Karl Renner

Karl Marx und die Arbeiter

Zu Marx’ fünfundzwanzigstem Todestage

(März 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 6. Heft, 1 März 1908, S. 241–247.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Buchgelehrten können es nicht fassen, dass Karl Marx, der tiefe Denker, der abstrakte Logiker, der dunkle Seher, von dem ungebildeten schlichten Arbeiter erfasst werde, dass der Mann hinter dem Schraubstock in irgend einer Geistes- oder Gefühlsgemeinschaft mit Marx, dem Ueberwinder Hegels und Ricardos, stehen könne. Und die sogenannten »Praktiker« der Politik, die den Strom der Geschichte zu beherrschen meinen, wenn sie die Schaumblasen seiner Wellen zu erhaschen suchen, halten wohl dafür, dass die Arbeiter mit Marx zu durchdringen nicht bloss undurchführbar, sondern sogar nachteilig sei, weil das Marxsche System sie zu weit von der drängenden Aufgabe des Tages abführe. Buchgelehrte und Praktiker dieser Art wissen nicht, was Karl Marx dem Arbeiter ist, was er dem Arbeiter sein muss.

Marx’ Schriften buchmässig zu verstehen ist schwer, wie aus Naturstoffen chemisch Eiweiss oder gar Brot zu erzeugen. Das einmal erzeugte Brot zu essen ist leicht für jeden, der den Magen dazu hat. Marx’ Grundlehren zu erfassen ist für den Arbeiter nicht Bemühung, sondern Erlösung seines Geistes von der Qual des Zweifels und des seelischen Hungers.

Die Menschen beruhigen sich leicht bei dem Irrtum wie bei der Wahrheit, soweit Irrtum oder Wahrheit nur mit ihrem äusseren Dasein übereinstimmen. Milliarden Bauern war durch Jahrhunderte wohl bei dem Glauben, dass jeder Blitz eigens aus der Hand eines mächtigen Gottes herabgeschickt werde auf diese sündige Menschheit. Der Hausvater, der über Söhne und Töchter, Knechte und Mägde, Esel und Eselinnen die Peitsche schwang, sollte irgend einen Zweifel an dem blitzschwingenden Himmelvater hegen ? Aristoteles findet, dass der Mensch die Götter nach seinem Ebenbilde sich erschaffe. Seine Bemerkung ist zu eng: Nicht nur die himmlischen, sondern auch die irdischen Herren und Herrlichkeiten erschaffen sie so. Der Hausvater, der Landesvater und der Himmelvater sind drei Sprossen an derselben Leiter, die ins Paradies führt. Das ganze Weltbild, das sich die Volksmassen zu einer Zeit machen, ist bloss das erweiterte Bild ihres engen wirtschaftlichen Daseins mit allen Freuden und Aengsten, mit aller Furcht und Hoffnung. Und solange sie in der gleichen Lage verharren, haben sie keinen Anlass, an der Wirklichkeit und Richtigkeit dieses Weltbildes zu zweifeln.

Der Arbeiter, der mit mir sein Verhältnis zu Marx nun prüfen will, denke zurück an seinen Vater, an seine Grossväter und Ahnen, soweit er von ihnen gehört – er wird auf Männer stossen, die nicht Fabriksarbeiter oder Gehilfen, nicht Proletarier waren, sondern Hausväter: Bauern, Handwerker oder Kaufleute, die im eigenen Hause sassen und dort über Kinder und Helfer ein strenges Regime führten. Man sagte zu Vater und Mutter nicht »Du«, denn sie waren Obrigkeiten, die höchsten nebst Gott und dem Kaiser. Man arbeitete im eigenen Hause, auf eigenem Grunde, für sich und seine Familie. Pflanzte der Hausvater einen Birnbaum beim Brunnen im Hof, so dachte er an den Enkel, der in dessen Schatten sitzen und von diesem Baume essen sollte. Man war Sohn des Hauses, um selbst Hausvater zu werden und Söhne zu zeugen. Was man als Sohn arbeitete und schuf, tat man. weil man es als Hausvater selbst nutzen konnte. Alles hatte bestimmten Sinn und Zweck, jedermanns Bestimmung war klar. Und das Verzweiflungswort »Ich weiss nicht, wozu ich auf der Welt bin!« war selten gehört und galt als frevelhaft. Nichts schien selbstverständlicher, als – woher wir kommen und wohin wir gehen. »Wir sind gekommen vom Vater« – einerlei, ob man den himmlischen oder irdischen vor Augen hat – »werden Väter und kehren wieder heim zum Vater, von wannen wir gekommen sind« – sowohl in das Elterngrab wie in das Paradies. Und auf diesem Lebenswege genoss der Mensch manches Glück, erlitt er manches Leid, aber er lebte, lebte für sich, sein eigenes Leben, in einem Verbände lieber und teurer Menschen, er war Mensch.

Aber da kam in die Welt magisches Erdbeben und warf unsere Ahnen und Grossväter von Haus und Hof auf die Strasse. Ein Mensch auf der Strasse – das ist sinnlos! Kann er denn vom Strassenstaube leben? Wie soll er auf dem Schotterhaufen den Hausvater spielen? Ist das ein Haus? Und wenn er hier im Strassengraben verstirbt, wie findet er zu seinem Vater heim ins Grabt Die Proletarisierung machte mit einemmal alles sinnlos, was durch Jahrtausende einen falschen, aber doch einen guten Sinn gehabt hatte. Ein Mensch, der auf der Strasse irrt, woher kommt er? wohin geht er? Niemand weiss es, ja er selbst nicht. Wer seine Selbstbestimmung, ja seine objektive Bestimmtheit verloren hat, ist kein Mensch mehr, er ist eher ein Stein des Anstosses, ein Aergernis. Und Tausende haben sich im Strassengraben die Frage gestellt: Wozu bin ich auf der Welt? und haben sie mit praktischer Selbstverneinung beantwortet.

Von der Strasse las den Proletarier der Kapitalist auf und gab in der Fabrik seinem Leben wieder eine Bestimmung: »Arbeite für mich!« Nun stand es mit ihm schlechter als vorher mit dem Bestimmungslosen: Nicht für sich selbst arbeiten, das, was man erzeugt, das Werk der Hände, nicht selbst besitzen, noch seinen Leibeserben hinterlassen, sondern ganz dem anderen, dem Fremden ausliefern, das war wider alle hergebrachte Ordnung, das hiess seine eigene Persönlichkeit auslöschen, sich selbst zum Mittel, zum Werkzeug eines anderen, noch dazu Feindseligen machen. Der schmale Lohn für eine endlose Arbeitszeit reichte eben noch hin, Muskel und Nerven zu erhalten, nicht aber dem Leben irgend eine Freude zu erkaufen. Er ist kein Familienlohn – auch heute noch nicht! – er gestattet nicht, ein Weib zu erhalten und Kinder für sich aufzuziehen.

So blieb dem Proletarier anfangs nur eine Freude, die Arbeit. Der technische und physiologische Prozess der Arbeit erquickt ja unter normalen Umständen den Verstand und den Körper. Und in jenen Zeiten war die Arbeit eine mühsam erlernte, hohe Kunst des Individuums und also Macht gegenüber dem Herrn. Anschaulich hat Marx geschildert, wie der junge Kapitalist den Künstlerstolz der Arbeiter brach: er, der über ganze Arbeitertrupps verfügte, zerlegte jede Arbeit durch die sogenannte Arbeitsteilung in einfache, immer gleiche Hand- und Leibesbewegungen. Durch die ursprüngliche Proletarisierung hatte die Entmenschung sozial begonnen, nun wurde sie technisch fortgeführt: der Arbeitende ist in der Manufaktur nur mehr ein Motor, eine Maschine. Der einzelne erzeugt nun überhaupt nichts mehr ganz, er sieht sein Werk nicht mehr und was er als einzelner vollbringt, ist nichts anderes als groteske, verstandlose Leibesbewegung. Für ihn selbst sinnlos ist also das letzte, was ihm geblieben – seine Arbeit.

Sollte noch eine tiefere Demütigung des Menschen denkbar sein, als dass er für sich selbst etwas zu sein aufgehört hat? Aber noch ist er wenigstens für den, der sich an ihm bereichert, um so notwendiger, je mehr der sich bereichern will. Ist er schon nicht mehr Mensch, so hat er doch noch Wert als Motor, als Maschine.

Da traf ihn denn der schwerste Schlag: die Arbeitsteilung hatte aus Menschen Maschinen gemacht, nun war es dem Techniker leicht, Maschinen aus Eisen zu erfinden und die Menschen zu ersetzen! Nun regierte der König Dampf mit seinem stählernen Marschallstab, den Spinnmaschinen und Webstüblen, den Eisenhämmern und allen Verwandten. Und wie heisst es von ihnen im Sprachgebrauch ? »Die Maschine arbeitet und der Mensch bedient sie.« Nun dient der Mensch nicht mehr dem Menschen, der doch immer ein Herz im Leibe hat und wäre es von Stein. Der Mensch dient der Sache: der Kessel ruft durch den Pfiff, die Maschinen gehen an, für hundert zugleich. Sie fragen nicht und antworten nicht. Kein’ guten Morgen, kein Blick. Selbst der blutigste Tyrann hält inne oder verfährt langsamer, wenn sein Sklave ohnmächtig wird, wenn ihm offensichtlich die Sinne vergehen. Die Maschine hat ihren Takt und wehe, wenn du eine Sekunde schwankst – sie kann dich zermalmen.

Nun ist der, von dem es hiess, er sei von dem himmlischen Vater gekommen, ein Sohn Gottes, nicht bloss Diener eines Bruders, sondern Sklave eines Dinges. Und dieses Ding ist – Kapital und das Kapital ist heilig. So verkünden es rings die bürgerlichen Oekonomen.

Aber, wenn schon das Individuum nicht nur für sich sinnlos, sondern geradezu widersinnig geworden ist, vielleicht liegt die wahre Deutung des Lebens in dem Zusammensein mit den anderen? War doch in der vorhergehenden Menschheitsepoche der einzelne auch erst begreiflich geworden im Zusammenschluss der Familie, in der Gemeinde, im Staate.

Aber das Kapital zerstörte die Familie durch das Entlohnungssystem von Anfang an, es stellte sie auf den Kopf, seitdem es die Form der Maschine annahm: sie ersetzte die Arbeit des Vaters durch die der Mutter, die Arbeit der Eltern durch die der Kinder. Was der Sohn den Eltern tut, das nimmt er als Erbe nicht zurück, was der Vater schafft, fällt nicht den Kindern als Erbe, sondern dem Fabrikanten als Profit zu. Nicht selten wird der Mann der Ausbeuter seiner Frau, werden Eltern die Ausbeuter der Kinder. Was Segen war, wird zum Fluch. Im Familienverband liegt also irgend ein Sinn dieses Daseins nicht mehr.

Vielleicht also im Kreise der Nächsten? Die Ortsgemeinde hatte vordem für alle Angehörigen ein Stück ihres Seins ausgemacht. Dieselben Familien, verschwistert und verschwägert durch Generationen, bildeten die Stadt oder das Dorf, und der Nachbar ist der »Nächste«, den man nach der Bibel liebt.

Auch in der Fabrik hat jeder Arbeiter seinen Nachbar, die Fabrik sieht so aus wie eine Gemeinde von Menschen. Nur ist der Nachbar fremd: der Kapitalist holt ihn, setzt ihn her und schickt ihn fort. Von allen Strassen zieht er die Arbeitsuchenden heran – er fragt nicht nach Gemütsart und Herkunft, er fordert nur Hände. Und so ist des Herrn Wille: »Du sollst deinen Nächsten nicht kennen, sollst kein Wort mit ihm wechseln, geschweige denn mit allen deinen Mitarbeitern! Denn wisset! Ich bin der Herr, mit jedem schliesse ich einzeln Vertrag und ihr seid keine Gemeinde – bei Strafe der Strasse!«

Nun kennt der Proletarier keine Gemeinde, keine Landesvaterschaft mehr. Jeder einzelne bleibt einzeln und der Kapitalist ruft ihm zu: Ich bin dein einziger Gott!

Kein einziger aus der ganzen Legion der ökonomischen Forscher hat diesen seelischen Raub an den Proletariern, diese gänzliche Vernichtung jedes eigenen Lebensinhaltes der Proletarier so begriffen und so dargestellt wie Karl Marx, der grosse Psychologe. Weit entfernt davon, nur den »materiellen« Vorgang des Wirtschaftens zu schildern, hat er die ganze Psychologie unserer Zeit, ihren ganzen Denk-, Willensund Gefühlsinhalt dargestellt und die Leute, die das Geistige oder Sittliche an Marx vermissen, wissen wirklich nicht, was sie reden. Es gibt kein ähnliches Meisterwerk der Psychologie und der Sittenforschung wie den dritten und vierten Abschnitt des ersten Bandes des Kapital.

In die sternenlose Nacht der Massenseele fällt nun jählings ein Lichtstrom, der die Blinden sehen, die Verzweifelten hoffen, die Irrenden begreifen lehrt. Was wissen davon jene, die Bücher lesen und schreiben! Wir aber, die wir in nächtlicher Zwiesprache oder in atemlos lauschenden Versammlungen den an sich selbst und an der Welt Verzweifelnden Marxsche Lehren als Lebensinhalt übermittelt haben, die wir den Schauer der Seelenlosen, die endlich die Seele, den Inhalt des Daseins, die Wiedervereinigung mit der Welt empfingen, selbst erschauernd mitempfanden, wir wissen, was Marx dem Arbeiter ist.

Die Nächte des Proletariats sind nicht traumlos gewesen und schöne Träume von einem neuen Dasein und irdischer Glückseligkeit haben die Arbeiter erfüllt, auch bevor sie zu marxistischen Sozialdemokraten geworden. Schöne Träume – Utopien! Wünsche ohne Tat.

In den Massen hat allezeit traumhaft ein anderes Geistesleben gewoben als in den herrschenden Klassen. Dieses Geistesleben ist für ältere Zeiten beinahe unerforscht und doch existieren dafür köstliche Denkmäler. Die Geschichtsschreiber und Hofpoeten haben die Namen Karls des Grossen, Ottos des Grossen, Friedrich Barbarossas in den herrschenden Klassen lebendig erhalten – die Massen haben die Ueberlieferung von ihnen nicht bewahrt: ihre Taten waren in der Seele des Volkes nicht Grosstaten. Aber im vierten Jahrhundert nach Christo lebte in Kleinasien ein ehrwürdiger Greis, der die Armen und Kinder beschenkte – er lebt heute noch in den Massen des Volkes fort und wird zu »Nikolo« gefeiert! Die Rittersagen sind in den Massen erstorben, aber von dem Ritter, der seinen Kriegsmantel entzweihieb, selbst von dem Schuster, der Leder stahl, um den Armen Schuhe zu machen, will die Erinnerung im Volke nicht schweigen. Die Könige sucht man durch Denkmäler in dem Gedenken des Volkes zu erhalten, kaum dass sie gestorben; aber mancher Anführer von Räuberbanden, der die Grossen gezüchtigt und den Armen Gutes getan, lebt durch Generationen in den Erzählungen des Volkes fort. Ich führe diese Beispiele zum Beweise, dass das Denken der Massen zu allen Zeiten anders war als jenes der Herrschenden, dass es allezeit erfüllt war von dem Ahnen einer anderen Weitordnung, von der Idee eines wahren Gemeinwesens der Menschen, ohne Herren und Knechte, ohne Uebersättigte und Hungernde. Und diese Idee war für die Massen durch alle Zeiten der Massstab, mit dem sie geschichtliche Personen gemessen. Und so verblasst in ihren Augen der Ruhm Barbarossas vor jenem Nikolos mit Recht.

Aber Ideen und Träume enden an sich nicht in Taten und so blieben auch die herrlichen Schöpfungen der grossen Utopisten zunächst wirkungslos. Aber sie befruchten die Wissenschaft, vor allem die politische Oekonomie. Fernab von den Massen, in einer anderen Welt gleichsam, in den Stuben der Gelehrten, ballt sich die Gedankenfülle des Sozialismus von Thomas Morus bis Robert Owen zu einer unübersehbaren und ungeordneten Masse – erdenfern wie die Wolken am Firmament. Dass die Arbeiter der Zeit selbst aktiv etwas mit diesem Sozialismus zu tun hätten, der Gedanke lag den meisten Utopisten ganz fern. Noch ferner lag es ihnen zu glauben, dass die gegenwärtige bestehende Wirtschaftsweise mit dem Sozialismus Zusammenhänge. Vielmehr hielten sie diese für den absoluten, unvereinbaren Gegensatz des Sozialismus. Ihr Sozialismus war eine Welt von Engeln – der Proletarier war faktisch nicht einmal mehr Mensch; ihr Sozialismus setzte die Selbstlosigkeit der Herrschenden oder wenigstens eines Millionärs voraus, der ihn auf seinen Gütern »einführt« – die wirklichen Herrschenden, die Kapitalisten waren der menschgewordene Eigennutz: Nein, nein – mit dieser Welt hatte der Sozialismus überhaupt nichts zu tun. Die Wolken am Firmament und die durstende Erde – die Geistesschätze des Sozialismus und das Proletariat da drunten hatten miteinander nichts gemein.

Als Forscher trat Karl Marx heran an die Erde der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung und an die Ideenwelt des Sozialismus.

Anschauen das, was ist, das Wirkliche erfassen, ist die erste Aufgabe des Forschers, Als das Wirkliche der Volkswirtschaft erschienen Marx’ Vorgängern die Dinge, die »Güter«, das Kapital als Ding und als Gut. Marx sah zum erstenmal und sofort den Menschen in der Oekonomie: dass das »Ding« Baumwollgarn das Verhältnis des Kapitalisten und seines Arbeiters, des Produzenten »Baumwollspinner« und des Kaufmanns etc. einschliesst und ausdrückt, dass der niedere Preis des Garnes zugleich das Elend der Spinner und den Profit des Kapitalisten bezeichnen kann, dass mit einem Satze das wirtschaftliche Ding in Wahrheit ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen ist, ist die erste Frucht des Marxschen Denkens. Sie zu gewinnen, bedurfte es der schärfsten logischen Operationen und der exaktesten Abstraktionen – aber auch sie reichen dem bürgerlichen Oekonomen zum Beweise nicht hin.

Für den Arbeiter jedoch bedarf dieser Satz des Beweises nicht, er erlebt ihn täglich. Der Händler stellt die warmen gewirkten Hemden im Schaufenster aus und weiss von ihnen nichts, als dass sie Geld, Profit bringen sollen; der Kunde sieht sie, weiss, dass sie wärmen und im übrigen Geld kosten. Die frierende Frau, die sie gewirkt hat und nun selbst nicht kaufen kann, weil der schmale Lohn längst verzehrt ist, sieht diese Hemden mit anderen Gefühlen und Gedanken. Vor ihrer Seele steht der Wirksaal, stehen die Antreiber, steht der Kapitalist, der sie als gestrenger Herr mit geringem Lohn fortgeschickt hat, und nun liegt vor ihr leibhaftig das Produkt ihrer Arbeit, im Besitze eines dritten, ausgezeichnet mit einer hohen Preisnotierung. Die ganze technische Geschichte, aber auch die Wert- und Preisgeschichte des Dinges liest sie ihm ab, und wenn man ihr sagt, dass es einem gesellschaftlichen Verhältnis entspringt, in dem sie die Rolle der Arbeitskraft gespielt hat, wenn man ihr von Arbeit und Mehrarbeit, von Wert und Mehrwert, von Wert und Preis spricht, so sagt man ihr nichts neues, man belehrt sie in Wahrheit nicht, sondern man gibt ihren namenlosen persönlichen Erfahrungen nur den Namen, zu ihren eigenen Erlebnissen den logischen Begriff, man spricht nur das Gesetz ihres eigenen Lebens aus.

»Ja, das ist unser Leben!« Dieses Wiedererkennen ihrer selbst im Denken von Karl Marx fällt jedem auf, der vor Arbeitern Marxsche Lehre vorträgt. Es wäre sehr interessant und lohnend, an den Hauptlehren und an einzelnen der allerfeinsten Ergebnisse Marxschen Denkens aufzuzeigen, wie sich in ihnen das Massenleben, das physische und geistige, der Zeit ausdrückt, aber es würde uns von unserer heutigen Aufgabe zu weit führen.

»Ja, das ist unser Leben! Das ist der ‚völlige Verlust des Menschen‘ in uns! Ja, wir sind die Klasse, welche die Auflösung aller bisherigen Klassen und Stände bedeutet! Und also begreifen wir wohl, dass alle bisherigen Vorstellungen von Welt und Menschheit für uns sinnlos sind! Sinnlos auch unser ganzes Leben für uns selbst!«

Doch halt! Sinnlos – ja, für jeden einzelnen für sich. Aber hier setzt die Riesenkraft Marxschen Denkens ein Halt. Nicht mehr absolut sinnlos schon heute, schon in dieser Wirtschaftsordnung, auf der verdorrten, dürstenden Erde des Kapitalismus.

Seht ihr denn nicht – eure individuelle Arbeit ist nichts als eine Reihe verstandsloser grotesker Leibesbewegungen, in der Werkstatt seid ihr nichts als zufällig nebeneinander gestellte Fremde und von rechts wegen keine Gemeinde. Aber dennoch seid ihr alle insgesamt ein vielköpfiger, tausendarmiger Gesamtarbeiter, eine wahre Arbeitsgemeinde: Und aus deren Hand entspringt doch sicht-barlich das Arbeitsprodukt, der Wert! Mag das Gesetz heute noch diesem Gesamtarbeiter das Gemeinderecht versagen, nichtsdestoweniger ist er da und wirkt – er ist, er ist wirklich! Die Produktion ist aus einer individuellen eine gesellschaftliche, eine soziale, eine sozialistische geworden! Der Sozialismus ist mitten im Kapitalismus geboren, geboren in euch und durch euch.

Ja, man hat die Individualität in euch ausgelöscht, jeden individuellen Lebenswert eurem Dasein genommen – aber derselbe Kapitalismus hat in euch die Sozietät begründet, die bisher ein Traum der Gelehrten und Menschenfreunde gewesen, begründet auf dem Gebiete der Produktion. Man muss, um euch individuell auszubeuten, euch sozial organisieren wider Willen, man hat eure Blutsfamilie, eure Ortsgemeinde zerstört, um euch von allen Bedingungen zu beliebiger Ausbeutung zu befreien, aber man hat euch dafür in die Arbeitsfamilie, in die Arbeitsgemeinde hineingestellt.

Die Maschine hat man benützt, um euch individuell zu Sklaven zu machen – lässt einer für sich das Räderwerk zur Unzeit los, so wird ihn die Maschine zermalmen. Und damit ihr nur dem einen Gott dient, dem Gott Maschine = Kapital, hat man euch jedes Besitztum geraubt, euch besitzlos gemacht. Rechtlich besitzt ihr nichts als euch selbst, aber kein Ding äusser euch. Und siehe da, man hat euch doch in der Gesamtheit die Maschine in die Hand geben müssen und als Gemeinde, als Gesamtarbeiter, verfügt ihr faktisch dennoch über sie! Tatsächlich seid ihr als Gesamtheit Herren aller Maschinen der Welt, wenn ihr nur als Gemeinde denkt und handelt und ihre Herren sein wollt.

Siehe da, nun strömte auf einmal die unermessliche Gedankenfülle des Sozialismus aus den Höhen der Gelehrsamkeit als befruchtender Regen nieder auf die verdorrte durstige Erde des Proletariats. Wissenschaft und Arbeit waren vermalt und nicht im Traumland der Utopien, sondern in der alltäglichen Praxis der Fabriksarbeit.

Wer schien ein gefährlicherer Feind der Arbeiterschaft zu sein, als die Wissenschaft? Sie war es, die im Dienste des Kapitalismus Maschine um Maschine erfand, die alle Arbeitsweisen revolutionierte und immer mehr Menschen proletarisierte, immer mehr die Arbeit der Proletarier ersetzte! Und dieselbe Wissenschaft sollte nun selbst dem Proletariat gewonnen sein?

Der Proletarier, der noch geistig im bäuerlich-bürgerlichen Leben steht, verflucht sein eigenes Leben, als seine Sehnsucht steht die frühere Wirtschaftsweise vor seiner Seele. Je mehr er sich einlebt, um so mehr erfasst und bezwingt ihn die Bewunderung der Technik, um so schwerer peinigt sein Gehirn der Widerspruch: Diese Technik erspart Arbeit, aber sie erspart sie nicht nur; sie erspart Arbeit und erhöht meine Arbeitsqual. Dieses ständige Aendern der Technik – woher kommt es und wohin führt es?

So ersteht für den Arbeiter, für den die Frage: Woher und wohin? im Sinne unserer Vorfahren ungelöst und sinnlos geworden, neuerdings die Frage von den letzten Gründen und Zielen – nicht aus philosophischer Spekulation, sondern aus des Lebens Notdurft, als Lebensfrage. Und Marx gibt ihm auch hierin zum erstenmal eine Antwort. Er beschreibt nicht nur die kapitalistische Gesellschaft, wie sie ist, er gibt auch das Gesetz ihrer Entwicklung: Die fortschreitende Akkumulation von Kapitalien auf der einen, von Lohnarbeitern auf der anderen Seite; fortschreitender Kapitalismus hier – fortschreitende Sozialisierung dort. Und dieser Wandel vor sich gehend in der Wellenform zyklischer Ueberproduktion und Krise.

Das sind Lehrsätze, die theoretisch aus den Grundsätzen nur mit grossem Aufwand von Gelehrsamkeit bewiesen werden können, so schwer wie der Beweis der Umdrehung der Erde um die Sonne aus den Laufbahnen der Planeten. Dieses mathematischen Beweises bedürfen wir heute nicht mehr, wir schauen diese Bewegungen heute unmittelbar so an. Der Arbeiter, der mitten in der Oekonomie, hart an dem Dinge selbst steht, schaut dieses Ding selbst und täuscht sich nicht. Nicht weil er an sich klüger wäre als andere Menschenkinder, sondern weil er, vorerst aller überlieferten Vorstellungen und Vorurteile schmerzlich entkleidet, jedes Besitzinteresses gewaltsam entblösst, mitten hineingeworfen ist in den Strom des wirtschaftlichen Geschehens. Ausdehnung der Produktion oder Krise – für den Gelehrten Gedankenkategorien, für den Kapitalisten Profitmanöver, für den Arbeiter Ueberstunden, sehr konkrete Ueberstunden oder ebenso konkrete Arbeitslosigkeit. Das Entwicklungsgesetz des Kapitalismus ist ein Stück individueller Geschichte jedes Arbeiters, nicht Spintisiererei, als welches es dem Literaten erscheinen kann. Junge Arbeiter hören – den Schatz im Herzen – oft nur mit halben Ohren zu, wenn man diese Dinge vorträgt; aber in einem Jahrzehnt, wenn sie den Wellengang des Kapitalismus selbst erfahren haben, kommen sie selbst darauf, sie leben und wachsen in die Marxschen Gedankengänge hinein. Nichts törichter als das bürgerliche Gefasel, dass vorwiegend junge Arbeiter infolge des Leichtsinns und Temperaments der Jugend Sozialdemokraten sind. Im Gegenteil. Die Jugend fordert ihr Recht, das Streben nach der Begründung des Hausstandes mit allen seinen lieben und unliebsamen Wirkungen beherrscht sie; das erste Kind auf den Knien des Arbeiters und die bange Frage, in welche Weltordnung der Junge hineingeboren und hineinwachsen wird, haben mehr Sozialisten und Marxisten gemacht als alle jugendliche Begeisterung.

Der Arbeiter aber, der das Woher und Wohin dieser kapitalistischen Welt nach Marx begriffen hat, gewinnt die Welt wieder. Wieder gewinnt er zuerst die Freude an seiner Arbeit. Das Spiel der Maschinen, die Wunder der Technik betrachtet er nun mit neugierigen, erwartungsvollen Augen. Er sieht mit Stolz die Leistungsfähigkeit der eisernen Giganten und lächelt über die kümmerlichen Betriebsweisen der Alten; er hört auf, sich zurückzusehnen. Die staunenerregende Präzision, die strenge Zweckmässigkeit, die stramme Ordnung der Fabrik nötigen ihm Achtung ab. Er beginnt überall in der Wirtschaft und im Leben den rationellen Betrieb zu fordern! Alles modern, alles rationell auch in Gemeinde und Staat! Ueberall die wissenschaftliche Methode, auch in Schule und Amt! Keine Rücksicht auf törichte Ueberlieferungen, kein Kompromiss mit dem Rationellen! Glühende Begeisterung für Wissenschaft und Technik, glühender Reformeifer sind die unausbleiblichen Folgen der allmählichen Revolutionierung seines Gehirns.

Und wie die Maschine täglich vor seinen Augen das Unmögliche möglich macht, so erfüllt ihn der feste Glaube, dass dem Menschengeiste nichts unmöglich und dem Menschenwollen nichts unerreichbar ist.

Dennoch aber vollziehen sich alle technischen Umwälzungen auf Kosten der Arbeiterschaft und jeder neue Schlag, der ihn trifft, peitscht seinen Widerspruch auf. Nicht Schuld der Wissenschaft, sondern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist es, dass alles Heil vorläufig zum Unheil ausschlägt. Als »Gesamtarbeiter« beginnt er sich zur Wehr zu setzen und muss sich dazu im einzelnen Betrieb, in der einzelnen Branche, auf der ganzen Welt als Gesamtarbeiter organisieren und der »Arbeitsgemeinde« die rechtliche Anerkennung als Gemeinde erzwingen. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Er weiss von Marx, dass er es muss, und darum will er es doppelt, aus Instinkt und Erkenntnis. Nun ist der Sozialismus nicht bloss Gedankeninhalt des Proletariats, sondern sein lebendiger Wille. Der Sozialismus wird aus der Weltanschauung einer Klasse zur politischen Partei, zur Weltpartei der Arbeit, welche die ganze vorwärtsstrebende Menschheit führt. Und so hat, nach Marx’ Wort, der Proletarier nach dem völligen Verlust des Menschen die Menschheit wiederentdeckt und wiedergewonnen, wiedergewonnen auch die Ueberein-stimmung des gesammten Weltbildes mit dem individuellen Dasein. Eine neue Welt ist empfangen worden in dem Schosse der Geschichte und wir harren der Stunde, wo sie herrschend ins Leben tritt, grösser und schöner als alle vor ihr.

Für die schöpferische Vermählung von Wissenschaft und Arbeit, von Denken und Tun, von Forschung und politischem Kampf ist die Person Karl Marx’ ein lebendiges Vorbild, die sichtbare Verkörperung seiner eigenen Ideen. Als politischer Vorkämpfer und Flüchtling, zwischen Köln, Paris, Brüssel und London, als Agitator und Organisator der Revolution erforscht er die Grundgesetze der politischen Oekonomie. Mitten unter der Ausarbeitung des Kapital begründet und lenkt er die Internationale. Der Mann aller abendländischen Kulturen, Deutscher, Franzose und Engländer nach seinem Wissen und Können in einer Person, in allen Ländern ein Fremder und doch der Herrscher über die Geistesschätze aller Länder, verkörpert er die Internationale und führt den Krieg gegen die herrschenden Klassen aller Länder zugleich, während er in stiller Gedankenwerkstatt die geheimsten Irrgänge der bürgerlichen Weltordnung durchforscht. So wob er am sausenden Webstuhl der Zeit, das Haupt des unermesslich gewaltigen Gesamtarbeiters der Welt. Und wie sein Denken für die Proletarier aller Länder für jeden ein unvergängliches, individuelles Erlebnis geworden, so bleibt sein haarumwalltes Löwenhaupt mit jedem Zuge eingegraben in Hirn und Herz aller arbeitenden Menschen, jetzt und in allen Zeiten.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024