Karl Renner

Die „Unfruchtbarkeit“ des Volkshauses

(1. November 1909)


Der Kampf, Jg. 3 Heft 2, 1. November 1909, S. 54–59.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Als vor zwanzig Jahren die von der Polizei beargwöhnten und verfolgten Vertrauensmänner der österreichischen Arbeiterschaft in dem stillen, einsamen Gebirgsort Hainfeld zur Winterszeit zusammenkamen, um für das Proletariat, das, von Ausnahmszustand und Polizeilockspitzeln nach allen Richtungen auseinandergetrieben und irregeführt, rechts in das Lager des christlichen und Staatssozialismus, links in die Reihen des Anarchismus abzuirren drohte, das einigende Banner aufzurichten, damals haben jene Männer die Fahne des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes vor allen anderen Zielen erhoben. Diese Fahne hat auch erfüllt, was jene gehofft haben: In seltener Einmütigkeit, in imposanter Einheit hat sich das österreichische Proletariat zusammengeschlossen und Taten unter diesem Banner vollbracht, die in die Weltgeschichte eingegangen sind.

Und dies alles, obwohl die Genossen von Hainfeld so frei waren von jedem Parlamentsoptimismus, dass sie selbst der Wahlrechtsforderung den Zusatz beifügten: „ohne sich über den Wert des Parlamentarismus zu täuschen“. Von allem Anbeginn an hat kein Sozialdemokrat im Wahlrecht das Heilmittel für alle Schäden der Zeit, im Volkshaus des allgemeinen Wahlrechts den Retter aus allen Nöten gesehen; jeder wusste, dass das angestrebte Parlament die bürgerliche Klassenherrschaft erst rein darstellen kann, allerdings unter der wachsamen und wachsenden Kontrolle der besitzlosen Klassen, die als künftige Erben an einem Tische neben den augenblicklichen Machthabern beraten und vor allem die immune parlamentarische Tribüne dem sozialistischen Worte erringen und sichern sollten. Wer die Früchte unseres bisherigen Parlamentierens mit jenen bescheidenen Hoffnungen der Männer von Hainfeld vergleicht, muss zugeben, dass der Wahlrechtskampf und unsere parlamentarische Arbeit mehr gebracht hat, als jene erwarteten. Das Parlament war uns nicht nur Tribüne, das Proletariat hat dort ununterbrochen Macht und Einfluss geübt, nicht wenig Vorteile errungen und noch mehr Schäden verhindert, es hat den umkreisenden Ring seiner Gegner gesprengt und die offene Anerkennung seiner Macht und seiner politischen Einsicht ertrotzt.

Uns hat das allgemeine Wahlrecht gehalten, was wir uns von ihm versprochen haben. Nicht so den bürgerlichen Klassen und dem Staate Oesterreich, was sich die Bureaukratie, was sich die Gessmann, Kramarsch, Schusterschitz und die anderen versprachen, die zum Schluss das Wahlrecht über sich ergehen liessen, nicht so den zahlreichen Indifferenten aller Klassen, die sich Wunder welche Früchte für sich selbst erhofften. Alle diese sind enttäuscht, jeder auf andere Weise, und das mühsam überwundene Widerstreben gegen das demokratische Wahlrecht wird wieder laut. Allgemein hört man den Vorwurf: Das neue Volkshaus ist unfruchtbar. Nicht nur die zweimal wiederholte Obstruktion, die zwar nicht sieghaft war, die aber Erfolg hatte, weil die Regierung und die bürgerlichen Parteien vor ihr davonliefen, die zweimalige Schliessung des Parlaments sind nicht die einzigen Gründe, die man für die Unfruchtbarkeit des Parlaments anführt. Man weist auch auf die endlosen Debatten und die geringe Zahl der Beschlüsse hin, man findet das Niveau der Verhandlungen zu tief und ihren Gang zu schleppend, den Ton zu niedrig, den ganzen Apparat zu umständlich und zu teuer, den Einfluss des Parlaments auf die Staatsverwaltung eher korrumpierend als reinigend: kurz, alle Nachteile sieht man im Volkshaus vereinigt.

Wer hätte Lust, eine Lanze für den bürgerlichen Parlamentarismus zu brechen? Wir haben keine Ursache, etwas zu beschönigen. Das österreichische Proletariat hat das unsterbliche Verdienst, den Völkern Oesterreichs die Möglichkeit einer vollen Vertretung erkämpft zu haben. Die Entscheidung über wirkliche Vertretung ist in die Hände aller vierundzwanzig Jahre alten Männer gelegt worden. Fünf Sechstel derselben haben sich für bürgerliche Parteien entschieden, die bürgerlichen Parteien haben das Parlament zu dem gemacht, was es heute ist! Sie haben es zu verantworten, wenn die Völker Oesterreichs, wenn der Staat wirklich um eine Hoffnung ärmer geworden sein sollten! Wir haben mit aller Anstrengung und mit schweren Opfern für den reinen Schild des Volkshauses, für seine Macht, für seine Arbeitsfähigkeit gekämpft, wir können mit ruhigem Gewissen vor die Wählerschaft hintreten und rufen: Seht, das haben Österreichische Regierungen, das haben die bürgerlichen Parteien aus einem Volkshaus gemacht!

Nein, wir beschönigen nichts! Missbraucht haben die bürgerlichen Parteien die ihnen vom Volkswahlrecht eingeräumte Macht, um sich selbst der Regierungskrippe nahezudrängen, missbraucht, um einzelnen Persönlichkeiten Ehren und materielle Vorteile zuzuschanzen, missbraucht, um das, was sie durch gesetzgeberischen Beschluss zu erarbeiten nicht Talent und Geduld hatten, gewalttätig durch Störung der Arbeit zu erpressen, miss-braucht haben zahlreiche Einzelne (von Sternberg bis Breiter) die parlamentarische Tribüne, um ihrer Person, ihren privaten Affären, ihrer Eitelkeit zu dienen. Zahlreiche Schäden des Volkshauses gehen auf solchen Missbrauch zurück. Wir dürfen sie nicht verschweigen, wir müssen im Gegenteil den Missbrauch des Volksmandats aufzeigen und die Wählerschaften unterweisen, die Missbraucher zur Verantwortung ziehen. Nichts wäre unkluger von uns als ein kindischer Kultus des sogenannten Volkshauses. Was wir gefordert und erkämpft, was wir zu vertreten haben, ist das Recht des Volkes, zu wählen. Hat es schlecht gewählt, so kann und soll es besser wählen. Den falschen Gebrauch, den Missbrauch des Wahlrechts haben wir nicht zu verantworten, sondern vor der Wählerschaft zur Verantwortung zu ziehen. Das Haus genügt euch nicht? Uns noch weniger – wohlan! Wählet ein besseres! Es liegt in eurer Hand.

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Wenn wir dennoch gewisse Anklagen gegen das Parlament abwehren, so wollen wir die Schuldigen nicht entlasten, sondern feststellen. Sowohl Wähler als Gewählte, sowohl jene, welche ihr Mandat missverstehen oder missbrauchen, sind allzu geneigt, die Schuld von sich selbst auf die Art des Wahlrechts abzuwälzen. Und dagegen wehren wir uns. Nicht das bestehende sogenannte Volkshaus am Franzensring, sondern das wertvolle und wahrhafte Volksrecht zu wählen verteidigen wir, wenn wir gewisse Anklagen gegen das Parlament zurückweisen.

Diejenigen, die das Parlament als Institution unfruchtbar und leistungsunfähig nennen, haben wohl schon vergessen, dass es grosse Gesetzgebungswerke in sehr kurzer Zeit klaglos bewältigt hat, so den ungarischen Ausgleich, so zweimal das Staatsbudget. Was die Schwerfälligkeit des Hauses betrifft, sei zunächst festgestellt, dass nicht durch unsere Schuld das Haus wirklich zu gross ist. Wir haben bei der Schöpfung des Wahlrechts wiederholt gewarnt, aber der unersättliche Mandatshunger der bürgerlichen Parteien hat die Abgeordnetenzahl immer noch mehr in die Höhe getrieben. Dann aber, seit dem Bestand des Parlaments, wird das Haus schwer belastet durch die disziplinlose Grossmannssucht der bürgerlichen Führer, deren jeder ein eigenes Parteilein für sich zu führen ambitioniert und sich einer grossen Fraktion nicht einordnen mag. Die zum Teil sinnlose Zersplitterung der bürgerlichen Parteien ist schweres Hemmnis der Arbeit. Auch darin bildet der geschlossene Block der Sozialdemokratie eine völlige Ausnahme. Die geradezu lächerliche Anarchie der deutschfreiheitlichen und der tschechischen bürgerlichen Parteien muss vor der Wählerschaft aufgezeigt werden, denn sie trägt die Hauptschuld an der parlamentarischen Vielrednerei. Während in anderen Parlamenten ein Mann für eine ganze Seite des Hauses spricht, drängt sich bei uns immer noch ein Fraktiönchenhaupt zum Worte. Da hat noch immer ein Stransky (Asch) oder Wolf, ein Fresl seinen besonderen Kren daraufzugeben.

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Dieser Mangel an Disziplin bei den bürgerlichen Parteien fällt doppelt ins Gewicht, da das Parlament an sich nicht eine einfache Volksvertretung ist wie etwa das französische oder italienische. Und damit kommen wir auf die Kardinalschwierigkeit des österreichischen Parlaments, welche beharrlich von den übelwollenden Kritikern übersehen oder verschwiegen wird.

Fast alle anderen Parlamente der Welt haben eine einfache klare Funktion: Sie sind das höchste Ausdrucksmittel des Willens einer Nation. Die englische Nation sieht in ihrem Unterhaus, die französische in ihrer zweiten Kammer den Träger ihrer staatlichen Existenz, durch den die eine und unteilbare Nation mit allen anderen Nationen des Erdballs spricht, durch den sie ihr eigenes Schicksal in der Welt bestimmt, durch den sie auch ihre eigenen inneren Angelegenheiten regelt, ohne fremden Einspruch zu dulden.

Sieht man diese erste, diese Kardinalfunktion eines Parlaments, so muss man gestehen : Keine Nation Oesterreichs hat ein Parlament, in dem sie ihre inneren Angelegenheiten ohne fremden Einspruch selbst regelt, in dem sie als gesonderter Körper zu anderen Nationen spricht.

Wenn sonstwo Nationen miteinander verhandeln, so tun sie dies durch ihre eigene Regierung und von Regierung zu Regierung. Es bleibt ihnen vorbehalten, ob sie auf Kongressen sich mit anderen Nationen zusammensetzen wollen oder nicht, es kann ohne ihre Einwilligung über sie gar nicht verhandelt werden. Beschlüsse gemeinsamer Kongresse binden an sich noch nicht, die Vertreter nehmen sie erst ad referendum und die Nationen ratifizieren sie hinterher oder sie ratifizieren sie nicht. Jede Nation behält sich vor, Beschlüsse zu nullifizieren, behält sich das Recht des Widerstandes, selbst des Krieges vor.

Nun hat zwar keine der österreichischen Nationen ein Parlament, aber acht Nationen haben nur ein Parlament miteinander. Dieses eine Parlament muss für jede der acht Nationen die obenerwähnten Kardinalfunktionen erfüllen. Zugleich aber darf es dies nicht in gewissen Beziehungen. Da jede Nation auf ihrem Eigenwillen beharrt, sieht sie in dem Parlament gewissermassen nur einen Kongress von Nationen, dessen Beschlüssen sie sich nicht bedingungslos unterwirft. Wie oft wurde im Parlament vereinbart und beschlossen, was hinterher in Prag nicht ratifiziert wurde, wie oft hat diese oder jene Nation den „Kongress nicht beschickt“ (Abstinenzpolitik), wie oft das Recht des Widerstandes durch Obstruktion bewährt! Wer schärfer zusieht und juristisch zu unterscheiden gewohnt ist, wird finden, dass die „Völker“ Oesterreichs ihr Verhältnis zueinander eben „völkerrechtlich“ auffassen, und wer das Wesen der Nation wie eines Parlaments versteht, wird sofort begreifen, dass sie dies in allen Fragen der nationalen Existenz zu tun gezwungen sind.

So erklären sich die in der österreichischen Parlamentsgeschichte immer wiederkehrenden Erscheinungen: die nationale Abstinenz, die nationale Obstruktion, der Grundsatz, dass es in nationalen Dingen kein Ueberstimmen gibt, dass alle nationalen Massregeln vorher in Konferenzen vereinbart und dann erst im Parlament beschlossen werden, die häufige Nichtratifikation vorheriger Beschlüsse durch die nationalen Wählerschaften. In all diesen Angelegenheiten kann ein österreichisches Parlament nur arbeiten wie ein internationaler Kongress, langsam, behutsam, dekorativ, wenn nicht der Krieg selbst losbrechen soll. Nur die bare Einsichtslosigkeit gewisser Politikaster in die Existenzbedingungen eines vielnationalen Parlaments kann von dem österreichischen Abgeordnetenhaus die brutale Promptheit einer Gemeinderatsstube verlangen, wo die Mehrheit Minderheiten niedertrampelt.

Wir begreifen nun, wieso der vielerfahrene Unterhändler zwischen Oesterreich und Ungarn, der Ausgleichmacher Baron Beck, mit seinem grossen diplomatischen Geschick diesen internationalen Kongress immer wieder beisammenhalten und von Erfolg zu Erfolg führen konnte, während der verhandlungsunfähige Bienerth geradezu den Krieg immer wieder losbindet. Wir begreifen nun, dass das Österreichische Parlament zu führen hundertmal schwieriger ist als jedes andere Parlament, dass es hohe diplomatische Begabung der Regierung erfordert. Es heisst also das Parlament ruinieren, wenn man einen simplen Präsidialisten hineinkommandiert. Sonstwo ist es selbstverständlich, dass man nur die höchsten Begabungen mit dem höchsten Staatsarat betraut, aber es mag auch ab und zu ein weniger Begabter und Geschulter mitlaufen. Bei uns aber kann er das kaum, ohne im Parlament den grössten Schaden zu stiften.

Offenbar wird uns so auch die Kindsköpfigkeit gewisser Nurgeschäftsordnungsleute, die da glauben, man könne dem Vorbehalt der Abstinenz, Resistenz und Nullifikation – so heissen die Dinge völkerrechtlich – den alle Nationen machen, durch Geschäftsordnungsparagraphen beikommen. Von dieser Kindsköpfigkeit hat unser Präsident Pattai erst jüngst in seiner Einleitung zur Ausgabe der Geschäftsordnungsmaterialien eine kleine Probe abgelegt.

Die grossen Schwierigkeiten des österreichischen Parlaments entspringen also aus der Tatsache, dass acht Nationen kein eigenes und nur ein gemeinsames Parlament haben, und können nur zum Teil beseitigt werden, indem dieser erkannte Zustand auch aufgehoben wird.

Jede Nation ein Parlament für sich, für ihre eigenen nationalen Angelegenheiten! Wie oft wurde das Haus noch stundenlang vor einer Abstimmung aufgehalten, weil tschechische Abgeordnete unter sich einen Streit in tschechischer Sprache ausfochten, der niemand anderen anging, den niemand versteht. Die Kämpfe der vielen deutschen, der vielen tschechischen, ja der ruthenischen Fraktionellen unter sich haben heute gar keine andere Stätte als das Parlament. Auch die Landtage sind dazu ganz ungeeignet. In welchem Landtag hätten etwa Lueger und Schönerer ihr grosses historisches Schimpfduett aufführen sollen, in welchem Landtag könnte der mährische Tschechischklerikale mit dem antiklerikalen Tschechen aus Böhmen sich auseinandersetzen?

Sehen wir indessen vom Parteienkampf innerhalb der Nation ab und beachten wir die Anforderungen der nationalen Verwaltung, wie sie beispielsweise im Budgetausschuss zu Worte kommen. In einem Nationalstaat ist das Unterrichtswesen eine einheitliche prinzipielle Sache. Bei uns lässt etwa zuerst der Tscheche seine ganzen nationalen Kulturanstalten mit allen Mängeln, mit allen Wünschen auf marschieren. Wie kann er denn kurz sein – es handelt sich doch um den geistigen, um den wissenschaftlichen und künstlerischen Gesamtbesitz einer Nation, die nirgends sonst in der Welt ihre Kulturinteressen vertreten kann. Seine beweglichen, leidenschaftlichen Worte ermüden nicht nur die Vertreter von sieben anderen Nationen, sie verdriessen sie auch, denn jedes Begehren konkurriert mit sieben anderen Nationen um den Beitrag aus dem einen Fiskus. Nach den Tschechen kommt der Pole, der Ruthene und so fort und keiner will hinter dem anderen an Eifer für seine Nation zurückstehen. Wenn die Verhandlung achtmal so lange dauert als im Ausschuss eines anderen Parlaments, so ist das noch normal! Da aber acht Nationen konkurrieren und untereinander in Streit geraten, so kann die Verhandlung noch grösseren Umfang gewinnen!

Nur die oberflächlichste nationale Voreingenommenheit kann in dem eifervollen Streben des anderen leere Zeitvergeudung sehen; das Publikum freilich bekommt durch die Zeitung nur die Nachricht von den Reden der eigenen Nation und hält die der anderen Nationen, deren Thema es nicht interessiert, für müssiges Gequatsche. Es wäre unredlich und falsch, der Wählerschaft diesen Sachverhalt zu verschweigen. Wir müssen ihn klar erkennen, wenn wir Abhilfe wollen. Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn jede Nation für ihre eigenen nationalen Kulturangelegenheiten nicht nur eine eigene Vertretung, sondern auch den eigenen Fiskus mit dem Recht der Besteuerung zugewiesen erhält. Kein Deutscher, kein Italiener besucht wohl je die tschechische Universität in Prag – wozu also sollen sie dreinreden? Jede Nation will ihr Bildungswesen für sich, wozu sollen also alle Völker erst zusammen in eine gemeinsame Kasse unbestimmt grosse Beiträge erlegen, um sich dann erst um die Anteile raufen zu müssen? Gewiss drei Viertel der parlamentarischen Verhandlungszeit werden auf die Vertretung dieser Kulturforderungen und auf den anschliessenden Wettkampf um die Plünderung des gemeinsamen Fiskus aufgebraucht. Das kann bei der gegebenen Verfassung gar nicht anders sein! Nur die Wiener Bierbankpolitik, die konkurrenzlos unermessliche Steuergelder leichtsinnig verschwenden darf, begreift nicht, warum man nicht durch einen Geschäftsordnungsparagraphen das Kulturstreben von sieben Nationen hausknechtsmässig regalieren kann.

Der Zeitverbrauch des Parlaments wäre sofort wohl um die Hälfte verringert, wenn die nationale Autonomie jeder Nation für ihre Kulturangelegenheiten ein eigenes Parlament, die eigene Besteuerung, den eigenen Fiskus und die eigene Verwaltung einräumte. Wir müssen zunächst einmal den Mut haben, uns unsere Einrichtungen anders zu denken – dann werden wir wohl den Entschluss aufbringen, sie auch anders zu gestalten! Die gedankenlosen oder interessierten Nachbeter der Kronlandsautonomie werden natürlich meinen: Weisen wir diese Angelegenheiten den Landtagen zu! Man hat es nicht mehr notwendig, tote Hunde noch zu erschlagen – die Landtage sind tot, und zwar aus denselben Gründen, aus denen der Reichsrat lahm geworden ist: Auch in den Landtagen ist eine Nation der anderen im Weg, auch dort besteht diese fatale Fiskusgemeinschaft und dort wird die feindselige Konkurrenz zweier Nationen vor dem tödlichen Zusammenstoss nicht durch das Dazwischentreten von sechs anderen neutralen Nationen gehemmt. Zudem ist diese Kompetenz gerade in Schulsachen sinnlos: Eine tschechische Universität in Mähren ist keineswegs bloss eine Sache der Mährer, sondern ein Kulturinstitut der ganzen tschechischen Nation, ebenso wie eine deutsche Universität in Salzburg sicherlich auch andere Leute angeht als die Bauernmehrheit des Ländchens. Keine Angelegenheit ist national von solcher Bedeutung wie die Volksschule. Schon heute ist für uns Deutsche in Oesterreich unerträglich, dass unsere Volksschule nicht autonom, das heisst von der Nation verwaltet wird, sondern von allen möglichen Faktoren, die die Herrschaft über die Schule an sich gerissen. Zum Teil herrscht über sie der Unterrichtsminister, der heute ein Deutscher ist, morgen ein Tscheche, übermorgen ein Pole sein kann. Zum anderen und grösseren Teil ist die Volksschule sehr verschiedenen Landesherren preisgegeben, in einigen Kronländern steht sie unter der Oberhoheit andersnationaler Landtagsmehrheiten, in den meisten aber unter dem brutalen Regiment klerikaler Cliquen. Wir haben, im spezifischen Sinn gesprochen, keine deutschen Lehrer in Oesterreich, sondern nur böhmische, niederösterreichische, tirolische u. s. w. Lehrer, deren Erziehung, Bildungsgrad, deren Geist und Weltanschauung ungeheuer voneinander abweichen. Es ist die höchste Zeit, dass sich die deutsche Lehrerschaft des Gedankens der nationalen Schulautonomie bemächtigt und selbst trachtet, sowohl der Oberhoheit einer mehr weniger westöstlichen k. k. Regierung wie der Fuchtel ignoranter und anmassender Landtagscliquen zu entrinnen und unter den Schutz der ganzen Nation gestellt zu werden.

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Wir haben keine Ursache, dem Parlament die Kritik zu ersparen, weder den herrschenden Parteien noch den rechtlichen Grundlagen des Volkshauses. Je gründlicher wir die Kritik üben, desto klarer wird uns, dass als das Uebel des Parlaments nicht „Unfruchtbarkeit“ genannt werden kann. Gerade das Gegenteil ist richtig: Nie hat Oesterreich ein Parlament besessen, das alle Probleme der Völker so vollständig und so deutlich dargestellt hätte! Und gerade das ist die erste Aufgabe eines Parlaments. Weil die Not des Landes so gross ist, weil bisher so viel versäumt und verschlampt, weil die geltende Verfassung für acht Nationen ganz unzulänglich ist, darum stürmt die überreiche Fülle ungelöster Probleme so mächtig auf das Haus ein, dass es zusammenbrechen muss, wenn nicht eine ausserordentliche Kraft der Führung es hält und leitet, bis es die Autonomie der Nationen geschaffen und das allerschwierigste Gesetzgebungswerk vollbracht hat. Jedermann würde darüber lachen, wenn ein ungeschulter Dilettant ein Instrument mit fünf Oktaven wie das Klavier zu meistern versuchte. Aber das Parlament von acht Nationen in seiner schwersten Situation zu führen, darf sich ein korrekter Bureaukrat unterwinden, weil er von seinem Herrn in die I. Rangklasse versetzt wurde! Ein so schwieriges Instrument mit nichts anderem als einer Geschäftsordnungsreform – die ja im übrigen auch notwendig ist – regalieren zu wollen, heisst wahrlich nichts anderes, als ein Klavier mit dem Abstauber stimmen zu wollen, damit es rein klinge. In der Parlamentsmisere offenbart sich unser Verfassungs- und Regierungselend. Mit dieser Erkenntnis müssen wir die Massen erfüllen und sie werden mit derselben Begeisterung, mit der sie uns in den ersten Kampf folgten, auch den zweiten führen: den Kampf um die nationale Autonomie!


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024