeblich angeborenen Entwicklungstendenz, wie es noch Lamarck tat, sondern aus der Anpassung des Organismus an äußere Verhältnisse; nicht aus der Natur des Organismus, sondern aus dem Einfluss der äußeren Natur. Marx erklärt die historische Entwicklung der Menschheit nicht aus der Natur des Menschen, sondern aus den Eigenschaften jener gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen, die bei der Einwirkung des Gesellschaftsmenschen auf die äußere Natur entstehen. Der Geist der Forschung ist bei beiden Denkern völlig gleich. Darum kann man auch sagen, dass der Marxismus der auf die Gesellschaftswissenschaft angewandte Darwinismus ist (wir wissen, dass das chronologisch nicht stimmt, aber das ist unwichtig). Und das ist seine einzige wissenschaftliche Anwendung; denn jene Schlüsse, die einige bürgerliche Schriftsteller aus dem Darwinismus zogen, waren nicht seine wissenschaftliche Anwendung auf das Studium der Entwicklung des vergesellschafteten Menschen, sondern einfach eine bürgerliche Utopie, eine Moralpredigt sehr unschönen Inhalts, in der Art, wie sich die Herren Subjektivisten mit Predigten schönen Inhalts befassen. Die bürgerlichen Schriftsteller, die sich auf Darwin beriefen, empfahlen ihren Lesern in Wirklichkeit nicht Darwins wissenschaftliche Methoden, sondern nur die bestialischen Instinkte jener Tiere, von denen bei Darwin die Rede ist. Marx stimmt mit Darwin überein, die bürgerlichen Schriftsteller stimmen mit den Bestien überein und dem Viehzeug, das Darwin untersuchte.

37. Wir können soviel, wie wir wissen.

38. Gestalt aus Verstand schafft Leiden von Gribojedow.

τ. Wir gebrauchen den Terminus „dialektischer Materialismus“, weil er allein imstande ist, Marx’ Philosophie richtig zu kennzeichnen. Holbach und Helvétius waren metaphysische Materialisten. Sie kämpften gegen den metaphysischen Idealismus. Ihr Materialismus trat seinen Platz dem dialektischen Idealismus ab, der seinerseits vom dialektischen Materialismus geschlagen wurde. Der Ausdruck „ökonomischer Materialismus“ ist äußerst unglücklich gewählt. Marx bezeichnete sich niemals als ökonomischen Materialisten.

υ. „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (Marx.) [CC]

φ. „Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird ... der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist.“ Marx, Die heilige Familie, p. 120. [DD)

χ. Н. Зивер [N. Sieber], «несколько замечаний по поводу статьи г. Ю. Жуковского, Карл Маркс и его книга о капитале» («Отеч. Зап.» [Otjetschestwennyje Sapiski], November 1877, S. 6).

ψ. Сочинения Н. К. Михайловского [Werke N. K. Michailowskis], Bd. II, S. 556.

ω. Marx legt darin seine materialistische Geschichtsauffassung dar.

A. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], S. 353/354

B. Ebenda, S. 357.

Γ. Ebenda, S. 557/358.

39. Alles in allem.

Δ. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Februar 1894, Abt. II, S. 150 bis 151.

Ε. Ebenda, S. 166.

Z. «Очерки гоголевского периода русской литературй» [N. G. Tschernyschewski, Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur], S. 24/25.


Zuletzt aktualiziert am 20. Mai 2025