G. W. Plechanow

Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung

* * *

Schluss

Bis jetzt haben wir bei der Darstellung der Marxschen Ideen vor allem jene Einwände berücksichtigt, die vom theoretischen Standpunkt aus vorgebracht wurden. Jetzt wird es uns nützlich sein, auch die „praktische Vernunft“ mindestens eines Teils seiner Gegner kennenzulernen. Dabei werden wir die vergleichende historische Methode anwenden. Mit anderen Worten, wir werden zuerst betrachten, wie Marx’ Ideen von der „praktischen Vernunft“ der deutschen Utopisten aufgenommen wurden, und uns erst dann der Vernunft unserer teuren und geehrten Landsleute zuwenden.

Ende der vierziger Jahre führten Marx und Engels eine interessante Polemik mit dem bekannten Karl Heinzen. Diese Polemik nahm gleich sehr hitzige Formen an. Karl Heinzen bemühte sich, die Ideen seiner Gegner ins Lächerliche zu ziehen, und offenbarte dabei eine Geschicklichkeit, die der des Herrn Michailowski in keiner Weise nachsteht. Marx und Engels blieben ihm natürlich nichts schuldig. Es ging nicht ohne Schärfe ab. Heinzen nannte Engels einen „leichtfertigen, frechen Burschen“; Marx nannte Heinzen einen Vertreter der {grobianischen Literatur} [1], und Engels erklärte ihn zu einem der „unwissendsten Menschen dieses Jahrhunderts“ [2]. Worum ging der Streit? Welche Ansichten schrieb Heinzen Marx und Engels zu? Folgende: Heinzen behauptete, dass von Marx’ Standpunkt aus ein von edlen Absichten auch nur im geringsten erfüllter Mensch im damaligen Deutschland nichts zu tun habe. Nach Marx, sagte Heinzen, „muss zunächst die Bourgeoisie herrschen und muss das Fabrikproletariat fabrizieren“, welches seinerseits zu handeln beginnen werde. [A]

Marx und Engels „berücksichtigten nicht jenes Proletariat, das durch die vierunddreißig deutschen Vampire geschaffen worden ist“, das heißt, anders ausgedrückt, das gesamte deutsche Volk mit Ausnahme der Fabrikarbeiter (das Wort „Proletariat“ bezeichnet bei Heinzen nur die Notlage dieses Volkes). Dieses zahlreiche Proletariat habe nach Marx’ Ansicht angeblich kein Recht, eine bessere Zukunft zu fordern, weil es „nur das Zeichen der Unterdrückung und nicht einen Fabrikstempel trägt; es muss geduldig hungern und verhungern, bis sich Deutschland in ein England verwandelt. Die Fabrik ist eine Schule, die das Volk erst durchmachen muss, um das Recht zu erwerben, sich um die Besserung seiner Lage zu bemühen.“ [B]

Jeder, der die Geschichte Deutschlands auch nur ein wenig kennt, weiß jetzt, wie unsinnig Heinzens Anschuldigungen waren. Jeder weiß, ob Marx und Engels vor der Notlage des deutschen Volkes die Augen verschlossen. Jeder sieht, ob es berechtigt war, ihnen den Gedanken zuzuschreiben, dass es in Deutschland für einen edel gesinnten Menschen nichts zu tun gebe, solange es nicht zu einem England geworden sei; diese Männer haben doch offenbar einiges getan und nicht bloß auf die Verwandlung ihres Vaterlandes gewartet. Warum schrieb Heinzen ihnen aber diesen ganzen Unsinn zu? Wirklich nur aus Gewissenlosigkeit? Nein, wir sagen hier wieder: Es war nicht seine Schuld, es war eher sein Unglück. Er hatte die Ansichten von Marx und Engels einfach nicht begriffen, und deshalb schienen sie ihm schädlich zu sein; da er sein Land heiß liebte, trat er diesen dem Lande angeblich schädlichen Ansichten entgegen. Unverständnis ist aber ein schlechter Ratgeber und unzuverlässiger Helfer im Streite. Darum geriet Heinzen auch in eine ausnehmend peinliche Lage. Er war ein sehr geistreicher Mensch, jedoch ohne Verständnis; allein mit der Fähigkeit aber, geistreich zu sein, kommt man nicht weit, und jetzt hat er «les rieurs» [3] nicht auf seiner Seite.

Heinzen muss, wie der Leser sieht, mit den gleichen Augen betrachtet werden, wie man bei uns – aus Anlass eines völlig analogen Streits – zum Beispiel Herrn Michailowski betrachten müsste. Ob aber Herrn Michailowski nur allein? Wiederholen doch alle, die den „Jüngern“ das Bestreben zuschreiben, in den Dienst der Kolupajews und Rasuwajews zu treten – und ihr Name ist Legion –, nur Heinzens Fehler; hat doch keiner von ihnen auch nur ein einziges Argument gegen die „ökonomischen“ Materialisten erfunden, das nicht schon vor fast fünfzig Jahren in Heinzens Ausführungen enthalten gewesen wäre. Wenn sie etwas Originelles besitzen, so nur eins: eine naive Unkenntnis dessen, wie wenig originell sie sind. Sie wollen stets „neue Wege“ für Russland suchen, aber infolge ihrer Unwissenheit gelangt „das arme russische Denken“ nur in die alten, wegen ihrer Schlaglöcher längst verlassenen Wege des europäischen Denkens. Das ist sonderbar, aber durchaus verständlich, wenn man zur Erklärung dieser anscheinend eigenartigen Erscheinung die „Kategorie der Notwendigkeit“ benutzt. Auf einer gewissen Stufe der ökonomischen Entwicklung eines Landes entstehen in den Köpfen seiner Intelligenz „notwendig“ bestimmte Dummheiten.

Wie lächerlich Heinzens Lage in seinem Streit mit Marx war, zeigt folgendes Beispiel. Er belästigte seine Gegner mit der Forderung, sie sollten ihr „Ideal“ der Zukunft eingehend beschreiben: Sagt nun, fragte er sie, wie stellt ihr euch die künftigen Eigentumsverhältnisse vor? Wo sollen die Grenzen des Privateigentums einerseits, des gesellschaftlichen anderseits liegen? Sie antworteten ihm, die Eigentumsverhältnisse der Gesellschaft würden in jedem Augenblick von dem Stand ihrer Produktivkräfte bestimmt, und darum könne man nur die allgemeine Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung angeben, nicht aber im Voraus irgendwelche genau bestimmten Gesetzentwürfe ausarbeiten. Schon jetzt könne man sagen, dass die von der modernsten Industrie hervorgebrachte Vergesellschaftung der Arbeit zur Nationalisierung der Produktionsmittel führen müsse. Man könne aber nicht sagen, in welchen Grenzen diese Nationalisierung etwa in zehn Jahren verwirklicht werden könne; das hänge davon ab, in welcher Wechselbeziehung die Groß- und die Kleinindustrie, der Großgrundbesitz und der bäuerliche Grundbesitz usw. zueinander stünden. [4] – Also habt ihr kein Ideal, schloss Heinzen; ein schönes Ideal, das erst in Zukunft von Maschinen fabriziert werden soll.

Heinzen stand auf utopischem Standpunkt. Der Utopist geht, wie wir wissen, bei der Konstruktion seines „Ideals“ immer von irgendeinem abstrakten Begriff aus, zum Beispiel dem Begriff der menschlichen Natur – oder von irgendeinem abstrakten Prinzip, zum Beispiel dem Prinzip bestimmter Persönlichkeitsrechte, dem Prinzip der „Individualität“ usf. usf. Ist ein solches Prinzip gegeben, so kann man von ihm her ganz leicht mit völliger Exaktheit und bis in alle Einzelheiten bestimmen, welcher Art meinetwegen die Eigentumsverhältnisse der Menschen sein müssen (ohne dabei natürlich zu wissen, wann und unter welchen Umständen). Und es ist verständlich, warum der Utopist alle so anstaunt, die ihm sagen, dass es Eigentumsverhältnisse nicht geben könne, die an und für sich, ohne Beziehung zu den Orts- und Zeitverhältnissen gut sind. Ihm scheint es, dass solche Menschen überhaupt keine „Ideale“ haben. Wenn der Leser unseren Ausführungen gegenüber nicht ganz unaufmerksam gewesen ist, wird er wissen, dass der Utopist in diesem Falle sehr unrecht hat. Marx und Engels hatten ein Ideal, und zwar ein sehr bestimmtes Ideal: die Unterordnung der Notwendigkeit unter die Freiheit, der blinden ökonomischen Kräfte unter die Kraft der menschlichen Vernunft. Von diesem Ideal her bestimmten sie ihre praktische Tätigkeit, die natürlich nicht der Bourgeoisie, sondern der Entwicklung des Selbstbewusstseins jener Produzenten diente, die mit der Zeit zu Herren ihrer Produkte werden müssen.

Marx und Engels brauchten sich nicht um eine Umwandlung Deutschlands in ein England oder, wie man jetzt bei uns sagt, um Dienstleistungen für die Bourgeoisie „zu bemühen“; die Bourgeoisie entwickelte sich auch ohne ihre Bemühungen, und es war unmöglich, diese Entwicklung aufzuhalten, das heißt, es gab keine gesellschaftlichen Kräfte, die dazu fähig gewesen wären. Ja, es wäre sogar überflüssig gewesen, weil die alte ökonomische Ordnung letzten Endes nicht besser als die bürgerliche gewesen und in den vierziger Jahren so weit veraltet war, dass sie für alle schädlich wurde. Die Unmöglichkeit, die Entwicklung der kapitalistischen Produktion aufzuhalten, nahm jedoch den denkenden Menschen in Deutschland noch nicht die Möglichkeit, dem Wohle ihres Volkes zu dienen. Die Bourgeoisie hat ihre unvermeidlichen Trabanten: jedermann, der aus ökonomischer Notwendigkeit ihrem Geldbeutel dient. Je entwickelter das Bewusstsein dieser unfreiwilligen Diener, desto leichter ihre Lage, desto stärker ihr Widerstand gegen die Kolupajews und Rasuwajews aller Länder und Völker. Marx und Engels stellten sich auch die Aufgabe, dieses Selbstbewusstsein zu entwickeln; im Sinne des dialektischen Materialismus stellten sie sich von Anbeginn eine vollständig und ausschließlich idealistische Aufgabe.

Als Kriterium des Ideals dient die ökonomische Wirklichkeit. So sagten Marx und Engels, und aus diesem Grunde wurden sie einer gewissen ökonomischen Speichelleckerei verdächtigt, einer Bereitschaft, den ökonomisch Schwachen in den Schmutz zu treten und sich beim ökonomisch Starken anzubiedern. Die Ursache dieser Verdächtigungen war die metaphysische Auffassung dessen, was Marx und Engels unter ökonomischer Wirklichkeit verstanden. Wenn der Metaphysiker hört, der gesellschaftlich Tätige solle sich auf die Wirklichkeit stützen, so denkt er, dass man ihm empfehle, sich mit ihr auszusöhnen. Er weiß nicht, dass es in jeder ökonomischen Wirklichkeit gegensätzliche Elemente gibt, und glaubt, sich mit der Wirklichkeit versöhnen heiße, sich mit nur einem dieser Elemente zu versöhnen, nämlich mit dem gegenwärtig herrschenden. Die materialistischen Dialektiker wiesen und weisen auf das andere, dem ersten feindliche Element der Wirklichkeit hin, auf jenes Element, in dem die Zukunft reift. Wir fragen: Sich auf dieses Element stützen, dieses Element zum Kriterium seiner „Ideale“ machen – heißt das etwa, sich bei den Kolupajews und Rasuwajews anzubiedern?

Wenn aber die ökonomische Wirklichkeit das Kriterium des Ideals sein soll, dann wird es begreiflich, dass das moralische Kriterium des Ideals nicht darum unzulänglich ist, weil die moralischen Gefühle der Menschen Geringschätzung oder Verachtung verdienten, sondern weil uns diese Gefühle noch nicht den richtigen Weg weisen, den Interessen unserer Nächsten zu dienen. Ein Arzt darf seinen Kranken nicht nur bemitleiden; er muss die physische Wirklichkeit des Organismus in Betracht ziehen, sich im Kampf gegen sie auf sie selbst stützen. Sollte es einem Arzt einfallen, sich mit einer moralischen Entrüstung über die Krankheit zu begnügen, so würde er Hohn und Spott verdienen. In diesem Sinne verspottete Marx auch die „moralisierende Kritik“ und die „kritisierende Moral“ seiner Gegner. Diese Gegner glaubten aber, er spotte über die „Moral“. „Die menschliche Moral und der Wille haben keinen Wert in den Augen von Menschen, die selbst weder Moral noch Willen haben“, rief Heinzen aus. [C]

Hier muss man denn doch bemerken, dass unsere russischen Gegner der „ökonomischen“ Materialisten zwar im allgemeinen – sans le savoir [5] – nur die Argumente ihrer deutschen Vorgänger wiederholen, ihre Ausführungen aber durch einige Besonderheiten etwas variieren. So haben sich zum Beispiel die deutschen Utopisten keinen langen Überlegungen über „das Gesetz der ökonomischen Entwicklung“ Deutschlands hingegeben. Bei uns jedoch haben derartige Überlegungen wahrlich erschreckende Ausmaße angenommen. Der Leser wird sich erinnern, dass Herr W. W. schon anfangs der achtziger Jahre versprochen hatte, das Gesetz der ökonomischen Entwicklung Russlands zu entdecken. Zwar hat sich Herr W. W. später vor diesem Gesetz zu fürchten begonnen, aber dabei selber angedeutet, dass er es nur zeitweilig fürchte, nur so lange, bis die russische Intelligenz ein sehr gutes und sehr nettes Gesetz entdeckt haben werde. Überhaupt beteiligt sich auch Herr W. W. gern an endlosen Diskussionen darüber, ob Russland die Phase des Kapitalismus durchlaufen müsse oder nicht. Schon in den siebziger Jahren wurde auch Marx’ Lehre in diese Diskussionen einbezogen.

Wie solche Diskussionen bei uns geführt werden, zeigt das allerneueste Wort des Herrn S. Kriwenko. In seiner Erwiderung an Herrn P. Struve empfiehlt dieser Autor seinem Gegner, sich in die Frage „der Unvermeidlichkeit und der guten Folgen des Kapitalismus“ gründlich hineinzudenken.

„Wenn das kapitalistische Regime ein schicksalhaftes, unvermeidliches Entwicklungsstadium ist, das jede menschliche Gesellschaft durchlaufen muss, wenn man vor dieser geschichtlichen Notwendigkeit nur noch den Kopf zu beugen braucht – darf man dann zu Maßnahmen greifen, die das Aufkommen der kapitalistischen Ordnung nur verzögern können, oder müsste man nicht, im Gegenteil, den Übergang zum Kapitalismus erleichtern, alle Kräfte für seine schnellste Entstehung einsetzen, das heißt sich um die Entwicklung der kapitalistischen Industrie und um die Kapitalisierung des Gewerbes, um die Entwicklung des Kulakentums ..., um die Zerstörung der Dorfgemeinschaft, um die Vernichtung der Bodenständigkeit der Bevölkerung und überhaupt um die Vertreibung jedes überzähligen Bauern aus dem Dorf in die Fabrik bemühen?“ [D]

Herr S. Kriwenko stellt hier eigentlich zwei Fragen: 1. Ist der Kapitalismus ein schicksalhaftes, unvermeidliches Stadium? 2. falls ja, welche praktischen Aufgaben ergeben sich daraus? Bleiben wir bei der ersten.

Herr S. Kriwenko formuliert sie in dem Sinne richtig, als sie sich der weitaus größte Teil unserer Intelligenz ganz genauso gestellt hat: Ist der Kapitalismus ein schicksalhaftes, unvermeidliches Stadium, das jede menschliche Gesellschaft durchlaufen muss? Zeitweilig glaubte man, Marx beantworte diese Frage im positiven Sinne, und nahm sich das sehr zu Herzen. Als aber der bekannte Marxsche Brief, angeblich an Herrn Michailowski [E], veröffentlicht wurde, sah man staunend, dass Marx das „Obligatorische“ dieses Stadiums nicht anerkannte, und da entschied man schadenfroh: Nun hat er aber seine russischen Jünger tüchtig beschämt! Die Schadenfrohen hatten aber das französische Sprichwort vergessen: Bien rira qui rira le dernier. [6]

Von Anfang bis Ende dieser Diskussion gaben sich die Gegner der „russischen Jünger“ von Marx nur „widernatürlichem, leerem Geschwätz“ hin.

Die Sache ist die, dass man bei den Überlegungen über die Anwendbarkeit der Marxschen Geschichtstheorie auf Russland eine Kleinigkeit außer acht gelassen hatte: Man hatte vergessen, sich darüber Klarheit zu verschaffen, worin diese Theorie besteht. So wurde jener Reinfall, den unsere Subjektivisten mit Herrn Michailowski an der Spitze infolgedessen erlebten, wahrlich grandios.

Herr Michailowski hatte das Vorwort zu dem Buche Zur Kritik, in dem Marx’ geschichtsphilosophische Theorie dargelegt ist, gelesen (wenn er es gelesen hat!) und entschied, das sei nichts als Hegelianertum. Ohne den Elefanten dort zu bemerken, wo der Elefant tatsächlich war, begann Herr Michailowski nach allen Seiten auszuschauen, und da schien es ihm, er habe den gesuchten Elefanten im Kapitel über die kapitalistische Akkumulation entdeckt, das die historische Bewegung des westlichen Kapitalismus, keineswegs aber die Geschichte der ganzen Menschheit behandelt.

Jeder Prozess ist unbedingt dort „obligatorisch“, wo er abläuft. So ist zum Beispiel das Brennen für ein Streichholz obligatorisch, wenn es einmal Feuer gefangen hat; das Streichholz erlischt „obligatorisch“, sobald der Verbrennungsprozess zu Ende ist. Im Kapital handelt es sich um den Ablauf der kapitalistischen Entwicklung, wie er für jene Länder, in denen diese Entwicklung vor sich geht, „obligatorisch“ ist. Herr Michailowski bildete sich ein, er habe in diesem Kapitel des Kapitals eine ganze Geschichtsphilosophie vor sich, und meinte nun, nach Marx’ Ansicht sei die kapitalistische Produktion für alle Länder und für alle Völker obligatorisch. [F] Daraufhin begann er, über die schwierige Lage jener russischen Menschen, die ... usf., zu flennen, und – der Spaßvogel! – nachdem er seinem subjektiven Bedürfnis nach Jammern Tribut gezollt hatte, sprach er zu Herrn Schukowski wichtigtuerisch: Sie sehen, auch wir verstehen Marx zu kritisieren, auch wir folgen nicht blind dem, was magister dixit! [7] Selbstverständlich brachte das alles die Frage des „Obligatorischen“ um keinen einzigen Schritt vorwärts; aber Marx fasste – nachdem er die Klage des Herrn Michailowski gelesen hatte – den Entschluss, ihm vielleicht doch zu helfen. Er entwarf in Form eines Briefes an die Redaktion der „Otjetschestwennyje Sapiski“ seine Bemerkungen zu Herrn Michailowskis Artikel. Als dieser Entwurf nach Marx’ Tode in unserer Presse erschien, war den russischen Menschen, die ... usf., zumindest die Möglichkeit gegeben, die Frage des „Obligatorischen“ richtig zu lösen.

Was konnte Marx über Herrn Michailowskis Artikel sagen? Der Mann hatte eben das Pech, für Marx’ geschichtsphilosophische Theorie zu halten, was dergleichen nicht war. Selbstverständlich musste Marx dem hoffnungsvollen jungen russischen Schriftsteller vor allem aus der Patsche helfen. Außerdem hatte der junge russische Schriftsteller geklagt, Marx verurteile Russland zum Kapitalismus. Dem jungen russischen Schriftsteller musste gezeigt werden, dass der dialektische Materialismus kein einziges Land zu irgend etwas verurteilt, dass er keine Wege weist, die für alle Völker und Zeiten allgemein und „obligatorisch“ sind; dass die Weiterentwicklung jeder Gesellschaft stets von dem wechselseitigen Verhältnis der ihr innewohnenden gesellschaftlichen Kräfte abhängt und dass darum jeder ernste Mensch, ohne zu raten und über irgend etwas phantastisch „Obligatorisches“ zu jammern, vor allem dieses Verhältnis erforschen muss; nur eine solche Untersuchung kann zeigen, was für eine bestimmte Gesellschaft „obligatorisch“ ist und was nicht.

Das alles hat Marx getan. Vor allem deckte er Herrn Michailowskis „Missverständnis“ auf:

„Das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation will nur den Weg schildern, auf dem im westlichen Europa die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus dem Schoß der feudalen Wirtschaftsordnung hervorgegangen ist. Es stellt also die geschichtliche Bewegung dar, die, indem sie die Produzenten von ihren Produktionsmitteln trennte, die ersteren in Lohnarbeiter (Proletarier im modernen Sinne des Wortes) und die Besitzer der letzteren in Kapitalisten verwandelte. In dieser Geschichte ‚:macht jede Revolution Epoche, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel des Fortschreitens dient ... Aber die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Bauern...‘ Am Schluss des Kapitels wird die geschichtliche Tendenz der Produktion auf folgendes zurückgeführt: ... dass das kapitalistische Eigentum ... sich nur in gesellschaftliches Eigentum verwandeln kann. An dieser Stelle liefere ich hierfür keinen Beweis, aus dem guten Grunde, dass diese Behauptung selbst nichts anderes ist als die summarische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die vorher in den Kapiteln über die kapitalistische Produktion gegeben worden sind.“ [a]

Zur besseren Klärung dessen, was Herr Michailowski für eine Geschichtstheorie hielt und was dergleichen weder war noch sein konnte, wies Marx auf das Beispiel des alten Roms hin. Ein sehr überzeugendes Beispiel! Tatsächlich, wenn alle Völker „obligatorisch“ den Kapitalismus durchmachen müssen, wie soll man da mit Rom, mit Sparta, wie soll man mit dem Staat der Inkas, wie soll man mit einer Menge anderer Völker verfahren, die von der Bühne der Geschichte abgetreten sind, ohne ihre vermeintliche Pflicht erfüllt zu haben? Marx war das Schicksal dieser Völker nicht unbekannt, folglich konnte er nicht über die Allgemeingültigkeit eines „obligatorischen“ kapitalistischen Prozesses sprechen.

„Er“ (mein Kritiker) „muss durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden ... Aber ich bitte ihn um Verzeihung. (Das heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun.)“

Nun also! Eine solche Auslegung hätte Marx in einen jener „Männer mit Formeln“ verwandelt, über die er sich schon in seiner Polemik wider Proudhon lustig machte. Herr Michailowski schrieb Marx „die Formel des Fortschritts“ zu, Marx aber erwiderte: Nein, danke bestens, das Zeug brauche ich nicht.

Wir sahen schon, welche Ansichten die Utopisten über die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung hatten (möge der Leser daran denken, was wir über Saint-Simon sagten). Die Gesetzmäßigkeit der historischen Bewegung nahm bei ihnen eine mystische Form an; der Weg, den die Menschheit beschreitet, war ihrer Vorstellung nach gewissermaßen vorgezeichnet, und keine historischen Ereignisse konnten die Richtung dieses Weges ändern. Eine interessante psychologische Verirrung! Die „menschliche Natur“ erscheint bei den Utopisten als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Die Entwicklungsgesetze dieser Natur aber, die bei ihnen sofort einen geheimnisvollen Charakter annehmen, werden irgendwohin, außerhalb des Menschen und außerhalb der tatsächlichen Verhältnisse der Menschen verlagert, in irgendein „supra-historisches“ Gebiet.

Der dialektische Materialismus überträgt die Frage auch hier auf völlig anderen Boden und verleiht ihr damit eine gänzlich neue Form.

Die materialistischen Dialektiker „führen alles auf die Ökonomie zurück“. Wir haben schon erklärt, wie das zu verstehen ist. Was ist aber Ökonomie? Das ist die Gesamtheit der tatsächlichen Wechselbeziehungen der eine bestimmte Gesellschaft bildenden Menschen in ihrem Produktionsprozess. Diese Beziehungen sind keine unbewegliche metaphysische Wesenheit. Sie verändern sich ewig unter dem Einfluss der sich entwickelnden Produktivkräfte, ebenso wie unter dem Einfluss jenes historischen Milieus, das die gegebene Gesellschaft umgibt. Sobald die tatsächlichen Beziehungen der Menschen im Produktionsprozess einmal gegeben sind, ergeben sich daraus auf schicksalhafte Art gewisse Folgen. In diesem Sinne ist die gesellschaftliche Bewegung gesetzmäßig, und niemand hat diese Gesetzmäßigkeit besser geklärt als Marx. Da aber die ökonomische Bewegung jeder Gesellschaft infolge der „eigenständigen“ Bedingungen, unter denen sie abläuft, einen „eigenständigen“ Charakter trägt, kann es keine „Formel des Fortschritts“ geben, die die Vergangenheit umfassen und die zukünftige ökonomische Entwicklung aller Gesellschaften voraussagen könnte. Die Formel des Fortschritts ist jene abstrakte Wahrheit, die, nach den Worten des Verfassers der „Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur“ [8], von den Metaphysikern so sehr geliebt wurde. Doch gibt es, wie er richtig bemerkte, keine abstrakte Wahrheit; die Wahrheit ist immer konkret: Alles hängt von den Zeit- und Ortsbedingungen ab; wenn aber alles von diesen Bedingungen abhängt, so müssen sie gerade von den Menschen erforscht werden, die ... usf.

„Um mit Sachkenntnis die ökonomische Entwicklung Russlands beurteilen zu können, habe ich Russisch gelernt und dann viele Jahre offizielle und andre Veröffentlichungen studiert, die sich auf diesen Gegenstand beziehen.“

Marx’ russische Jünger sind ihm auch in diesem Fall treu. Natürlich verfügen manche von ihnen über mehr, andere über weniger umfangreiche ökonomische Kenntnisse, aber hier kommt es nicht auf den Umfang der Kenntnisse einzelner Personen, sondern auf den Standpunkt selbst an. Marx’ russische Jünger lassen sich nicht von einem subjektiven Ideal und nicht von irgendeiner „Formel des Fortschritts“ leiten, sondern wenden sich der ökonomischen Wirklichkeit ihres Landes zu.

Zu welcher Schlussfolgerung hinsichtlich Russlands ist Marx nun gekommen? „Wenn Russland auf dem Wege weitergeht, den es seit 1861 beschreitet, wird es die schönste Gelegenheit verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk geboten hat, um dafür all den verhängnisvollen Wechselfällen des kapitalistischen Regimes ausgesetzt zu sein.“ Weiter unten fügt Marx hinzu, dass sich Russland in den letzten Jahren auf diesem Wege „viel Schaden in diesem Sinne zugefügt“ hat. Seitdem dieser Brief geschrieben wurde (das heißt seit 1877, fügen wir von uns aus hinzu), ist Russland diesen Weg immer weiter und immer rascher gegangen.

Was ergibt sich nun aus Marx’ Brief? – Drei Folgerungen:

    Er beschämte durch seinen Brief nicht seine russischen Jünger, sondern die Herren Subjektivisten, die, ohne einen Begriff von seinem wissenschaftlichen Standpunkt zu haben, versuchten, ihn nach ihrem Bilde umzuformen, ihn in einen Metaphysiker und Utopisten zu verwandeln.
     
    Die Herren Subjektivisten ließen sich durch diesen Brief aus dem einfachen Grunde nicht beschämen, weil sie – getreu ihrem „Ideal“ – auch den Brief nicht begriffen.
     
    Wenn die Herren Subjektivisten mit uns die Frage diskutieren wollen, wie und wohin Russland geht, so müssen sie in jedem Augenblick von einer Analyse der ökonomischen Wirklichkeit ausgehen.

Das Studium dieser Wirklichkeit führte Marx in den siebziger Jahren zu einer bedingten Folgerung:

„Wenn Russland danach strebt, eine kapitalistische Nation ... zu werden ..., wird es nicht dazu gelangen, ohne vorher einen großen Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben; und wenn es einmal im Schoss der kapitalistischen Ordnung angelangt ist, wird es den unerbittlichen Gesetzen unterworfen sein wie andere profane Völker. Das ist alles.“

Das ist alles! Aber der russische Mensch, der für das Wohl seiner Heimat arbeiten möchte, kann sich mit einer so bedingten Folgerung nicht begnügen; unwillkürlich wird ihm die Frage auftauchen: Wird Russland diesen Weg fortsetzen? Gibt es keine Anzeichen, die zu der Hoffnung berechtigen, Russland werde diesen Weg verlassen?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich wiederum der Untersuchung der tatsächlichen Lage des Landes, der Analyse seines gegenwärtigen inneren Lebens zuwenden. Marx’ russische Jünger behaupten auf Grund einer solchen Analyse: Ja, es wird ihn fortsetzen! Es liegen keine Anzeichen vor, die zu der Hoffnung berechtigten, Russland werde den Weg der kapitalistischen Entwicklung verlassen, den es nach 1861 betreten hat. Das ist alles!

Die Herren Subjektivisten vermuten, dass die „Jünger“ sich irren. Man muss es ihnen mit Hilfe von Angaben beweisen, die von der gleichen russischen Wirklichkeit geliefert werden. Die „Jünger“ sagen: Russland wird den Weg der kapitalistischen Entwicklung nicht deshalb fortsetzen, weil es irgendeine äußere Kraft, irgendein geheimnisvolles Gesetz gäbe, das es auf diesen Weg stieße, sondern deshalb, weil es keine tatsächliche innere Kraft gibt, die es von diesem Weg ablenken könnte. Wenn die Herren Subjektivisten glauben, dass es eine solche Kraft gebe, so mögen sie sagen, worin sie besteht, so mögen sie ihr Vorhandensein beweisen. Wir werden uns freuen, sie anzuhören. Bis jetzt aber haben wir darüber von ihnen noch nichts Bestimmtes gehört.

„Wie sollte es keine Kraft geben; wozu sind denn unsere Ideale da?“ rufen unsere lieben Gegner aus.

Aber meine Herren, meine Herren! Sie sind wirklich rührend naiv! Die ganze Frage ist doch die: Wie verwirklicht man Ideale, nehmen wir an die Ihrigen, auch wenn sie etwas völlig Ungereimtes sind? So gestellt, nimmt die Frage zwar einen höchst prosaischen Charakter an, solange sie aber ungelöst bleibt, haben Ihre „Ideale“ nur „idealen“ Wert.

Da hat man den wackeren Burschen in ein Felsengefängnis geführt, hinter Schloss und Riegel gesetzt und mit nimmermüden Wächtern umstellt. Der wackere Bursche belächelt das nur. Er nimmt ein vorsorglich bereitgehaltenes Kohlestückchen, malt einen Kahn an die Wand, steigt ein und ... ade! Gefängnis, ade! ihr nimmermüden Wächter, der wackere Bursche zieht wieder durch die weite Welt.

Ein schönes Märchen! Aber ... nur ein Märchen. In Wirklichkeit hat ein an die Wand gemalter Kahn noch niemals irgendwen irgendwohin getragen.

Bereits nach der Aufhebung der Leibeigenschaft beschritt Russland offensichtlich den Weg der kapitalistischen Entwicklung. Die Herren Subjektivisten sehen das selber ausgezeichnet ein, sie selber behaupten, dass sich die alten ökonomischen Verhältnisse bei uns mit erstaunlicher, stets wachsender Geschwindigkeit zersetzen. Das tut jedoch nichts, sagen sie zueinander, wir setzen Russland in den Kahn unserer Ideale, und es wird sich von diesem Weg abwenden und in die feinen Märchenländer gelangen.

Die Herren Subjektivisten sind gute Märchenerzähler, aber ... „das ist alles!“ Das ist alles – und es ist furchtbar wenig; noch niemals haben Märchen die historische Bewegung eines Volkes verändert, und. zwar aus dem gleichen Grunde nicht, aus dem man noch keine einzige Nachtigall mit Fabeln gesättigt hat. [9]

Bei den Herren Subjektivisten ist eine sonderbare Einteilung der „russischen Menschen, die...“ in zwei Kategorien üblich: jene, die an die Möglichkeit glauben, im Kahn des subjektiven Ideals zu entkommen, werden als gute Menschen, als wahre Volkswohltäter anerkannt. Den anderen aber, die sagen, dieser Glaube sei völlig unbegründet, wird irgendeine unnatürliche Böswilligkeit zugeschrieben, ein Bestreben, den russischen Bauern Hungers sterben zu lassen. In keinem Melodrama sind je derartige Bösewichte aufgetreten, wie es die konsequenten russischen „ökonomischen“ Materialisten nach Ansicht der Herren Subjektivisten sein müssten. Diese erstaunliche Meinung ist ebenso begründet wie die dem Leser bereits bekannte Meinung Heinzens, der Marx die Absicht zuschrieb, das deutsche Volk „hungern und verhungern“ zu lassen.

Herr Michailowski fragt sich, warum gerade jetzt Herren aufgetreten seien, die mit ruhigem Gewissen „Millionen von Menschen zum Hungertod und zum Elend verdammen“ können. Herr S. N. Kriwenko denkt, wenn der konsequente Mann beschlossen habe, dass in Russland der Kapitalismus unvermeidlich sei, bleibe ihm nur übrig, sich „um die Kapitalisierung des Gewerbes, um die Entwicklung des Kulakentums um die Zerstörung der Dorfgemeinschaft, um die Vernichtung der Bodenständigkeit der Bevölkerung und überhaupt um die Vertreibung jedes überzähligen Bauern aus dem Dorf“ zu bemühen. Herr S. N. Kriwenko denkt nur deshalb so, weil er selber keines „folgerichtigen Denkens“ fähig ist.

Heinzen erkannte Marx zumindest eine Vorliebe für Werktätige zu, die einen „Fabrikstempel“ tragen. Die Herren Subjektivisten erkennen anscheinend bei „Marx’ russischen Jüngern“ nicht einmal diese kleine Schwäche an: sie sollen angeblich ausnahmslos alle Söhne der Menschheit konsequent hassen. Alle möchten sie Hungers sterben lassen – mit Ausnahme vielleicht der Vertreter des Kaufmannsstandes. Tatsächlich, wenn Herr Kriwenko bei den „Jüngern“ irgendwelche gute Absichten hinsichtlich der Fabrikarbeiter vermuten sollte, so würde er nicht die soeben zitierten Zeilen geschrieben haben.

Sich „überhaupt um die Vertreibung jedes überzähligen Bauern aus dem Dorf“ bemühen. Gott bewahre! Warum soll man sich darum bemühen? Wird doch ein Zustrom neuer Arbeitskräfte zu den Massen der Fabrikarbeiter zur Senkung des Lohns führen. Nun ist es aber selbst Herrn Kriwenko bekannt, dass eine Lohnsenkung den Arbeitern weder nützlich noch angenehm ist. Warum werden sich die konsequenten „Jünger“ denn bemühen, dem Arbeiter zu schaden, ihm Unangenehmes anzutun? Es ist klar, dass diese Menschen nur in ihrem Menschenhass konsequent sind, dass sie nicht einmal den Fabrikarbeiter lieben! Vielleicht lieben sie ihn auch, jedoch nur auf ihre eigene Art; sie lieben ihn – und darum wollen sie ihm schaden: „Ich liebe dich wie meine Seele, ich schüttele dich wie einen Birnbaum.“ Sonderbare Menschen! Eine erstaunliche Konsequenz!

Sich „um die Entwicklung des Kulakentums ..., um die Zerstörung der Dorfgemeinschaft, um die Vernichtung der Bodenständigkeit der Bevölkerung“ bemühen. Welche Schrecken! Wozu soll man sich aber um all das bemühen? Kann sich doch die Entwicklung des Kulakentums und die Vernichtung der Bodenständigkeit der Bevölkerung nur auf die Senkung ihrer Kaufkraft auswirken; die Senkung der Kaufkraft wird aber zur Senkung der Nachfrage nach den Fabrikerzeugnissen führen, wird die Nachfrage nach Arbeitskräften vermindern, das heißt die Löhne senken. Nein, die konsequenten „Jünger“ lieben den Arbeiter nicht! Und nur den Arbeiter allein nicht? Wird doch die Senkung der Kaufkraft der Bevölkerung selbst die Interessen der Unternehmer schädigen, die nach Versicherungen der Herren Subjektivisten den Gegenstand zärtlichster Bemühungen der „Jünger“ bilden. Man mag sagen, was man will, sonderbare Menschen sind doch diese Jünger!

Sich „um die Kapitalisierung des Gewerbes“ bemühen ..., „weder vor dem Aufkauf von Bauernland noch vor der Eröffnung von Läden und Kneipen oder einer anderen unsauberen Tätigkeit“ zurückschrecken. Warum sollen die konsequenten Menschen aber das alles tun? Sind sie doch von der Unvermeidlichkeit des kapitalistischen Prozesses überzeugt; wenn also das Aufkommen etwa der Kneipen einen wesentlichen Teil dieses Prozesses ausmachte, dann würden die Kneipen (die es anscheinend jetzt nicht gibt) ganz unvermeidlich entstehen. Herr Kriwenko glaubt, dass unsaubere Tätigkeit die Bewegung des kapitalistischen Prozesses beschleunigen müsse. Jedoch – wir wiederholen es – wird die „Unsauberkeit“ von selbst kommen, wenn der Kapitalismus unvermeidlich ist. Warum sollen sich denn Marx&rsquo: konsequente Jünger so sehr um sie „bemühen“?

„Hier schon verstummt bei ihnen die Theorie angesichts der Forderung des moralischen Gefühls; sie sehen, dass die Unsauberkeit unvermeidlich ist, sie verehren diese Unsauberkeit infolge ihrer Unvermeidlichkeit und eilen ihr von allen Seiten zu Hilfe, sonst, so meinen sie, wird die arme unausbleibliche Unsauberkeit allein nicht so schnell fertig werden.“

Nicht wahr, so meinen Sie doch, Herr Kriwenko? Wenn nicht, dann taugen alle Ihre Überlegungen über die „konsequenten Jünger“ nichts. Wenn doch, dann taugt Ihre persönliche Konsequenz, Ihre eigene „Erkenntnisfähigkeit“ nichts.

Nehmen Sie, was Sie wollen, meinetwegen die Kapitalisierung des Gewerbes. Sie ist ein zweiseitiger Vorgang: Erstens sind da Menschen, die in ihren Händen die Produktionsmittel aufspeichern, zweitens Menschen, die diese Produktionsmittel gegen einen bestimmten Lohn praktisch ausnutzen. Nehmen wir an, die Unsauberkeit sei ein Merkmal der Menschen aus der ersten Gruppe, und die anderen, die gegen Lohn für die ersten arbeiten, können offenbar diese „Phase“ der moralischen Entwicklung vermeiden? Wenn das der Fall ist, was ist dann Unsauberes an meiner Tätigkeit, die ich diesen selben Menschen widme, wenn ich ihr Selbstbewusstsein entwickeln und ihre materiellen Interessen vertreten werde? Herr Kriwenko wird vielleicht erwidern, diese Tätigkeit verlangsame die Entwicklung des Kapitalismus. Keinesfalls. Das Beispiel Englands, Frankreichs, Deutschlands wird ihm zeigen, dass diese Tätigkeit die Entwicklung des Kapitalismus dort nicht nur nicht verlangsamt, sondern sogar beschleunigt hat, womit sie übrigens eine Reihe der dort vorhandenen „verdammten Fragen“ einer praktischen Lösung näher brachte

Oder nehmen wir die Zerstörung der Dorfgemeinschaft. Auch das ist ein zweiseitiger Vorgang: die bäuerlichen Landanteile konzentrieren sich in den Händen der Kulaken; ein immer größerer Teil selbständiger Landwirte wird zu Proletariern. Das alles ist natürlich vom Aufeinanderprallen der Interessen, von Kampf begleitet. Auf diesen Lärm hin erscheint der „russische Jünger“, lässt eine kurze aber gefühlvolle Hymne „an die Kategorie der Notwendigkeit“ vom Stapel und – eröffnet eine Kneipe! So wird sich der „Konsequenteste“ verhalten; der Gemäßigtere begnügt sich mit der Eröffnung eines Ladens. Nicht wahr, so ist es doch, Herr Kriwenko? Warum sollte sich aber der „Jünger“ nicht auf die Seite der Dorfarmen stellen?

„ Wenn er sich auf ihre Seite schlagen wollte, müsste er sich doch bemühen, die Vernichtung ihrer Bodenständigkeit zu verhindern.“ Gut, nehmen wir an, er wird sich darum bemühen. „Das wird aber die Entwicklung des Kapitalismus hemmen.“ Keineswegs wird es sie hemmen. Im Gegenteil, das wird sie noch beschleunigen. Den Herren Subjektivisten scheint es immer, die Dorfgemeinschaft strebe „von sich aus“ danach, in irgendeine „höhere Form“ überzugehen. Sie irren sich. Das einzige tatsächliche Bestreben der Dorfgemeinschaft ist – das Streben nach Zerfall; und je besser die Lage der Bauern wäre, desto schneller zerfiele die Dorfgemeinschaft. Außerdem kann der Zerfall unter für das Volk mehr oder weniger vorteilhaften Bedingungen stattfinden. Die „Jünger“ müssen sich darum bemühen, dass dieser Zerfall unter den für das Volk vorteilhaftesten Bedingungen stattfinde.

„Warum sollte man aber nicht den Zerfall selbst verhindern?“ Und warum haben Sie nicht die Hungersnot von 1891 verhindert? Sie konnten nicht? Wir glauben Ihnen, und wir würden unsere Sache verlorengeben, wenn wir nichts anderes könnten, als solche von Ihnen unabhängige Ereignisse auf das Konto Ihrer Moral zu buchen, statt Ihre Ansichten mit Hilfe einer logischen Argumentation zu widerlegen. Aber warum messen Sie uns mit anderem Maß? Warum stellen Sie in Diskussionen mit uns die Armut des Volkes als unsere Sache hin? Weil dort, wo die Logik versagt, manchmal Worte, ganz besonders armselige Worte helfen. Sie konnten die Hungersnot von 1891 nicht verhindern? Wer wird denn garantieren können, dass Sie den Zerfall der Dorfgemeinschaft, die Entwurzelung der Bauernschaft werden verhindern können? Wählen wir den bei den Eklektikern so beliebten Mittelweg: Stellen wir uns vor, es gelinge Ihnen in einigen Fällen, das alles zu verhindern. Was werden Sie aber dort mit den Opfern dieses verhängnisvollen Prozesses tun, wo Ihre Bemühungen fruchtlos bleiben, wo die Dorfgemeinschaft dessen ungeachtet dennoch zerfällt, wo die Bauern doch ohne Land dastehen? Charon hat über den Styx nur solche Seelen befördert, die ihm diese Arbeit bezahlen konnten. Werden Sie nun nur die wirklichen Mitglieder der Dorfgemeinschaft zwecks Beförderung in das Reich des subjektiven Ideals in Ihren Kahn aufnehmen? Werden Sie die Dorfproletarier mit dem Ruder zurückstoßen? Sie werden wohl selber zugeben müssen, dass das höchst „unsauber“ wäre. Wenn Sie das aber zugeben, werden Sie mit ihnen genauso verfahren müssen, wie jeder anständige Mensch, das heißt nicht Kneipen eröffnen, um ihnen Betäubungsmittel zu verkaufen, sondern ihre Widerstandskraft gegen die Kneipen, gegen den Kneipenwirt und gegen jedes Betäubungsmittel stärken, das ihnen die Geschichte anbietet und anbieten wird.

Oder fangen jetzt vielleicht wir an, Märchen zu erzählen? Vielleicht zerfällt die Dorfgemeinschaft gar nicht? Vielleicht wird die Bodenständigkeit des Volkes tatsächlich nicht zerstört? Vielleicht haben wir das alles nur ausgedacht, um den Bauern, der bis jetzt über einen beneidenswerten Wohlstand verfügte, ins Elend zu stürzen? Aber nehmen Sie doch jede beliebige Untersuchung eines Ihrer Gesinnungsgenossen, und Sie werden sehen, wie es bis jetzt war, das heißt, bevor auch nur ein „Jünger“ eine Kneipe oder einen Laden eröffnet hatte. Wenn Sie mit uns streiten, dann stellen Sie die Sache so dar, als lebe das Volk bereits im Reich Ihrer subjektiven Ideale, wir aber zerrten es auf Grund des uns eigenen Menschenhasses – an den Füssen abwärts ins prosaische Leben des Kapitalismus. In Wirklichkeit ist es aber gerade umgekehrt: Es existiert gerade das prosaische kapitalistische Leben, und wir fragen, wie soll man dagegen ankämpfen, wie soll man das Volk in eine Lage bringen, die dem „Idealen“ wenigstens einigermaßen nahekommt? Sie können meinen, dass wir diese Frage unrichtig beantworten, warum aber unsere Absichten entstellen? Nicht wahr, das ist doch „unsauber“; nicht wahr, eine solche „Kritik“ ist selbst der „Susdaler“ unwürdig.

Wie soll man aber den prosaischen Kapitalismus bekämpfen, der – wir wiederholen es – unabhängig von unseren und Ihren Bemühungen bereits existiert? Sie haben nur eine Antwort: „Die Dorfgemeinschaft festigen“, die Bindung des Bauern an den Boden stärken. Wir aber erwidern Ihnen, das ist eine Antwort, die nur dem Utopisten genügt. Warum? Weil es eine abstrakte Antwort ist. Ihrer Ansicht nach ist die Dorfgemeinschaft immer und überall gut; unserer Ansicht nach aber gibt es keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist immer konkret, alles hängt von den zeitlichen und örtlichen Bedingungen ab. Es gab eine Zeit, da die Dorfgemeinschaft dem ganzen Volk nützlich sein konnte; es gibt wahrscheinlich auch jetzt Landstriche, wo sie für den Ackerbauer von Vorteil ist. Wir werden uns gegen eine solche Dorfgemeinschaft nicht auflehnen. In einer ganzen Reihe von Fällen hat sich die Dorfgemeinschaft in ein Mittel zur Ausbeutung des Bauern verwandelt. Gegen eine solche Dorfgemeinschaft lehnen wir uns auf, wie wir uns gegen alles auflehnen, was für das Volk schädlich ist. Denken Sie an jenen Bauern bei G. I. Uspenski, der „für nichts“ zahlt. Wie soll man Ihrer Ansicht nach mit ihm verfahren? Ins Reich des Ideals befördern – antworten Sie. Sehr gut, befördern Sie ihn mit Gottes Hilfe. Solange er jedoch noch nicht befördert ist, solange er noch nicht im Kahn des Ideals sitzt, solange der Kahn noch nicht bei ihm angelangt ist und solange man auch nicht weiß, wann dieser Kahn kommen wird – wäre es da nicht besser, ihn von der Zahlung „für nichts“ zu befreien? Wäre es für ihn nicht besser, nicht mehr Mitglied der Dorfgemeinschaft zu sein, die ihm nur völlig unproduktive Ausgaben und vielleicht nur noch eine periodische Prügelstrafe in der Amtsbezirksverwaltung sichert? Wir meinen, es wäre besser, Sie aber beschuldigen uns deswegen der Absicht, das Volk Hungers sterben zu lassen. Ist das berechtigt? Liegt hier nicht eine gewisse „Unsauberkeit“ vor? Oder sind Sie vielleicht wirklich nicht imstande, uns zu verstehen? Ist das wirklich so? Tschaadajew sagte einst, dem russischen Menschen sei selbst die westliche Fähigkeit zu folgerichtigem Denken unbekannt. Ist das wirklich „votre cas“ [10]? Wir wollen annehmen, dass Herr S. Kriwenko uns wirklich nicht versteht; wir nehmen das auch in Bezug auf Herrn Karejew und Herrn Juschakow an. Aber Herr Michailowski schien uns immer ein Mann mit erheblich „schärferem“ Geist zu sein.

Was haben Sie sich, meine Herren, zur Verbesserung des Loses der Millionen tatsächlich landloser Bauern ausgedacht? Wenn die Sprache auf die „für nichts“ Zahlenden kommt, verstehen Sie nur einen Ratschlag zu erteilen: Mag er auch „für nichts“ zahlen, seine Bindung zur Dorfgemeinschaft soll trotzdem bestehen bleiben, da sie, einmal zerstört, nicht wieder errichtet werden kann. Natürlich wird das für jene, die „für nichts“ zahlen, zu zeitweiligen Unannehmlichkeiten führen, aber – „es ist kein Unglück, wenn der Bauer leiden muss“.

So ergibt sich also, dass unsere Herren Subjektivisten bereit sind, ihren Idealen die wichtigsten Interessen des Volkes zu opfern! So ergibt sich also, dass ihre Predigt für das Volk schädlicher und schädlicher wird.

„Immer enthusiastisch zu sein war ihr zum gesellschaftlichen Beruf geworden“, sagt Tolstoi über Anna Pawlowna Scherer [11]. Der Hass gegen den Kapitalismus war zum gesellschaftlichen Beruf unserer Subjektivisten geworden. Welchen Nutzen konnte der Enthusiasmus der alten Jungfer Russland bringen? Gar keinen. Welchen Nutzen bringt der „subjektive“ Hass gegen den Kapitalismus den russischen Produzenten? Ebenfalls keinen.

Der Enthusiasmus Anna Pawlownas war aber wenigstens unschädlich. Der utopische Hass gegen den Kapitalismus beginnt aber dem russischen Produzenten zu schaden, da er unsere Intelligenz bei der Wahl der Mittel zur Festigung der Dorfgemeinschaft sehr wenig wählerisch macht. Kaum beginnt man über diese Festigung zu sprechen, da bricht auch schon die Dunkelheit herein, in der alle Katzen grau erscheinen, und die Herren Subjektivisten sind bereit, sich mit den Leuten von der Zeitschrift „Moskowskije Wjedomosti“ in Liebe zu umarmen. So gereicht diese ganze „subjektive“ geistige Umnachtung gerade jener Kneipe zum Nutzen, die von den „Jüngern“ angeblich kultiviert werden sollte. Man schämt sich, es auszusprechen, man darf es aber nicht verschweigen: Die utopischen Feinde des Kapitalismus erweisen sich in der Tat als Helfershelfer des Kapitalismus von gröbster, gemeinster und schädlichster Form.

Bis jetzt sprachen wir über die Utopisten, die sich bemühten, diese oder jene Einwände gegen Marx zu erfinden, oder sich jetzt darum bemühen. Nun wollen wir feststellen, wie sich die Utopisten verhielten oder jetzt verhalten, die dazu neigen, sich auf ihn zu berufen.

Heinzen, den die Herren russischen Subjektivisten jetzt in ihren Diskussionen mit den „russischen Jüngern“ mit so erstaunlicher Exaktheit reproduzieren, war ein Utopist der bürgerlich-demokratischen Richtung. Im Deutschland der vierziger Jahre gab es aber auch zahlreiche Utopisten der entgegen gesetzten Richtung.

Die sozialökonomische Lage Deutschlands war damals im Großen und Ganzen folgende:

Einerseits entwickelte sich rasch eine Bourgeoisie, die von den deutschen Regierungen beständig die verschiedensten Hilfeleistungen und Unterstützungen forderte. Der bekannte Zollverein war ganz und gar ihre Sache, wobei die zu seinen Gunsten betriebene Agitation nicht nur mit Hilfe von „Fürbitten“, sondern auch mit Hilfe mehr oder weniger ernster wissenschaftlicher Untersuchungen geführt wurde; wir erinnern an Friedrich List. Anderseits hatte die Zerstörung der alten ökonomischen „Stützen“ das deutsche Volk dem Kapitalismus gegenüber schutzlos gemacht. Die Bauern und Handwerker waren bereits in genügendem Maße in die kapitalistische Bewegung einbezogen, um alle ihre nachteiligen Seiten, die sich in den Übergangsperioden besonders stark fühlbar machen, am eigenen Leibe zu verspüren. Die werktätige Masse war damals jedoch nur in geringem Maße eines Widerstandes fähig. Sie konnte den Vertretern des Kapitals damals noch keine irgend bedeutende Abwehr entgegensetzen. Noch in den sechziger Jahren sagte Marx, Deutschland leide zugleich sowohl unter der Entwicklung des Kapitalismus als auch unter seiner mangelnden Entwicklung. In den vierziger Jahren waren seine Leiden infolge der mangelnden Entwicklung des Kapitalismus noch erheblicher. Der Kapitalismus hatte die alten Stützen des bäuerlichen Lebens zerstört; die Heimindustrie, die früher in Deutschland blühte, musste jetzt die für sie untragbare Konkurrenz der Maschinenindustrie dulden. Die Heimarbeiter verarmten und gerieten von Jahr zu Jahr in immer größere Abhängigkeit von den Aufkäufern. Gleichzeitig mussten die Bauern eine ganze Reihe von Leistungen gegenüber den Gutsbesitzern und dem Staat erfüllen, wie sie in früheren Zeiten vielleicht keine so große Last gewesen waren, in den vierziger Jahren aber um so drückender wurden, je weniger sie den tatsächlichen Verhältnissen des bäuerlichen Lebens entsprachen. Die Armut der Bauern nahm erstaunliche Ausmaße an; der Großbauer wurde ganz und gar zum Herrn des Dorfes; er kaufte das Bauerngetreide häufig schon auf dem Halm; Bettelei wurde zu einer Art Wandergewerbe. Die damaligen Forscher wiesen auf Gemeinden hin, in denen unter einigen Tausend Familien nur einige Hundert keine Bettelei betrieben. An manchen Orten – eine kaum glaubliche, von der deutschen Presse jener Zeit aber festgestellte Tatsache – nährten sich die Bauern von Aas. Wenn sie das Dorf verließen, fanden sie in den Industriezentren keinen genügenden Verdienst, und die Presse wies auf die wachsende Arbeitslosigkeit und die dadurch bedingte Auswanderung hin.

Eines der fortschrittlichsten Organe jener Zeit schildert die Lage der werktätigen Massen folgendermaßen: „Hunderttausend Spinner im Ravensbergischen, eine große Anzahl Spinner im Osnabrückschen und in andern Gegenden des deutschen Vaterlandes können von ihrer Arbeit nicht mehr leben, sie können das Produkt ihrer Tätigkeit nicht verwerten“ (es handelte sich hauptsächlich um Heimarbeiter), „sie suchen Arbeit und Brot und finden nicht das eine noch das andere. Denn es ist schwer, wo nicht unmöglich, für das Spinnen Ersatz zu finden.“ Es besteht ein „Zudrang von Arbeitenden um den geringsten Lohn ...“ [G]

Die Moral des Volkes war offenbar im Sinken. Der Zerstörung der alten ökonomischen Verhältnisse entsprach die Zerrüttung alter sittlicher Begriffe. Die Zeitungen und Zeitschriften jener Zeit sind voll von Klagen über die Trunksucht der Arbeiter, über die Unzucht unter ihnen, über Putzsucht und Verschwendung, die mit der Verringerung ihres Lohnes Hand in Hand ging. Beim deutschen Arbeiter waren noch keine Merkmale einer neuen Moral zu verspüren – jener Moral, die sich auf der Grundlage der neuen Freiheitsbewegung, die durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst hervorgerufen wurde, später rasch zu entfalten begann. Die Freiheitsbewegung der Masse hatte damals noch nicht begonnen. Ihre dumpfe Unzufriedenheit äußerte sich nur von Zeit zu Zeit in hoffnungslosen Streiks und ziellosen Meutereien, in sinnloser Maschinenstürmerei. Doch begannen bereits Funken des Bewusstseins in die Köpfe der deutschen Arbeiter zu dringen. Das Buch, das unter der alten Ordnung ein überflüssiger Luxus gewesen war, wurde unter der neuen zum Bedarfsartikel. Leseleidenschaft begann die Arbeiter zu erfassen.

So war die Situation, mit der der gutgesinnte Teil der deutschen Intelligenz ({der Gebildeten} – wie man damals sagte) zu rechnen hatte. Was sollte man tun, wie sollte man dem Volk helfen? Den Kapitalismus beseitigen, erwiderte die Intelligenz. Die zu jener Zeit erschienenen Werke von Marx und Engels wurden von einem Teil der deutschen Intelligenz als eine Reihe neuer Argumente zugunsten der Notwendigkeit, den Kapitalismus abzuschaffen, mit Freude aufgenommen. „Als die liberalen Herren Politiker und Industriellen einmal wieder recht kräftig in die Listsche Lärmtrommel der Schutzzölle stießen und ... glauben machen wollten, dass sie bei der Hebung der Industrie nur das Wohl der arbeitenden Klassen hauptsächlich im Auge hätten, während sie ihre Gegner, die Handelsfreiheitsenthusiasten, mit der blühenden Industrie Englands zu widerlegen versuchten, das unter dem Schutze von Prohibitivgesetzen das klassische Land des Handels und der Industrie geworden, erschien zu günstiger Zeit das schön oft besprochene treffliche Werk von Friedrich Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse in England, das den Rest von Illusionen vernichtet. Das Buch ist anerkannt eine der bedeutendsten Erscheinungen der neuesten Zeit ... Das Buch zeigt uns ... mit unwiderleglichen Beweisen welchem Abgrunde eine Gesellschaft zueilt, deren bewegendes Prinzip die Privathabsucht, die freie Konkurrenz der Privaterwerber, deren Gott das Geld ist...“ [H]

Also musste der Kapitalismus beseitigt werden, sonst würde Deutschland in jenen Abgrund stürzen, auf dessen Grund England bereits lag. Das hatte Engels bewiesen. Wer würde aber den Kapitalismus beseitigen? Die Intelligenz, {die Gebildeten}. Die Eigenart Deutschlands bestand nach den Worten eines dieser {Gebildeten} gerade darin, dass hier die deutsche Intelligenz berufen war, den Kapitalismus zu beseitigen, während {in den westlichen Ländern} größtenteils die Arbeiter gegen ihn kämpften: „... in Frankreich ... sind es die armen Arbeiter, welche sich am meisten mit jener Aufgabe befassen, die in unserm Vaterlande mehr die höheren und gebildeteren Stände in Anspruch nimmt.“ [I] Wie nun würde die deutsche Intelligenz den Kapitalismus abschaffen? Durch {Organisation der Arbeit}. Was sollte die Intelligenz zur Organisation der Arbeit unternehmen? Das Kölner Allgemeine Volksblatt schlug im Jahre 1845 folgende Maßnahmen vor:

    Förderung der Volksbildung, Organisation von Vorlesungen für das Volk, von Konzerten usf.
     
    Einrichtung großer Werkstätten, in denen die Arbeiter, Handwerker und Heimarbeiter für sich und nicht für den Unternehmer oder Aufkäufer arbeiten können. Das Allgemeine Volksblatt hoffte, dass sich diese Handwerker und Heimarbeiter mit der Zeit von selbst zu Assoziationen vereinigen würden.
     
    Schaffung von Lagern für den Verkauf von Erzeugnissen, die von Heimarbeitern und Handwerkern sowie von nationalen Werkstätten hergestellt werden.

Diese Maßnahmen werden Deutschland von der Geißel des Kapitalismus retten. Sie einzuführen ist aber um so leichter, fügt das zitierte Blatt hinzu, als man „bereits hier und da mit der Einrichtung ständiger Lager, sogenannter Industriebasare, begonnen hat, in denen die Handwerker ihre Waren zu Verkaufszwecken ausstellen können“, wobei sie sofort ein bestimmtes Darlehen erhalten ... Weiter folgt die Aufzählung der Vorteile, die sich daraus für den Erzeuger und für den Verbraucher ergäben.

Den Kapitalismus zu beseitigen scheint am leichtesten dort zu sein, wo er noch schwach entwickelt ist. Darum hoben die deutschen Utopisten häufig und gern hervor, dass Deutschland noch nicht England sei; Heinzen war sogar geradezu bereit, das Bestehen eines Fabrikproletariats in Deutschland zu leugnen. Da es aber für die Utopisten die Hauptsache war, der „Gesellschaft“ die Notwendigkeit einer Organisation der Produktion zu beweisen, gingen sie mühelos und für sich selbst unmerklich zeitweilig auf den Standpunkt von Menschen über, die behaupteten, der deutsche Kapitalismus könne sich infolge der ihm eigenen inneren Widersprüche nicht mehr entwickeln, der Binnenmarkt sei bereits überfüllt, die Kaufkraft der Bevölkerung sinke, die Eroberung auswärtiger Märkte sei unwahrscheinlich und die Zahl der in der bearbeitenden Industrie beschäftigten Arbeiter müsse sich daher unbedingt weiter und weiter verringern. Diesen Standpunkt bezog die von uns mehrfach zitierte Zeitschrift Der Gesellschaftsspiegel – eines der Hauptorgane der deutschen Utopisten jener Zeit – nach dem Erscheinen der interessanten Broschüre L. Buhls Andeutungen über die Not der arbeitenden Klassen und über die Aufgabe der Vereine zum Wohl derselben, Berlin 1845. Buhl stellte sich die Frage: Sind die Vereine zur Hebung des Wohlstandes der Arbeiterklasse imstande, ihre Aufgabe zu lösen? Um diese Frage zu beantworten, warf er eine andere auf, und zwar die Frage, woher gegenwärtig die Armut der Arbeiterklasse komme. Der Arme und der Proletarier seien keineswegs dasselbe, sagt Buhl. „Das Wesen des Armen besteht in dem Nichtarbeitenkönnen oder Nichtarbeitenwollen, während der Proletarier die Fähigkeit und den Willen zur Arbeit hat, aber keine Gelegenheit findet“ und in Not gerät. Diese Erscheinung war in früheren Zeiten völlig unbekannt, obwohl es immer Arme und immer Unterdrückte gegeben hat, zum Beispiel leibeigene Bauern.

Wie ist denn der Proletarier entstanden? Ihn hat die Konkurrenz geschaffen. Die Konkurrenz zerreißt die alten Bande, die die Produktion gefesselt haben, und ruft eine nie dagewesene Blüte der Industrie hervor. Aber sie zwingt die Unternehmer auch, den Preis ihrer Erzeugnisse herabzusetzen. Darum wollen sie den Arbeitslohn senken oder die Arbeiterzahl verringern. Dieses letzte Ziel wird durch die Vervollkommnung der Maschinen erreicht, wodurch große Mengen von Arbeitern auf die Straße gesetzt werden. Darüber hinaus können auch die Handwerker nicht mit der Maschinenproduktion konkurrieren und werden ebenfalls zu Proletariern. Die Arbeitslöhne fallen weiter und weiter. Buhl weist auf das Beispiel der Kattundruckereien hin, die in Deutschland in den zwanziger Jahren noch florierten. Die Arbeitslöhne waren damals sehr hoch. Ein guter Arbeiter konnte 18 bis 20 Taler in der Woche verdienen. Da kamen aber die Maschinen auf, mit ihnen die Frauen- und Kinderarbeit, und die Löhne gingen stark herunter. Das Prinzip der freien Konkurrenz wirkt auf diese Art immer und überall, wo es zur Herrschaft gelangt. Es führt zur Überproduktion, die Überproduktion zur Arbeitslosigkeit. Je stärker sich die Großindustrie vervollkommnet, desto stärker wächst die Arbeitslosigkeit, desto geringer wird die Zahl der in industriellen Unternehmungen beschäftigten Arbeiter. Dass es tatsächlich so ist, beweist die Tatsache, dass die genannten Nöte nur in Industrieländern vorkommen, während Agrarländer sie nicht kennen. Jedoch ist die von der freien Konkurrenz geschaffene Lage äußerst gefährlich für die Gesellschaft, und darum kann die Gesellschaft nicht gleichgültig an ihr vorübergehen. Was soll die Gesellschaft tun? Hier wendet sich Buhl der Frage zu, die sozusagen im Scheitelpunkt seines Werkes steht, „ob überhaupt ein Verein imstande ist, die Not der arbeitenden Klassen mit der Wurzel auszurotten“.

Der Berliner Lokal-Verein steckte sich das Ziel, „nicht sowohl das vorhandene Elend zu beschwichtigen, als das Entstehen der Not zu verhüten“. An diesen Verein wendet sich jetzt Buhl. Wie wollt ihr das Entstehen der Not in der Zukunft verhüten, fragt er; was habt ihr in diesem Sinne getan? Das Elend des heutigen Arbeiters wird durch die mangelnde Nachfrage nach Arbeitskräften hervorgerufen. Der Arbeiter braucht kein Almosen, sondern Arbeit. „Kann der Verein Arbeit schaffen?“ Um die Nachfrage nach Arbeitskräften zu heben, muss die Nachfrage nach den Produkten der Arbeit erhöht werden. Diese Nachfrage fällt aber infolge des Lohnfalls der arbeitenden Masse. Oder wird der Verein vielleicht neue Märkte eröffnen? Buhl hält auch das für unmöglich. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Aufgabe, die sich der Berliner Verein stellt, nur eine „gutmütige Illusion“ sei.

Buhl empfiehlt dem Berliner Verein, sich erst in die Ursachen des Arbeiterelends hineinzudenken, bevor er dagegen ankämpfe. Palliativmitteln misst er keine Bedeutung bei: „Arbeiterbörsen, Spar- und Prämienkassen sowie Kranken- und Sterbeladen, Unterstützungs- und Pensionskassen können also dem einzelnen manche Erleichterungen und Verbesserungen seiner Lage gewähren, allein sie treffen die Wurzel der Not nicht ...“ Auch die Assoziationen werden sie nicht ausrotten: „Der dura necessitas [12] der Konkurrenz würde auch die Arbeiterassoziation nicht entgehen.“

Worin Buhl selber das Mittel zur Beseitigung des Übels erblickt, lässt sich aus seiner Broschüre nicht ohne weiteres ersehen. Er scheint darauf anzuspielen, dass zur Überwindung des Übels eine Einmischung des Staates notwendig sei, fügt jedoch hinzu, dass das Ergebnis dieser Einmischung zweifelhaft bleibe. Wie dem auch sei, seine Broschüre machte starken Eindruck auf die damalige deutsche Intelligenz. Und zwar keineswegs in enttäuschendem Sinne. Im Gegenteil, man sah in ihr einen neuen Beweis für die Notwendigkeit, die Arbeit zu organisieren.

Die Zeitschrift Der Gesellschaftsspiegel sagt über Buhls Broschüre folgendes:

„Der bekannte Berliner Schriftsteller L. Buhl hat Andeutungen ... herausgegeben ... Er meint – und wir teilen mit ihm diese Meinung –, dass die Not der arbeitenden Klassen aus dem Überfluss an Produktionskräften entstehe; dass dieser Überfluss eine Folge der freien Konkurrenz (und der neuen Erfindungen und Entdeckungen in Physik und Mechanik) sei; dass die Zünfte und Korporationen aber ebenso wenig, ganz oder teilweise, mit gutem Erfolg wiederhergestellt als jene neuen Erfindungen und Entdeckungen unterdrückt werden können; dass folglich unter den bestehenden gesellschaftlichen Voraussetzungen“ (hervorgehoben vom Verfasser der Rezension) „keine wirksamen Mittel zur Abhilfe der Arbeiternot in Anwendung zu bringen seien. Vorausgesetzt also ..., dass die bestehenden egoistischen Zustände des Privaterwerbs nicht selbst umgeändert werden, stimmen wir auch darin mit Buhl überein, dass kein Verein imstande ist, das bestehende Elend zu vernichten. Diese Voraussetzung ist aber nicht notwendig ...; es könnten vielmehr Vereine entstehen – und vorbehaltlich der höheren Genehmigung sind deren bereits entstanden deren Zweck es eben ist, jene egoistische Grundlage unserer Gesellschaft auf friedlichem Wege umzugestalten. Es fragt sich nur, ob man auch diesen Vereinen von Seiten der Staatsbehörde keine Hindernisse in den Weg legen wird.“ [13]

Man sieht, dass der Rezensent Buhls Gedanken nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte, für uns ist das aber bedeutungslos. Wir wandten uns Deutschland nur deshalb zu, um uns mit Hilfe der von seiner Geschichte erteilten Lektionen in einigen Geistesrichtungen des gegenwärtigen Russlands besser zurechtzufinden. In diesem Sinne aber bietet uns die Bewegung der deutschen Intelligenz der vierziger Jahre sehr viel Belehrendes.

Erstens erinnert uns Buhls Argumentation sehr stark an die Argumentation des Herrn N–on. Sowohl dieser als auch jener beginnt mit dem Hinweis auf die Entwicklung der Produktivkräfte als auf die Ursache der verringerten Nachfrage nach Arbeitskräften und folglich der relativen Verringerung der Zahl der Arbeiter. Sowohl dieser als auch jener spricht von der Überfüllung des Binnenmarktes und von der sich daraus ergebenden Unvermeidlichkeit einer weiteren Verringerung der Nachfrage nach Arbeitskräften. Buhl traute den Deutschen offenbar nicht die Möglichkeit zu, ausländische Märkte zu erobern; Herr N–on traut diese Möglichkeit den russischen Industriellen keineswegs zu. Schließlich bleibt die Frage der ausländischen Märkte sowohl bei diesem als auch bei jenem gänzlich unerforscht; weder dieser noch jener führt irgendein ernstes Argument zugunsten seiner Ansicht an.

Buhl zieht aus seiner Untersuchung keine andere klare Folgerung als die, dass man sich in die Lage der Arbeiterklasse gründlich hineindenken müsse, bevor man ihr helfe. Herr N–on kommt zu dem Ergebnis, dass unsere Gesellschaft vor der zwar schweren, aber nicht unlösbaren Aufgabe stehe, unsere nationale Produktion zu organisieren. Wenn man aber Buhls Ansichten durch jene Ausführungen ergänzt, die der von uns zitierte Rezensent der Zeitschrift „Der Gesellschaftsspiegel“ aus ihrem Anlass machte, ergibt sich genau die Schlussfolgerung des Herrn N–on. Herr N–on = Buhl + Rezensent. Und diese „Formel“ führt uns zu folgenden Überlegungen:

Herr N–on wird bei uns als Marxist bezeichnet, und zwar als der einzige „wahre“ Marxist. Darf man aber behaupten, dass die Summe der Ansichten Buhls und des Rezensenten über die Lage Deutschlands in den vierziger Jahren Marx’ Ansichten über diese Lage gleichkommt? Mit anderen Worten, war Buhl, ergänzt durch den Rezensenten, ein Marxist, und zwar der einzige wahre Marxist, der Marxist par excellence? Natürlich nicht. Aus dem Hinweis Buhls auf den Widerspruch, in den die kapitalistische Gesellschaft infolge der Entwicklung der Produktivkräfte gerät, folgt noch nicht, dass er den Marxschen Standpunkt einnahm. Er betrachtete diese Widersprüche von einem höchst abstrakten Standpunkt aus, und allein dadurch hatte seine Untersuchung, ihrem Geist nach, mit Marx’ Ansichten nichts gemein. Wenn man Buhl hört, kann man glauben, der deutsche Kapitalismus werde, wenn nicht heute, dann morgen unter der Last der eigenen Entwicklung ersticken, er könne nicht mehr weiter, das Gewerbe sei endgültig kapitalisiert, und die Zahl der deutschen Arbeiter gehe rapide zurück. Solche Ansichten hat Marx nicht geäußert. Im Gegenteil, wenn er Ende der vierziger und besonders Anfang der fünfziger Jahre auf die nächste Zukunft des deutschen Kapitalismus zu sprechen kam, äußerte er sich ganz anders. Nur Menschen, die seine Ansichten völlig missverstanden, konnten die deutschen N–ons für wahre Marxisten halten. [J]

Die deutschen N–ons dachten ebenso abstrakt wie unsere jetzigen Buhls und Vollgraffs. Abstrakt denken heißt sich auch in den Fällen irren, in welchen man von einem durchaus richtigen Prinzip ausgeht. Weiß der Leser, was d‘Alemberts Antiphysik ist? D‘Alembert sagte, er könne auf Grund der unbestreitbarsten physikalischen Gesetze die Unvermeidlichkeit von Erscheinungen beweisen, die in Wirklichkeit völlig ausgeschlossen sind. Es genüge, die Wirkung eines dieser Gesetze zu verfolgen, zeitweilig aber zu vergessen, dass es andere Gesetze gebe, die seine Wirkung verändern. Das Ergebnis würde sicherlich sinnlos sein. Als Beweis führte d’Alembert einige wirklich glänzende Beispiele an und beabsichtigte sogar, sobald er freie Zeit hätte, eine ganze Antiphysik zu verfassen. Die Herren Vollgraffs und N–ons verfassen aber eine Anti-Ökonomie, und zwar nicht im Scherz, sondern im Ernst. Dabei wenden sie folgende Methode an: Sie nehmen ein bekanntes, unbestreitbares ökonomisches Gesetz, weisen ganz richtig auf seine Tendenz hin; dann vergessen sie, dass die Umsetzung dieses Gesetzes ins Leben ein ganzer historischer Prozess ist, und stellen die Sache so dar, als sei die Tendenz dieses Gesetzes zu jenem Zeitpunkten dem sie ihre Untersuchung verfassen, bereits voll und ganz verwirklicht. Wenn so ein Vollgraff, Buhl oder N–on dabei ganze Berge schlecht verdauten statistischen Materials auftürmt und Marx – passend und unpassend – zitiert, erhält sein „Abriss“ das Aussehen einer wissenschaftlichen, überzeugenden Untersuchung im Sinne des Verfassers des Kapitals. Aber das ist nur eine optische Täuschung, nicht mehr.

Dass zum Beispiel Vollgraff bei der Analyse des ökonomischen Lebens im damaligen Deutschland vieles übersehen hat, beweist die unbestreitbare Tatsache, dass seine Prophezeiungen über den „Zerfall des gesellschaftlichen Organismus“ dieses Landes keineswegs in Erfüllung gegangen sind. Dass aber Herr N–on Marx’ Namen völlig unnütz aufführt, gleichsam wie Herr J. Schukowski einst unnütz die Integralrechnung anführte, wird selbst der hochverehrte S. N. Kriwenko mühelos begreifen.

Entgegen der Meinung jener Herren, die Marx Einseitigkeit vorwerfen, betrachtete dieser Verfasser die ökonomische Bewegung eines Landes niemals ohne Verbindung zu jenen gesellschaftlichen Kräften, die auf seinem Boden erwuchsen und ihre weitere Richtung selbst beeinflussen (Ihnen, Herr S. N. Kriwenko, ist das jetzt noch nicht ganz klar, jedoch – Geduld!). Gegeben ist ein bestimmter ökonomischer Zustand, und damit sind bestimmte gesellschaftliche Kräfte gegeben, deren Wirkung auf die Weiterentwicklung dieser Lage notwendigerweise einwirken muss. (Die Geduld verlässt Sie, Herr Kriwenko? Hier haben Sie ein anschauliches Beispiel). Gegeben ist die Ökonomie Englands in der Epoche der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation. Damit waren jene Gesellschaftskräfte gegeben, die unter anderem im damaligen englischen Parlament tagten. Die Wirkung dieser Gesellschaftskräfte war die notwendige Bedingung für die Weiterentwicklung der gegebenen ökonomischen Lage, während die Richtung ihrer Wirkung durch die Eigenschaften dieser Lage bedingt wurde. – Gegeben ist die ökonomische Lage des modernen Englands; damit sind seine modernen Gesellschaftskräfte gegeben, deren Wirkung sich in der zukünftigen ökonomischen Entwicklung Englands äußern wird. Als sich Marx mit dem befasste, was manche seine Wahrsagungen zu nennen beliebten, berücksichtigte er diese gesellschaftlichen Kräfte und bildete sich nicht ein, dass ihr Wirken durch die Willkür dieser oder jener Gruppe, allein kraft ihrer schönen Absichten aufgehalten werden könne. („{Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird ... der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist.}“ [14])

Die deutschen Utopisten der vierziger Jahre dachten anders. Wenn sie sich bestimmte Aufgaben stellten, hatten sie nur die Unannehmlichkeiten der ökonomischen Lage ihres Landes vor Augen und vergaßen, jene Gesellschaftskräfte zu erforschen, die aus dieser Lage erwachsen waren. Die ökonomische Lage unseres Volkes ist trostlos, führte der obengenannte Rezensent aus, folglich stehen wir vor der schweren, jedoch nicht unlösbaren Aufgabe, die Produktion zu organisieren. Werden aber jene gesellschaftlichen Kräfte, die auf dem Boden der trostlosen ökonomischen Lage gewachsen sind, diese Organisation nicht stören? Danach fragte der wohlwollende Rezensent nicht. Ein Utopist rechnet niemals in genügendem Maße mit den gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit, einfach weil er sich – nach einem Marxschen Ausdruck – immer über die Gesellschaft stellt. Aus dem gleichen Grunde aber sind – nach dem Ausdruck des gleichen Marx – alle Rechnungen des Utopisten „{ohne den Wirt gemacht}“, und seine ganze „Kritik“ ist nichts als ein völliger Mangel an Kritik, als die Unfähigkeit, die ihn umgebende Wirklichkeit kritisch zu betrachten.

Eine Organisation der Produktion eines Landes könnte nur das Ergebnis der Tätigkeit jener gesellschaftlichen Kräfte sein, die in diesem Lande bestehen. Was ist zur Organisation der Produktion erforderlich? Ein bewusstes Verhältnis der Produzenten zum Produktionsprozess in seiner ganzen Kompliziertheit und Gesamtheit. Wo ein solches bewusstes Verhältnis noch fehlt, kann die Organisation der Produktion als die nächste gesellschaftliche Aufgabe nur von Menschen gestellt werden, die ihr ganzes Leben lang unverbesserliche Utopisten bleiben, auch wenn sie Marx’ Namen fünf Milliarden Mal mit größter Ehrfurcht nennen. Was sagt Herr N–on in seinem berüchtigten Buch über das Bewusstsein der Produzenten? Absolut nichts; er baut auf das Bewusstsein der „Gesellschaft“. Wenn man ihn danach als wahren Marxisten anerkennen dürfte und müsste, so sehen wir nicht ein, warum man Herrn Kriwenko nicht als einzig wahren Hegelianer unserer Zeit, als Hegelianer par excellence anerkennt.

Nun ist es aber Zeit zu schließen. Welche Ergebnisse hat uns unsere vergleichende historische Methode beschert? Falls wir uns nicht irren, sind es folgende:

    Die Überzeugung Heinzens und seiner Gesinnungsgenossen, Marx sei vermöge seiner eigenen Ansichten in Deutschland zur Untätigkeit verurteilt gewesen, erweist sich als Unsinn. Ebenfalls als Unsinn wird sich auch Herrn Michailowskis Überzeugung erweisen, laut der die Menschen, die jetzt bei uns Marx’ Ansichten folgen, dem russischen Volk angeblich keinen Nutzen bringen, sondern ihm nur schaden werden.
     
    Die Ansichten der Buhl und Vollgraff über die damalige ökonomische Lage Deutschlands erwiesen sich als beschränkt, einseitig und fehlerhaft, weil sie abstrakt waren. Man muss befürchten, dass die weitere ökonomische Geschichte Russlands ähnliche Mängel in den Ansichten des Herrn N–on offenbaren wird.
     
    Menschen, die im Deutschland der vierziger Jahre die Organisation der Produktion als ihre nächste Aufgabe ansahen, waren Utopisten. Ebensolche Utopisten sind die Menschen, die über die Organisation der Produktion im heutigen Russland reden.
     
    Die Geschichte hat die Illusionen der deutschen Utopisten der vierziger Jahre hinweggefegt. Es bestehen gute Gründe zu vermuten, dass das gleiche Schicksal auch die Illusionen unserer russischen Utopisten ereilen wird. Der Kapitalismus hat jene verlacht; mit wehem Herzen sehen wir voraus, dass er auch diese verlachen wird.

Haben diese Illusionen dem deutschen Volk wirklich keinen Nutzen gebracht? In ökonomischer Hinsicht gar keinen oder – falls man einen genaueren Ausdruck fordert – fast gar keinen. Alle diese Basare für den Verkauf der Heimerzeugnisse und alle diese Versuche zur Schaffung von Produktionsassoziationen werden die Lage von kaum hundert deutschen Produzenten erleichtert haben. Sie förderten jedoch das Erwachen des Selbstbewusstseins dieser Produzenten und waren dadurch für sie von großem Nutzen. Den gleichen Nutzen, und zwar auf direktem Wege und nicht auf Umwegen, brachte die aufklärende Tätigkeit der deutschen Intelligenz: Schulen, Volkslesesäle usw. Die für das deutsche Volk schädlichen Folgen der kapitalistischen Entwicklung konnten in jedem gegebenen Zeitpunkt nur in dem Maße abgeschwächt oder beseitigt werden, in welchem das Selbstbewusstsein der deutschen Produzenten sich entwickelte. Marx begriff das besser als die Utopisten, und darum war seine Tätigkeit auch nützlicher für das deutsche Volk.

Das gleiche wird zweifellos auch in Russland der Fall sein. Gerade im Oktoberheft des Russkoje Bogatstwo von 1894 „bemüht“ sich – wie man bei uns sagt – S. N. Kriwenko um die Organisation der russischen Produktion. Mit diesen „Bemühungen“ wird Herr Kriwenko nichts beseitigen, niemand beglücken. Seine „Bemühungen“ sind schwerfällig, ungeschickt, fruchtlos; wenn sie jedoch ungeachtet aller ihrer negativen Seiten das Selbstbewusstsein wenigstens eines Produzenten wecken, werden sie von Nutzen sein, und dann wird es so kommen, dass Herr Kriwenko auf der Welt nicht nur deshalb gelebt haben wird, um logische Fehler zu machen oder Abschnitte aus ihm „unsympathischen“ fremdsprachigen Artikeln zu übersetzen. Gegen die schädlichen Folgen unseres Kapitalismus wird man bei uns nur soweit kämpfen können, wie sich das Bewusstsein der Produzenten entwickeln wird. Aus diesen unseren Worten können unsere Herren Subjektivisten ersehen, dass wir keineswegs „vulgäre Materialisten“ sind. Wenn wir „beschränkt“ sind, so nur in einem Sinne: in dem, dass wir uns vor allem eine durch und durch idealistische Aufgabe stellen.

Jetzt aber auf Wiedersehen, die Herren Gegner! Wir genießen im Voraus jenes gewaltige Vergnügen, das uns Ihre Entgegnungen bereiten werden. Passen Sie, meine Herren, nur gut auf Herrn Kriwenko auf! Er schreibt vielleicht nicht einmal so schlecht, zumindest mit Gefühl, aber das „Was und wohin“, das ist ihm nicht gegeben!

* * *

Anmerkungen

1. Siehe Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral ... [b]

2. Siehe Friedrich Engels, Die Kommunisten und Karl Heinzen. [c]

A. Die Helden des teutschen Kommunismus, Bern 1848, S. 21.

B. Ebenda, S. 22.

3. „die Lacher“.

4. Siehe die oben genannten Artikel von Marx [d] und Engels. [e]

C. loc. cit., S. 22.

5. ohne es zu wissen.

D. Pycckoe Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Dezember 1893, Abt. II, S. 189.

E. In diesem Briefentwurf, der ohne endgültige Überarbeitung blieb, wandte sich Marx nicht an Herrn Michailowski, sondern an die Redaktion der Otjetschestwennyje Sapiski. [f]

6. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

F. Siehe den Aufsatz «Карл Маркс перед судом г. Ю. Жуковского» [Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn Schukowski – der Autor dieses Aufsatzes war Michailowski]; «Отеч. Зап.» [Otjetschestwennyje Sapiski], Oktober 1877. „Im sechsten Kapitel des Kapitals gibt es einen Paragraphen, der folgende Überschrift trägt: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation [in allen neueren Ausgaben ist dies das vierundzwanzigste Kapitel. [g]] Hier wollte Marx einen kurzen Abriss des kapitalistischen Produktionsprozesses geben, gab aber etwas bedeutend Größeres – eine ganze geschichtsphilosophische Theorie.“ Das ist, wir wiederholen es, völliger Unsinn: Marx’ Geschichtsphilosophie ist in dem Herrn Michailowski unverständlichen Vorwort zu dem Buche „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ in Form „einiger verallgemeinernder, aufs engste miteinander verknüpfter Ideen“ dargestellt. Aber das nur nebenbei. Herr Michailowski hat es fertiggebracht, Marx sogar darin nicht zu verstehen, was das „Obligatorische“ im kapitalistischen Prozess für den Westen betrifft. Er sah in der Fabrikgesetzgebung eine „Korrektur“ der fatalen Unbeugsamkeit des geschichtlichen Prozesses. Da er sich nun einmal eingebildet hatte, das „Ökonomische“ wirke, nach Marx, an und für sich, ohne Beteiligung der Menschen, blieb er auch konsequent und sah in jeder Einmischung in den Ablauf des Produktionsprozesses eine Korrektur. Nur wusste er nicht, dass diese Einmischung in jeder gegebenen Form, nach Marx, selbst ein unvermeidliches Ergebnis der bestehenden ökonomischen Verhältnisse ist. Wie soll man über Marx mit Menschen streiten, die ihn mit so bemerkenswerter Standhaftigkeit missverstehen!

7. der Meister gesagt hat.

8. Tschernyschewski.

9. Anspielung auf ein russisches Sprichwort: soviel wie jemand unbillig abspeisen.

10. „bei Ihnen der Fall“.

11. Gestalt aus Krieg und Frieden von L. N. Tolstoi.

G. Der Gesellschaftsspiegel, Bd. I [1845], S. 78. Korrespondenz aus Westfalen.

H. Ebenda, S. 96; Notizen und Nachrichten.

I. Siehe den Artikel von Heß im gleichen Band derselben umfangreichen Zeitschrift, S. 1 f. [Die gesellschaftlichen Zustände der zivilisierten Welt – ohne Verfasserangabe]. Vergleiche auch Neue Anekdota, herausgegeben von Karl Grün, Darmstadt 1845, S. 220. Im Gegensatz zu Frankreich wird der Kampf gegen den Kapitalismus in Deutschland durch die gebildete Minderheit betrieben und „der Sieg über ihn“ durch die gleiche Minderheit „gewährleistet“.

12. harten Notwendigkeit.

13. Der Gesellschaftsspiegel, Bd. II, 1845, S. 38/39.

J. N–ons gab es im damaligen Deutschland sehr viele, und zwar mannigfaltigster Richtungen. Am bemerkenswertesten waren vielleicht die konservativen. So zum Beispiel Dr. Karl Vollgraff, {ordentlicher Professor der Rechte}, der in einer Broschüre mit ungewöhnlich langem Titel (Von der über und unter ihr naturnothwendiges Maß erweiterten und herabgedrückten Concurrenz in allen Nahrungs- und Erwerbszweigen des bürgerlichen Lebens, als der nächsten Ursache des allgemeinen, alle Klassen mehr oder weniger drückenden Nothstandes in Deutschland, insonderheit des Getreidewuchers, sowie von den Mitteln zu ihrer Abstellung, Darmstadt 1848) die ökonomische Lage des „deutschen Vaterlandes“ in erstaunlich ähnlicher Weise darstellte, wie die wirtschaftliche Lage Russlands in dem Buche Essays unserer gesellschaftlichen Wirtschaft nach der Reform dargestellt wird. Auch Vollgraff stellte die Sache so dar, als habe die Entwicklung der Produktivkräfte „unter dem Einfluss der freien Konkurrenz“ schon zur relativen Verringerung der Zahl der Industriearbeiter geführt. Ausführlicher als Buhl beschreibt er den Einfluss der Arbeitslosigkeit auf den Binnenmarkt. Die Produzenten eines Industriezweiges seien zugleich die Verbraucher der Produkte anderer Zweige, da die Arbeitslosigkeit aber die Produzenten ihrer Kaufkraft beraube, verringere sich die Nachfrage, die Arbeitslosigkeit werde allgemein, und es beginne {völliger Pauperismus}. „Da aber durch die übermäßige Konkurrenz auch die Bauernschaft ruiniert wird, tritt gänzliche Geschäftsruhe ein. Der gesellschaftliche Organismus zerfällt, die physiologischen Zerfallsprozesse führen zur Bildung wilder Massen, und der Hunger ruft in diesen Massen eine Gärung hervor, vor der staatliche Gegenmaßnahmen und selbst Waffen machtlos sind.“ Im Dorfe führe die freie Konkurrenz zur Zerstückelung der bäuerlichen Bodenanteile. In keinem einzigen Bauernhof fänden die Arbeitskräfte für das ganze Jahr ausreichende Beschäftigung. „So stehen die armen Bauern in Tausenden von Dörfern, besonders in wenig fruchtbaren Landstrichen, wie in Irland, fast völlig ohne Arbeit und Beschäftigung vor ihren Türen. Keiner ist in der Lage, dem andern zu helfen, denn alle haben sie viel zu wenig, alle brauchen einen Verdienst, alle suchen Arbeit und finden keine.“ Vollgraff seinerseits hat eine Reihe von „Maßnahmen“ erdacht, mit denen man gegen die zerstörende Wirkung der „freien Konkurrenz“ ankämpfen sollte, wenn auch nicht im Geiste der sozialistischen Zeitschrift Der Gesellschaftsspiegel.

14. Marx/Engels, Die heilige Familie. [g]


Zuletzt aktualiziert am 20. Mai 2025