Karl Renner

Lokalverwaltung

(1. August 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 11. Heft, 1. August 1908 S. 488–493.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Seit mehr als einem Jahrzehnt redet man in Oesterreich von einer Reform der Verwaltung. Die Bevölkerung räsoniert über den Amtsschimmel, der langsam dahintrottet, über den verderblichen Bureaukratismus, über das schreckliche Papierregiment, das in Strömen von Tinte watet, ohne nützliche Ergebnisse zu zeitigen. In der Verurteilung unserer Staatsverwaltung ist man eins. Aber wie die Besserung anzupacken sei, darüber gibt es keinerlei einheitliche Meinung.

Die Bureaukraten selbst, die sich wiederholt in das Reformgeschrei gemischt haben, sehen die Neugestaltung beschlossen in einer Kanzleireform. Die Hohen-bruck-Kielmanseggsche Kanzleireform ist ihrer Weisheit letzter Schluss. Wenn die Akten anders rubriziert und registriert sind, dann kann die Bevölkerung zufrieden sein. Die Parlamentarier ihrerseits klagen über den überhandnehmenden Bureaukratismus und sind dabei froh, wenn sie einen Verwandten ins Amt bringen können. Unfruchtbares Geraunze auf allen Seiten – das ist das Ergebnis der bürgerlichen Kritik. Beweis dessen ist, dass das Hauptübel unserer ganzen Verwaltung gar nicht erkannt wird.
 

I. Das Hauptübel

Die ganze Einrichtung unserer Behörden geht von einem Grundsatz aus, der vor fünfzig Jahren eben noch gelten konnte, heute aber durch die wirtschaftliche und geistige Entwicklung in sein .Gegenteil verkehrt worden ist.

Der Grundsatz, von dem das Gesetz vom Jahre 1868 über die Einrichtung der politischen Verwaltungsbehörden ausgeht, springt klar aus dem ganzen Aufbau des Gesetzes hervor.

Nachdem im Jahre 1867 das Staatsgrundgesetz festgelegt hatte:

»Der Kaiser übt die Regierungsgewalt durch verantwortliche Minister und die denselben untergeordneten Beamten und Bestellten aus« (Art. 2 St.-Gr.-G.) fährt das erwähnte durchführende Gesetz im Jahre 1868 fort:

»An der Spitze der politischen Verwaltung in den Königreichen und Ländern stehen die Landeschefs.« (Statthalter, Landespräsident; § 2.)

»Jedes Land wird in politische Amtsbezirke eingeteilt.« (§ 10.)

»Die landesfürstlichen politischen Bezirksbehörden führen die Benennung Bezirkshauptmannschaften. An der Spitze einer jeden solchen Behörde steht ein Bezirkshauptmann.« (§ 11.)

»Die Ernennung der Statthalter und Landespräsidenten ... ist dem Kaiser Vorbehalten. Die Ernennung der Bezirkshauptmänner erfolgt durch den Minister des Innern. Die Besetzung der übrigen Dienstplätze ... ist dem Landeschef übertragen.« (§ 13.)

Wie klar, wie einfach! Man nimmt die Landkarte, teilt das Stück Erdoberfläche Oesterreich in Länder (rote Linien), die Länder in Amtsbezirke (blaue Linien) und setzt dann über das rotgeränderte Stück Erde einen »Landeschef«, über die blaugeränderten Stückchen einen Bezirkshauptmann – von oben herab! – ein, stellt diese zwei Herren unter das Kommando eines dritten Herrn, des Ministers des Innern, und die Verwaltungsorganisation ist fix und fertig. Man gibt jedem der drei Herren die acht Bände Mayerhofer mit ihren hunderttausend Paragraphen in die Hand und lässt sie auf das Stückchen Erde los, das da den Namen Amtsbezirk trägt.

Das System ist schreiend klar: Erstens ist mit keiner Silbe die Rede von den lebenden Menschen dieses Erdfleckens, die ja vielleicht auch etwas dreinzureden hätten, wie man sie verwaltet – es handelt sich offenbar um das Land, nicht um die Leute! Landesverwaltung – statt Volksverwaltung. Zweitens steht das System der drei Männer nicht auf den Füssen, sondern hängt am Zopf: Von oben herab werden eingesetzt der Minister, der Landeschef, der Bezirkshauptmann. Die Leute dieses Erdfleckens geht es offenbar wieder nichts an, wer sie regieren soll: Bureaukratische Verwaltung – nicht Selbstverwaltung! Und drittens kommen die Herren mit einem Paragraphenapparat, den sie der Bevölkerung aufzuzwingen haben. Nicht die Interessen dieses Erdfleckens sollen sie wahren, sondern umgekehrt, den herrschenden Willen des Staates ihm aufzwingen. Und das ist der entscheidende Punkt: Die Behörde soll herrschen, gebieten und verbieten, sie soll das Imperium ausüben über Untertanen. Derlei Arbeit aber heisst mit dem richtigen Namen Regierung. Verwaltung aber bezeichnet etwas anderes. Einen Bezirk verwalten heisst dessen eigene Interessen wahrnehmen.

Was tun die Bezirkshauptmannschaften notgedrungen? Sie wenden ihren Mayerhofer auf den Bezirk an und können glücklich sein, wenn sie damit fertig werden. Und jenes andere? Wer nimmt die eigenen Interessen des Bezirkes wahr, von denen das Gesetz, das Reichsgesetz gar nichts wissen kann? Niemand! [1] Das dritte und wichtigste Moment unserer Einrichtungen also ist, dass wir zwar eine Bezirksregierung, aber im Grunde gar keine Verwaltung haben!

Dass dem so ist, springt wieder in die Augen: Die Herrschaft übt am besten eine verantwortliche Einzelperson, und zwar ein Jurist aus. Das Dreimännersystem ist auf Herrschaft berechnet. Die Verwaltung von Interessen erfordert Orts-, Sachen-und Fachkenntnis, die sich in einem Rate vieler dem Orte entnommener Männer häuft, die mit eben diesen Interessen durch Geburt und Leben verwachsen sind.

Das Wort »Verwaltung« hat seit fünfzig Jahren eben seine Bedeutung vollständig geändert. Mit dem Wachsen der sozialpolitischen, wirtschaftlichen, ja technischen Aufgaben des Staates hat allmählich ein Wandel unserer ganzen Auffassung stattgefunden. Verwalten heisst nicht mehr, in einem Landesteil die Pharagraphen durchführen, sondern für die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bedürfnisse einer Volksgesamtheit vorsorgen. Fürsorge und nicht Kommando, Hilfe und nicht Paragraphen – das nennen wir heute Verwaltung.

Wir reden schon so lange über Verwaltung und bemerken gar nicht, dass wir überhaupt keine Verwaltung haben – äusser die halbschlächtige in den Gemeinden.

Wir sind so an unser Dreimännersvstem gewöhnt, dass wir gar nicht zu denken wagen, es könnte anders sein! Ein Amtsbezirk ist doch nicht bloss ein blauumränderter Fleck Erde, es wohnen ja doch Menschen darauf, die gefragt werden wollen, die eine Gesamtheit sind, die faktisch eine Gemeinde vorstellen! Unser Recht kenrtt nur Ortsgemeinden, wir haben ganz verlernt, dass auch Distriktsgemeinden möglich sind, wie es die alten Markgenossenschaften, die vielerlei Gauverbände gewesen. Wir merken gar nicht, dass zum Beispiel die englische Grafschaft eine grosse Territorialgemeinde ist, die ebenso ihren Rat besitzt wie das Kirchspiel.

In unserem politischen und juristischen Denken ist ein Glied ganz ausgeschaltet, die Territorialgemeinde oder der anderwärts sogenannte »höhere Kommunalverband«. Seit dem zitierten Maigesetz 1868 haben wir uns selbst daran gewöhnt, in den Bewohnern eines Territoriums bloss einen unorganisierten, unorganisierbaren Haufen von Untertanen zu sehen, für die man einen gebietenden Herrn und »Hauptmann« einsetzt. Dieser Haufe hat kein eigenes Recht und keine eigenen Interessen, sondern bloss, die Pflicht zu parieren!

Die Gemeindeidee ist bei uns um die wertvollere Hälfte amputiert! [2]

Eine wirksame Verwaltung im modernen Sinne aber lässt sich nicht durch einen von oben eingesetzten Juristen und Gebieter unorganisierter Untertanshaufen führen, sie fordert die Rechtsform der Gemeinde, der Landsgemeinde im guten alten Sinne des Schweizer Rechts! Ein anderer Inhalt der Verwaltung verlangt auch andere Formen.

Und er verlangt auch einen anderen Aufbau. Man kann ein Gut, eine Anstalt, eine Menschengemeinschaft nicht auf fünfhundert Kilometer Entfernung »verwalten«. Verwalten kann man nur an Ort und Stelle, unter anschaulicher Kenntnis der Menschen und Dinge, unter Berücksichtigung der gegebenen materiellen und geistigen Mittel.

Diese Tatsache stellt unsere ganze bisherige Auffassung auf den Kopf.

Den Befehl, zu parieren, kann ich heute auf tausend Meilen Entfernung telegraphisch geben. »Regieren« kann ich Sibirien von Petersburg, Indien von London aus. Aber ich kann von London aus in einer Kleinstadt Indiens ein Krankenhaus nicht bauen, von Petersburg aus einen Knabenhort in Irkutsk nicht organisieren.

Unverkennbar ist demnach, dass die Verwaltung im alten Sinne, als Gesetzesanwendung und Regierung, ihren Schwerpunkt in der Zentralstelle gehabt hat, dass hingegen die Verwaltung im modernen Sinne lokal sein muss; je näher am Ort, desto wirksamer, desto heilsamer, desto rascher!!

Und also darf es uns gar nicht wundern, dass die Engländer beinahe vor einem Jahrhundert schon das Wort local mit government in eine feste Verbindung gebracht haben, dass sie ihre innere Verwaltung geradezu local government nennen, noch mehr, dass sie selbst ihr zentrales Ministerium des Innern local government board, das ist Lokalverwaltungsamt, nennen, eine Zentralstelle!

Unserer politischen Praxis ist sogar der Name der Lokalverwaltung ganz fremd geblieben! Wir reden schon ein Jahrzehnt über die Verwaltungsreform und sind uns nicht einmal dessen bewusst geworden, dass aller Sinn und Inhalt der Reform nur die Schaffung einer Lokalverwaltung sein kann.

Der andere Aufbau fordert also, dass die Grundlage der Verwaltung die Lokalverwaltung sein muss, dass die bisher beliebten »Instanzen« ihre Rolle umkehren, dass die Mittelstelle (Statthalterei) und die Zentralstelle (Ministerium) blosse Hilfs-und Kontrollstellen der entscheidenden Lokalstelle zu werden haben. [3]
 

II. Die Zersplitterung unserer Lokalverwaltung

Haben wir einmal erkannt, dass jede wirtschaftlich und sozial wirksame Verwaltung heute in erster Linie Lokalverwaltung sein muss, dass sie w’eiters von der Bewohnerschaft eines Gebietes als einer Territorialgemeinde zu führen und also drittens nicht durch eine bloss juristisch gebildete Einzelperson von oben herab, sondern durch eine aus den Gebietsinsassen gewählte Körperschaft kollegial zu besorgen ist, so wird uns erst die lächerliche Zersplitterung unserer gegenwärtigen »ersten Instanzen« ganz klar.

Nach dem Maigesetz sollte der Bezirkshauptmann der Träger der Verwaltung in erster Instanz sein. Aber wie ungeeignet er war, offenbarte sich alsbald. Die späteren Verwaltungsgesetze weichen ihm im weiten Bogen aus und suchen nach Möglichkeit andere Organe, denen sie die Verwaltungsaufgaben zuweisen. Mit dem Amtsbezirk der Bezirkshauptmannschaften macht man die gleiche Erfahrung.

Ihr Territorium ist für Verwaltungsaufgaben bald zu gross, bald zu klein, und so bildet man für besondere Angelegenheiten immer besonders umrissene Sprengel, Der Staatsbürger sieht so in jedem Fall seine erste Instanz an einem anderen Ort, er muss buchstäblich von Pontius zu Pilatus laufen, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Auch dieser Umstand wird in der Kritik immer übersehen.

Allem voran geht die Spaltung der Verwaltung in die sogenannt autonome und in die landesfürstliche. Das gibt also zunächst zwei getrennte Systeme von Lokalstellen. Die autonomen Lokalstellen weisen die höchste Konfusion auf. Wir haben neben der »politischen Gemeinde« noch Katastralgemeinden, Konskriptionsgemeinden, Ortschaften mit Sonderrechten etc. – ein Chaos, das an sich eine Qual für die Verwaltung darstellt, ein Gestrüpp, über das der Amtsschimmel alle Weile stolpert. So zum Beispiel lässt sich unser gesamtes Volkszählungsmaterial mit der Steuerstatistik im Detail gar nicht vergleichen, weil jenes auf der Konskriptions-, diese auf der Steüergemeinde fusst (!!). So zeitigt diese Konfusion der Gemeindeabgrenzungen einen ganzen Rattenschwanz von Administrativprozessen und ungeklärten Vermögensverhältnissen, welche sowohl die Gemeinde als auch die landesfürstlichen Behörden auf Schritt und Tritt hemmen.

Wie sieht erst die landesfürstliche Behördenorganisation aus! Zunächst geht die Gerichts- und Verwaltungseinteilung auseinander. Derselbe Staatsbürger wird an einem Tage nach A vor Gericht, nach B zur Bezirkshauptmannschaft vorgeladen. Wie oft sich dasselbe wiederholen kann, lehrt ein Blick auf unsere Verwaltungseinteilung: Wir haben 363 Bezirkshauptmannschaften, 125 Baubezirke, 360 Sanitätsbezirke, 934 Gerichtsbezirke, 79? Dekanate, 457 Schulbezirke, 920 Steueramtsbezirke, 471 Vermessungsbezirke, 509 Finanzwachkontrollbezirke (1906). Eine Administrativkarte, welche diese verschiedenen Sprengel in verschiedenen Farben darstellen wollte, würde das Chaos unserer erstinstanzlichen Verwaltung erst offenbaren! Diese sinnlose Zersplitterung bedeutet erstens, dass ein Staatsbürger oft die ersten Instanzen in alle Windrichtungen verstreut findet, zweitens, dass eine Amtsstelle mit der anderen in der Regel per Post korrespondieren muss, wo einige Worte des persönlichen Verkehrs ausreichen würden, wenn der Mann eben da wäre.

Eine solche Zersplitterung wird bei der bureaukratischen Ordnung immer eintreten. Wenn man einen Bautechniker bestellt, muss der Baubezirk so gross gewählt werden, dass sich nach dem praktischen Bedürfnis die Anstellung rentiert, und das wechselt nach der ökonomischen Entwicklung einer Gegend. Der englische Grafschaftsrat dagegen entsendet in das Baukomitee die Sachverständigen aus seiner Mitte – Architekten, die sich zur Ruhe gesetzt haben und nun ihre Erfahrungen in den Dienst der Grafschaft stellen. Haben sie wenig zu tun, so ist das kein Schade; ist viel zu tun, so verstärkt man das Komitee. Von der ungeheuren Anpassungsfähigkeit des Selfgovernment in der Verwaltung gibt Redlichs Englische Lokalverwaltung ein anschauliches Bild.

Indessen zeigt die englische Entwicklung, dass zunächst wie bei uns die zahlreichen Spezialgesetze der Verwaltung, insbesondere die Schul-, Sanitäts- und Armengesetze je ihre besondere Gebietseinteilung zeitigten. Dieser Zersplitterung setzte man bald die Parole »Unification of areas«, »Vereinheitlichung der Gebietseinteilung«, entgegen. Und die Local government-Akte hatten nicht zum geringsten die Aufgabe, die Einheit der Lokalverwaltung, die Verschmelzung der Lokalstellen der Behörden und die Deckung der Lokalverwaltungssprengel zu bewerkstelligen. In drei Stufen: Ortsgemeinde, Distrikt und Grafschaft – bei uns etwa Gemeinde, Bezirk und Kreis – ist die Lokalverwaltung abgeschlossen. Gibt es wohl noch bei Gemeinde und Bezirk einzelne Unstimmigkeiten, so ist doch der Kreis, die Grafschaft die absolut geschlossene, selbstherrliche Lokalverwaltungsgemeinde, in deren Grenzen auch die Gerichts- und Finanzorganisation eingeschaltet ist, also gleichsam der Staat in der Lokalstelle. Die Grafschaft ist nicht grösser, als dass sie wirklich in dem obigen Sinne verwaltet werden könnte, und doch so gross, dass sie wirtschaftlich, sozial und finanziell leistungsfähig ist. Ihr Territorium entspricht annähernd unserem Kreisgerichtssprengel.

Allerdings ist die englische Grafschaft ein historisches Gebilde und nicht wie das französische Departement eine rationalistisch erdachte, abgegrenzte und ein-geführte Gebietskonfiguration. Und allerdings ist die Grafschaft seit Urzeiten nicht blosser Verwaltungssprengel, sondern communitas, Gemeinde, coramon. Und also merken wir in der englischen Rechtsentwicklung keinen jähen Sprung, wie wir ihn, dem Anscheine nach, werden machen müssen. Sehen wir indessen näher zu, so erfahren wir, dass der schematische Rationalismus Benthams und seiner Schule sehr wirksam mitgeholfen hat, die eingerostete Verwaltungsorganisation des ancien regime in England in ihrem äusseren Gerüste und in ihrem inneren Geiste ganz umzugestalten. Der Festlandsbewohner liebt es heute noch, sich an Gneists Schilderungen des englischen local government zu orientieren, die englische Grafschaft durch die Brille der deutschen historischen Rechtsschule zu sehen und also ganz falsch aufzufassen. Was Gneist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in England sah, verstand er schon falsch für seine Zeit: Die heutige Grafschaftsverwaltung aber hat mit dem Gneistschen Bilde nichts zu tun. In den Jahren 1830 bis 1890 etwa haben die Engländer ihre Lokalverwaltung ebenso fundamental, ebenso rationalistisch umgewälzt wie die Franzosen von 1789 bis 1814. Nur galt dem Engländer als »Ratio« die Selbstregierung der Bevölkerung eines Gebietes, dem Franzosen aus der Schule Napoleons I. die bureaukratisch-zentralistische Herrschaft. Keinem der beiden Völker war es also erspart, eine moderne Lokalverwaltung nach den Grundsätzen der Zweckmässigkeit sich zu schaffen, zum Trotz ihrer eigenen Geschichte, zum Vorteile der bürgerlichen Klassen.

Bei uns in Oesterreich sind alle geschichtlichen Vorstufen der Selbstregierung untergegangen unter dem verheerenden Tritt des Feudalismus und Absolutismus. Der »Kreis« des altdeutschen Rechtes, die Markgenossenschaft, ist nicht wfie in der Schweiz organisch hineingewachsen in einen modernen demokratischen Kanton oder in ein feudalplutokratisches ungarisches Komitat, er ist selbst aus der Volkserinnerung bis auf einzelne Ausnahmen [4] geschwunden. Und dennoch – Notwendigkeiten lassen sich nicht verleugnen – besteht er gleichsam anonym fort und ist er unsere eigentlich geschichtliche Sprengeiform. Aelter als unsere 1868 geschaffenen Amtsbezirke der Bezirkshauptmannschaften, als unsere Bezirksgerichtssprengel, älter als viele der heutigen Kronlandsgrenzen sind unsere Kreis(Landes)-gerichtssprengel. Sie gehen zurück auf die Theresianische Organisation der Verwaltung, der ersten sozialen Verwaltung in Oesterreich. Diesen Ehrentitel verdient sie, da sie nicht zum geringsten den Schutz des bäuerlichen Untertans gegen die Willkür des adeligen Grundherrn zur Aufgabe hatte. Den Kreisgerichtssprengeln schliessen sich heute die Sprengel der Finanzbezirksdirektionen annähernd an. In der Justiz- und Finanzverwaltung also ist uns der Kreis überliefert geblieben.

Gestatten wir uns nur für einen Augenblick die Annahme, wir hätten im Jahre 1848 im Zuge der dauernd siegreichen Revolution – Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte – und im Geiste des genialen Grafen Stadion die Kreise mit Volksvertretungen versehen und die Kreisräte mit der inneren Verwaltung betraut. Sofort wird uns klar, dass die Kreisvertretungen die Lokalverwaltung nicht in ein Netz widerstreitender Sprengeigrenzen und in eine Unmasse bureaukratischer Amtsstellen hätten verstricken lassen. Sie hätten die politische, ökonomische und soziale Verwaltung erster Instanz im Kreise zusammengefasst, nach der Wichtigkeit der Agenden zwischen Gemeinde, Bezirk und Kreis aufgeteilt; sie hätten sich nicht beruhigt, bevor nicht ihr eigener Verwaltungssprengel mit dem Sprengel des Kreisoder Landesgerichtes und der Finanzbezirksdirektion, mit dem Sprengel des Staatsbauamtes, mit den Amtsstellen höherer Gewerbeverwaltung, der Gewerbeförderung etc. zusammengelegt worden wäre. Durchblättert man unsere Verwaltungsstatistik, so findet man in jedem Kreisgebiet eine Reihe von Mittelschulen, von Handels-, Gewerbe- und Ackerbauschulen, von Sanitäts- und Humanitätsanstalten. Diese Einrichtungen wären sicherlich unter ihre Einflusssphäre gelangt, unbeschadet des Aufsichtsrechtes der Zentrale. Wir besässen also mutmasslich Lokalverwaltungsämter, welche alle Zweige der staatlichen Verwaltung zu führen berufen und imstande wären, gross genug, um finanziell und personell leistungsfähig zu sein, und dennoch nicht so gross (wie die meisten Kronländer), dass sie eines bureaukratischen Herrschaftsapparates bedurft hätten, ohne unmittelbar und persönlich verwalten zu können, was der unersetzbare Vorzug der Lokalverwaltung bleibt.

Soll das Versäumte nicht nachzuholen sein? Die schrittweise englische Reform beweist das Gegenteil! Ist dieses Nachholen etwa entbehrlich? Nein! Tausendmal nein! Alle Verwaltung der Zukunft kann, wenn sie ihren Namen verdienen soll, nur soziale und Selbstverwaltung sein. Zur sozialen Verwaltung taugt die Bureaukratie nichts, also auch ein blosser Kreishauptmann im Sinne der Koerberschen Entwürfe nicht. Für eine wirksame soziale Selbstverwaltung sind die Gemeinde- und Bezirksvertretungen zu schwache Körper. Ihre Steuerkräfte, die Summe der persönlichen Begabungen, der Lebensschulung, ist in dem engen Kreise zu klein. Wir brauchen die höheren Kommunalkörper, die doch noch lokale Körperschaften sein können. Und nichts ist für dieses vom Anfang an gegebene Bedürfnis beweiskräftiger als die Tatsache, dass sowohl die Kremsierer Verfassung als auch das Reichsgemeindegesetz vom Jahre 1862 Kreisvertretungen vorschreiben. Nicht ein Novum also ist der Kreis, sondern eine längst gemachte, bisher aber nie erfüllte Verheissung. Es gilt zu beenden, was mehr als ein halbes Jahrhundert gefordert hat. Ohne Kreis gibt es keine Lokalverwaltung, ohne wirkliche Lokalverwaltung bleibt jede Verwaltungsreform Stümperei, bleibt die Demokratie, auf die Gesetzgebung beschränkt, eine hinkende Demokratie.

Mit keinem Worte habe ich der nationalen Bedeutung des Kreises gedacht. Wie sehr sie in die Augen fällt, verdunkelt sie doch einen tieferen Zusammenhang. Administrative und soziale Momente sind es vor allem, welche eine Reichskreisordnung fordern. Es wäre falsch, in ihr nur oder vorwiegend eine nationale Panazee zu sehen, da sie doch faktisch ein Erheischnis unserer Verwaltungsnot ist. Die Verkennung dieses Zusammenhanges gefährdet die Reform selbst: Ein bloss nationales Auskunftsmittel – so denken die Deutschbürgerlichen den Kreis – würde ihn nicht nur à la Koerber bureaukratisch verbilden, sondern auch dauernd verhindern, W'eil es den Widerspruch und das Veto der anderen Nation herausfordert. Die Notwendigkeit der Demokratisierung und Sozialisierung unserer Verwaltung aber muss sich durchsetzen und kann keinen Widerspruch bei irgend welcher Volkspartei finden. Der Kreisidee ist darum nichts verderblicher als der Schwindel, den Deutschbürgerliche mit der »Abgrenzung« treiben. Nicht künstlich ausgeheckte Grenzen mit neuen von oben hereingesetzten Beamten, sondern die historischen, natürlichen Volkszusammenhänge im Gebiet, die natürlichen Territorialgemeinden müssen unser Leitstern sein. Nur so wird die Kreisreform uns aus der bureaukratischen Verwaltungsnot heraus einer demokratischen Lokalverwaltung entgegenführen!

* * *

Fussnote

1. Dass die sogenannten Bezirksvertretungen in einzelnen Kronländern armselige Auskunftsmittel sind, wird der Leser des folgenden bald inne werden.

2. Die Bezirksvertretungen sind nur ein Zerrbild einer wirklichen Bezirksgemeinde.

3. Näheres darüber siehe Kampf der Nationen, Seite 93 bis 144.

4. In Niederösterreich die vier Landesviertel, in Oberösterreich Traun-, Mühl- und Innviertel etc.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024