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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, Nr. 24, 20. August 1913.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 586–599.
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Ein frischer, kräftiger Wind der Kritik weht durch die Sozialdemokratie, wie er seit langem nicht gespürt worden ist. Und das ist das Kennzeichnende dieser Erscheinung: Nicht „Literaten“ haben in Redaktionsstuben, am Schreibtisch Auseinandersetzungen angeblasen, die von den Truppenmassen der Partei als ein müßiger Streit um „Doktorfragen“ empfunden werden. Die Selbstkritik bricht vielmehr unaufhaltsam aus diesen Massen selbst hervor, und sie findet in den Verhandlungen der Organisationen einen weit stärkeren und schärferen Ausdruck als in einem Teil der Parteipresse. Zumal gilt das von den Organen, die theoretisch und taktisch führend der Gesamtpartei vorangehen sollten, die aber bis jetzt höchstens unvollständig registrierend nach hinken. Neben dem Massenstreik ist es die Haltung der Reichstagsfraktion beim Kampfe um die Wehr- und Deckungsvorlagen, die den Angelpunkt der Erörterungen bildet. Noch ehe der Reichstag seine Pforten geschlossen hatte, begann sich weiter Parteikreise ein Gefühl des Missbehagens, des Unbefriedigtseins mit dem Ergebnis dieses Kampfes zu bemächtigen. Nun hat sich das Gefühl zu einer aufrechten, ungeschminkten Kritik an dem Verhalten unserer Reichstagsfraktion verdichtet, zu einer Kritik, die sich bisher durch Ernst und Sachlichkeit auszeichnet. Ist diese Kritik berechtigt? Nach unserer Überzeugung ja! Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat die Wehrvorlage nicht in allen Stadien der Beratungen mit der nötigen gleichen höchsten Energieentfaltung bekämpft; sie hat durch ihre Einwilligung zu der Trennung von Wehrvorlage und Deckungsvorlagen den Liberalen das Kopfnicken zu den schamlosen Ansprüchen des Militarismus erleichtert und den rascheren Abschluss des imperialistischen Vorstoßes ermöglicht; sie hat durch ihre Zustimmung zu dem Wehrbeitrag und der Reichsvermögenszuwachssteuer den sozialdemokratischen Grundsatz beiseite geschoben: Dem Militarismus keinen Groschen. Niemand wird behaupten, dass die Reichstagsfraktion bei der ersten Lesung der Wehrvorlage unsere grundsätzliche Forderung: Abschaffung des stehenden Heeres und Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung ängstlich in die Tasche gesteckt habe. Sie hat sie mit Treue und Geschick vertreten, und im Einzelnen ist viel Treffliches und Scharfes gesagt worden. Allein im Ganzen hat es an dem Tone gefehlt, der die Musik macht. Die Wucht und Großzügigkeit war nicht da, mit der nach unserem Empfinden die Vertreter des klassenbewussten Proletariats in diesem geschichtlich bedeutsamen Augenblick reden mussten, wo der Imperialismus der besitzenden Minderheit in seiner brutalen Gefräßigkeit über die Interessen der ungeheuren Mehrheit des Volkes hinwegstampfte, wo die wirtschaftliche und politische Weltlage, wo die Feuersäulen und Blutströme des Balkankrieges und der Rüstungsrummel in Frankreich, England und anderen Staaten mit wünschenswerter Deutlichkeit auf sein Wesen und seine Bedeutung hinwiesen. In den Kommissionsberatungen ist nicht unerbittlich genug der trügerische Schein zerstört worden – er wurde von der bürgerlichen Presse geflissentlich genährt –‚ die dort ausgekramten politischen und militärtechnischen Gründe für die ungeheuerliche Heeresverstärkung hätten die Unbeugsamkeit der sozialdemokratischen Gegnerschaft zu mildern vermocht. Erst bei der zweiten Lesung der Wehrvorlage stand die sozialdemokratische Reichstagsvertretung auf der Höhe der Situation. Hier rang sie zehn Tage lang Brust an Brust mit dem tückischen, gewaltigen Todfeind des Proletariats und riss ihm durch ihre gut gewählten und meist schneidig verteidigten Reformanträge schonungslos alle gleißenden Flitter vom Leibe.
Allein, so groß und unbestritten das Verdienst der Fraktion ist, die Situation zum Kampfe gegen den Militarismus voll ausgenutzt zu haben, sowenig darf sie sich rühmen, dass sie durch eine kluge Taktik diese Situation geschaffen hat. Unsere Reichstagsvertretung hat ihre Zustimmung zu der Trennung von Wehrvorlage und Deckungsvorlagen, zur sofortigen zweiten Lesung der ersteren gegeben, weil offenbar vor den Blicken ihrer Mehrheit wieder einmal das Schemen eines reformfreudigen Liberalismus gaukelte und damit die Hoffnung auf einen „Block der Linken“ – selbstverständlich das alles nicht für die Wehrvorlage, wohl aber für die Gestaltung der Deckungsvorlagen. Nachdem die liberalen und fortschrittlichen Rüstungsfanatiker in inniger kapitalistischer Seelengemeinschaft mit den Konservativen und Zentrümlern den Appetit des Imperialismus befriedigt hatten, so konnten, so mussten sie sich mit der Sozialdemokratie vorübergehend zusammenfinden, um den Anfang einer „gründlichen Finanzreform“ zu schaffen. Diese Annahme hat zweifellos die Haltung eines großen Teiles der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion beeinflusst; das aber um so entscheidender, als die nämlichen Genossen glaubten, die Sozialdemokratie müsse ihre größte Stoßkraft zum Kampfe um die Kostenrechnung zusammenballen, da – die Dinge rein parlamentarisch betrachtet – die Schlacht gegen die Heeresvermehrung von vornherein verloren sei, jedoch die Ereignisse gingen wieder einmal nicht, wie sie im luftigen Reich der Hoffnungen und Wünsche gehen konnten, sondern wie sie im engen Raume der kapitalistischen Ordnung auf der erreichten Entwicklungsstufe gehen mussten.
Wohl genossen die stillen Gläubigen des „Blocks von Bebel bis Bassermann“ laut und reichlich den Triumph, dass bei den Deckungsvorlagen mit dem Schwarzblauen Block die unbequeme „eine reaktionäre Masse“ der bürgerlichen Parteien zerfiel, die von Anfang an entschlossen gewesen war, Wilhelm II. die Wehrvorlage als „Jubiläumsgabe“ ehrfürchtig darzubringen. Die Blauen waren von der Majorität ausgeschaltet, die der Regierung mit verständnisinnigem Händedruck die Riesensummen für die Kosten der militaristischen Orgie überreichten. Allein, dafür mussten die besagten Gläubigen den Schmerz hinunterwürgen, dass die Liberalen die Bundesbrüderschaft mit den Schwarzen dem Zusammenwirken mit der Sozialdemokratie vorzogen. Den Grund dafür kann ein Blinder mit dem Stocke fühlen. Die Liberalen griffen begierig nach der Gelegenheit, mit den Zentrümlern zusammen Deckungsvorlagen zurechtzuschustern, über die sich die „ausgeschalteten“ Junker ins Fäustchen lachen konnten, weil diese Helden die Möglichkeit weit von sich weisen wollten, in Gemeinschaft mit der Sozialdemokratie die ersten Schritte zu einer gründlichen Steuerreform zu tun. Zentrümler und Liberale brauchten Zeit, um sich über den Kuhhandel einig zu werden, der die Sozialdemokratie um jeden Einfluss prellte, wie die Rechnung des Imperialismus beglichen werden sollte. Die bürgerliche Mehrheit ließ die Sozialdemokratie bei der zweiten Lesung reden, bis das Geschäft fertig war, dann peitschte sie die restlichen Beratungen und die definitiven Entscheidungen mit einer skandalösen Eilfertigkeit durch, die ein blutiger Hohn auf die Bedeutung der Vorlagen, auf die Folgen ist, die ihre Annahme für die breitesten Volksmassen haben muss. Bei der dritten Lesung der Wehrvorlage maß sich die Sozialdemokratie nochmals in kraftvollem Waffengang mit dem Feinde, von der Umstände Gunst gehoben. In der Atmosphäre des Erfurter Schreckensurteils musste jeder ihrer Hiebe verdoppelte Wucht, jede ihrer Anklagen zündendere Gewalt erhalten. Unmittelbar darauf zeigte die Verhandlung der Deckungsvorlagen, wie gründlich die Sozialdemokratie von Liberalen und Zentrümlern in die Ecke gedrückt worden war. Nicht einmal auf den Gang der parlamentarischen Geschäfte hatte sie so viel Einfluss, um auch nur eine leidlich anständige Erörterung der Deckungsvorlagen durchsetzen zu können. Und statt den Ansätzen zu einer weit zielenden Finanzreform sah sie sich einem jämmerlichen Gelegenheitspfuschwerk gegenüber, das einer solchen Reform den Weg verlegt und die Massen mit schwerster künftiger Weiterbelastung bedroht. Trotz alledem warf die sozialdemokratische Fraktion dem Reichstag nicht die Spottgeburt aus kapitalistischem Dreck und ohne Reformfeuer vor die Füße. Indem sie für den Wehrbeitrag und die Reichsvermögenszuwachssteuer stimmte, bewilligte sie Millionen, die unverhüllt den Zwecken des Imperialismus, der Ausdehnung und Befestigung der kapitalistischen Klassenherrschaft dienen werden. Die feierliche Prinzipienerklärung, die die Fraktion zu ihrer Abstimmung abgeben ließ, unterstreicht nur den opportunistischen Charakter des Handelns. Die Dinge haben ihre eigene steifnackige Logik, die sich durch die schönsten Worte nicht korrigieren lässt. Die Sozialdemokratie schloss die Schlacht gegen den Imperialismus zwar mit einem schmetternden Tusch für ihre Prinzipien, aber mit dem Bruch des Grundsatzes und der Tradition der Partei: Dem Militarismus keinen Groschen. Wie ist all das zu verstehen und zu bewerten?
Der Trommelklang, mit dem die Fraktion in den Kampf zog, ist augenscheinlich durch die Auffassung gedämpft worden, dass das Zustandekommen der Wehrvorlage dank dem Bewilligungseifer aller bürgerlichen Parteien gesichert sei, auch wenn die Sozialdemokratie im Reichstag noch so leidenschaftlich und zäh kämpfe. Der Blick mancher unserer Abgeordneten wanderte nicht über die aussichtslose parlamentarische Konstellation hinaus zu den lebendigen politischen Streitkräften, die es außerhalb des Reichstags zum schärfsten Kampf gegen die Wehrvorlage und zum dauernden Ringen mit dem Imperialismus zu mobilisieren galt. Die nur parlamentarische Betrachtung der vorliegenden Aufgabe ließ zu Anbeginn des Kampfes keine rechte Kraftentfaltung und Siegeszuversicht aufkommen. Aber tragen die proletarischen Massen nicht selbst einen großen Teil Schuld daran, dass eine solche Auffassung überhand nehmen konnte? Sind sie nicht viel zuwenig zahlreich und entschlossen auf den Plan getreten, haben sie nicht zu leise und schüchtern gesprochen? Das trifft gewiss zu, fordert aber nur eine um so schärfere Kritik an dem Verhalten unserer Reichstagsvertretung, an der Aktion der Partei überhaupt heraus. Der Internationale Sozialistische Kongress zu Basel mit dem geschichtlichen Um und Auf der Stunde hatte eine gewaltige, hinreißende Fanfare zum Kampf wider den Imperialismus ertönen lassen. Sie rief das deutsche Proletariat leider nicht zu einer so scharfen Aggressivität gegen den Feind, dass auch der kapitalfrömmsten und geriebensten Regierung die Lust zu einer Wehrvorlage vergangen wäre. Sogar die talentlose Regierung eines Bethmann Hollweg konnte es so wagen, dem werktätigen Volk das imperialistische Ansinnen der riesigsten Militärvorlage ins Antlitz zu schlagen, die wir bis jetzt kennen, und konnte sich erdreisten, die Ausgebeuteten mit dem Märchen der Deckungsvorlagen zu narren, die Besitzenden würden nicht mehr die Nutznießer, sondern die Lastenträger der Rüstungstollheit sein. Das rührselig-verlogene Geschwafel von dem patriotischen „Jubiläumsopfer“ der Reichen und Sehrreichen hat unstreitig das seinige dazu getan, den Widerstand der Proletarier und der kleinen Leute gegen das verderbliche Ausrecken des Militarismus abzustumpfen. Jedoch gerade weil das zu befürchten war, musste die Fraktion von der ersten Minute an alle in ihr beschlossenen Energien entfesseln, alle vorhandenen Möglichkeiten hartnäckigen Kampfes bis zum äußersten ausnutzen; musste sie durch die unerhörte Kühnheit und Wucht ihres Ansturms die Blicke der breitesten Volksschichten auf sich ziehen und in leidenschaftlicher Spannung auf sich gerichtet halten; musste sie vor allem auch das letzte Spinnwebfädchen des Scheins fortfegen, die ausbeutende Minderheit werde von nun an aus ihren von den Ausgebeuteten gefüllten Schatzsäcken die reiche Tafel des Militarismus bestellen. Man prüfe die Haltung der Fraktion an diesen Forderungen, und die sich fast allerwärts regende Kritik erscheint gerechtfertigt. Passt es insbesondere nicht zu ihnen wie die Faust aufs Auge, dass der Wehrbeitrag und die total verhunzte Vermögenssteuer die Zustimmung der Sozialdemokratie erhielten? Gewiss, denn dadurch wurde für Hunderttausende und aber Hunderttausende unaufgeklärter Proletarier der Schein gestärkt, in den Deckungsvorlagen wehe tatsächlich das Mailüfterl einer Steuerreform und der kapitalistischen Opferfreudigkeit.
In Verbindung mit der Auffassung, dass der Sieg des Militarismus unabwendbares Geschehen sei, erblickte unsere Fraktionsmehrheit die Deckungsvorlagen in einer unrichtigen Perspektive. Der Kampf um die Verteilung der neuen Lasten erschien ihr als ihre jetzige Hauptaufgabe, erschien ihr als der Boden, auf dem sie um jeden Preis ein Hälmchen „positiver Ergebnisse“ ernten musste. Konnte die Sozialdemokratie der Regierung und den bürgerlichen Parteien nicht mit Erfolg in den Arm fallen, wenn diese „patriotische“ Kumpanei dem Volk erhöhte Blutsteuer abpresste, so musste sie wenigstens bedacht sein, es vor noch drückenderer Gutssteuer zu schützen. Diese Schlussfolgerung ist „an und für sich“ selbstverständlich, ist unanfechtbar richtig als abstrakte, allgemeine Formel. In ihrer Anwendung auf die vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse wird sie jedoch zum Irrlicht, das zu der opportunistischen Abstimmung der Fraktion bei den Deckungsvorlagen geführt hat. Das wäre unmöglich gewesen, hätte sich die Mehrheit unserer Genossen im Reichstag nicht über die sehr beschränkte praktische Bedeutung einer Steuerreform in der bürgerlichen Gesellschaft getäuscht. Marx hat sie in diesen Sätzen bloßgelegt:
“Die Steuerreform ist das Steckenpferd aller radikalen Bourgeois, das spezifische Element aller bürgerlich-ökonomischen Reformer. Von den ältesten mittelalterlichen Spießbürgern bis zu den modernen englischen Freetradern dreht sich der Hauptkampf um die Steuern.
Die Steuerreform bezweckt entweder Abschaffung traditionell überkommener Steuern, die der Entwicklung der Industrie im Wege stehen, wohlfeileren Staatshaushalt oder gleichmäßigere Verteilung. Der Bourgeois jagt dem schimärischen Ideal der gleichen Steuerverteilung um so eifriger nach, je mehr es in der Praxis seinen Händen entschwindet.
Die Distributionsverhältnisse, die unmittelbar auf der bürgerlichen Produktion beruhen, die Verhältnisse zwischen Arbeitslohn und Profit, Profit und Zins, Grundrente und Profit, können durch die Steuer höchstens in Nebenpunkten modifiziert, nie aber in ihrer Grundlage bedroht werden. Alle Untersuchungen und Debatten über die Steuer setzen den ewigen Bestand dieser bürgerlichen Verhältnisse voraus. Selbst die Aufhebung der Steuern könnte die Entwicklung des bürgerlichen Eigentums und seiner Widersprüche nur beschleunigen.
Die Steuer kann einzelne Klassen bevorzugen und andre besonders drücken, wie wir dies z. B. unter der Herrschaft der Finanzaristokratie sehen. Sie ruiniert nur die Mittelschichten der Gesellschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat, deren Stellung nicht erlaubt, die Last der Steuer einer anderen Klasse zuzuwälzen.
Das Proletariat wird durch jede neue Steuer eine Stufe tiefer herabgedrückt; die Abschaffung einer alten Steuer erhöht nicht den Arbeitslohn, sondern den Profit. In der Revolution kann die zu kolossalen Proportionen geschwellte Steuer, als eine Form des Angriffes gegen das Privateigentum dienen; aber selbst dann muss sie zu neuen revolutionären Maßregeln weitertreiben oder schließlich auf die alten bürgerlichen Verhältnisse zurückführen.
Die Verminderung, die billigere Verteilung etc. etc, der Steuer, das ist die banale bürgerliche Reform. Die Abschaffung der Steuer, das ist der bürgerliche Sozialismus. Dieser bürgerliche Sozialismus wendet sich namentlich an die industriellen und kommerziellen Mittelstände und an die Bauern. Die große Bourgeoisie, die schon jetzt in ihrer besten Welt lebt, verschmäht natürlich die Utopie einer besten Welt.“ [1]
Marx‘ klare Einschätzung einer bürgerlichen Steuerreform behält aber in den Zeitläuften des reifen Kapitalismus, der imperialistischen Politik, mehr recht als je. Denn alle Rücksichten der herrschenden Gewalten auf Steuerhöhe und Steuerverteilung verblassen bis zum vollständigen Verschwinden angesichts der unabweisbaren Notwendigkeit, wachsende Mittel für den Militarismus aufzuwenden. Dieser ist ja aus einem Zucht- und Machtmittel des absoluten Gottesgnadentums zu einem Faktor des wirtschaftlichen und politischen Lebens geworden, ohne den der Kapitalismus nicht mehr zu bestehen, seine Herrschaft auszudehnen und zu befestigen vermag. Bei diesem Stande der Dinge hat die Fraktion das Umgekehrte von dem getan, was sie – die gesellschaftliche Entwicklung und die dauernden Klasseninteressen des Proletariats vor Augen – hätte tun müssen. Sie richtete ihren Blick mehr auf die luftige Schimäre einer „gesunden Finanzreform“ als auf den sehr körperlichen Gesellen des eisengepanzerten Imperialismus. Das wird sich in nächster Zukunft schon insofern rächen, als der Imperialismus der unersättlichste und erbarmungsloseste Steuererpresser ist, den die Geschichte kennt.
Müssten aber die Enterbten ohne die Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion zu Wehrbeitrag und Reichsvermögenszuwachssteuer nicht noch eine weitere, höhere Steuerbürde tragen? Es ist das behauptet worden, aber wir glauben es nicht. Auch das innigste Wünschen und rücksichtsloseste Drängen der herrschenden Gewalten, die Kosten für den Imperialismus unmittelbar und offen durch Besteuerung des Lebensbedarfs aus den Taschen des werktätigen Volkes zu raffen, findet seine Schranken. Es muss mit der wirtschaftlichen Konjunktur, mit der Konsum- und Steuerfähigkeit der Massen, mit ihrer politischen Lammsgeduld rechnen. Seit der Finanzreform von 1909 werden die Massen bis zum Weißbluten geschröpft, eine aufziehende Krise kündet sich an, und bei den letzten Reichstagswahlen haben mehr als vier Millionen Wähler sich für die Politik der Sozialdemokratie erklärt. Nicht einmal die Partei des patentierten Volksverrats und Volksbetrugs, das Zentrum, hätte sich unter diesen Umständen erkühnt, die indirekte Steuerschraube fester anzudrehen. Mit der Regierung mussten sich alle bürgerlichen Parteien dazu bequemen, seufzend und fluchend einen Griff nach dem bürgerlichen Allerheiligsten, dem Portemonnaie der Besitzenden, zu tun. Und an diesem Zwange würde sich auch dann nichts zum Schlimmeren für die Armen und Kleinen der Gesellschaft geändert haben, wenn der zentrümlich-liberale Deckungsschwindel gescheitert wäre und der Reichstag erst nach einer Pause über die vom Militarismus präsentierte Rechnung hätte beschließen müssen. Im Gegenteil – vorausgesetzt, dass in dieser Pause proletarische Massen sich zur Verteidigung ihrer Interessen erhoben hätten
Der Artikel Wer zahlt die Zeche? in Nr. 22 der Gleichheit hat ausführlich die Ansicht zurückgewiesen, dass die von der Reichstagsfraktion gebilligten beiden Steuern eine Ära der Entlastung für die Arbeiterklasse eingeleitet hätten. Er zeigte, dass sie ein steter Anreiz für die Kapitalisten sind, künftighin in jeder Beziehung die Habenichtse erst recht ohne Gnade und Barmherzigkeit zu schröpfen, ein Feigenblatt, das zugunsten der Besitzenden das gewissenlose weitere Anziehen der Zoll- und Steuerschraube deckt. Denn rascher als eine Seifenblase wird in der Luft der kapitalistischen Entwicklung die törichte Selbsttäuschung der kleinbürgerlichen Auffassung zerplatzen, dass die besitzenden Klassen mehr als ein Haar in der imperialistischen Suppe finden würden, wenn sie selbst die Kosten berappen müssten. Stumms seliger Geist wird sich in himmlischen Höhen vor Lachen über diese Auffassung ausschütten wollen. Hat doch der Patriarch der Scharfmacher schon vor langen Jahren die frühere kleinbürgerliche Knickrigkeit der Liberalen im Bewilligen von Soldaten, Kasernen, Kanonen und Kähnen damit abgekanzelt, dass Reichsanleihen für militärische Zwecke für die Bourgeoisie die sichersten, reichlichst zinsenden Kapitalanlagen seien. Und damals begann der deutsche Militarismus kaum aus den Kinderschuhen herauszuwachsen. Heute aber ist der Imperialismus zur Macht geworden, ohne die der Blutkreislauf der kapitalistischen Wirtschaft stocken müsste, ohne die der Kapitalismus nicht erobernd über den Erdball schreiten, seine Herrschaft über das Volk der Heimat nicht aufrechterhalten könnte.
Daher lassen sich auch die Besitzenden nicht lumpen und langen für den Militarismus in ihren Beutel, wenn es nicht anders sein kann. Die Entwicklung der Dinge in England ist ein klassisches Zeugnis dafür, dass die herrschende Minderheit den Imperialismus nicht an ihrer Steuerscheu krepieren lässt. Genosse Eduard Bernstein hat darauf hingewiesen, und Genossin Luxemburg hat es in der Leipziger Volkszeitung mit Tatsachen und Ziffern erhärtet, dass der englische Imperialismus Dreadnoughts über Dreadnoughts vom Stapel lässt und Kolonialkriege entzündet, obgleich es direkte Steuern sind, die der Rüstungswahnsinn toll vergeudet. Wehrbeitrag und Reichsvermögenszuwachssteuer sind also keineswegs das Gelöbnis, dass in Deutschland die besitzenden Klassen von nun an ihrem Können entsprechend zu den phantastischen Kosten beitragen werden, die der Imperialismus fordert, sind nicht das Unterpfand dafür, dass eine neue Zeit der „gerechteren“ Besteuerung angehoben hat. Sie bekunden lediglich dies: Die Anforderungen des Imperialismus sind so gewaltig gewachsen, dass die bisherige Art der Kostendeckung nicht mehr genügt. Darum tragen auch die bewilligten Deckungsvorlagen in ihrem Schoße bereits neue grausame Lasten für die frondenden Massen. Und es mutet sonderbar an, dass in dem heuchlerischen Wehrbeitrag und der erbärmlichen Reichsvermögenssteuer gerade Genossen das vermeintlich gesicherte „Prinzip“ einer wirklichen Steuerreform erblicken und schätzen, die sonst das Wort Prinzip am liebsten aus dem politischen Sprachschatz streichen möchten.
Unseres Dafürhaltens hat die Reichstagsfraktion mit ihrer Stellungnahme zu den Deckungsvorlagen praktisch für das Proletariat so gut wie nichts gewonnen. Sie selbst aber hat Wichtiges preisgegeben. Entgegen unserem Programm bewilligte sie direkte Steuern, ohne dass dadurch der große Sack indirekter Abgaben, der den wunden Rücken der Massen drückt, auch nur durch die Herabsetzung der Zuckersteuer erleichtert worden wäre. Sie hat Ja und Amen zu Steuern gesagt, die die stärkste und gefährlichste Macht zur Niederhaltung und Knechtung des Proletariats nähren sollen, eine Macht, die wie keine zweite dem schrankenlosen Ausleben des Kapitalismus dient.
Überblickt man den Rattenkönig von Irrungen und Wirrungen in der Haltung unserer Fraktion, so muss man freudig begrüßen, was man unter anderen Umständen beklagen müsste. Nämlich dass unsere Reichstagsfraktion nicht einheitlich und geschlossen vor der Partei steht. Eine starke Minorität zählt zu den schärfsten Kritikern der befolgten Taktik. Die Mehrheit hat zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung in der Deckungsfrage erklärt, das arbeitende Volk würde es nicht verstanden haben, wenn die Sozialdemokratie Steuern auf den Besitz verworfen hätte. Warum so kleingläubig und furchtsam? Wir trauen uns die Kraft zu, die Unaufgeklärten von der Notwendigkeit und Bedeutung einer geschichtlichen Weltwende zu überzeugen, und wir sollten vor der Aufgabe verzweifeln und versagen müssen, ihnen die sachlichen Gründe einer streng grundsätzlichen Stellungnahme zu einer simplen Steuerfrage begreiflich zu machen? Bis jetzt hat die Sozialdemokratie noch nie verloren, vielmehr stets reichen Gewinn gehabt, wenn sie in schärfsten Gegensatz zu allen bürgerlichen Parteien, zu allen Vorurteilen und Irrtümern der Massen trat. Der schärfste Gegensatz zeugte die höchste Kraft zum Siege. Allein, wie das grundlose Vertrauen zur Reformwilligkeit des Liberalismus, so gehört das Misstrauen gegen die eigene Kraft der Partei und gegen das Verständnis der Massen zu den Wesenszügen des sozialistischen Opportunismus. Gegen die praktische Betätigung des Opportunismus in der großen Kampagne wider den Imperialismus muss sich die Partei mit der äußersten Entschiedenheit wenden. Es ist dies eine Voraussetzung dafür, dass sie auf der ganzen Linie von der greisenhaften Ermattungsstrategie zum Angriff übergeht.
1. Karl Marx/Friedrich Engels, Rezensionen aus der Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue. Viertes Heft, April 1850. Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, S. 255–291, hier S. 285 f.
Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2025