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Quelle: Eduard Bernstein, Der Sozialismus und die Kolonialfrage, Sozialistische Monatshefte, 4 = 6 (September 1900), H. 9190009, S. 549–562.br />
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wie sehr auch die Definitionen, die dem Sozialismus von Freund und Feind gegeben werden, der Form nach auseinandergehen, so stimmen sie doch der Sache nach darin überein, dass er den Gedanken einer Neugestaltung der Rechtsbeziehungen im Völkerleben vertritt. Das Prinzip der Gleichheit, das als formale Gleichberechtigung Gleichheit aller vor dem Gesetz wenigstens in den vorgeschritteneren Ländern Anerkennung gefunden hat, soll eine intensiv wie extensiv weitergehende Anwendung erhalten. Durch wirtschaftspolitische Maßnahmen aller Art und Beseitigung der aus dem Eigentum und der Abstammung abgeleiteten sozialen Vorrechte soll das Herrschaftsgebiet des Privateigentums weiter eingedämmt und der höchstmögliche Grad von Gleichheit der Lebensbedingungen herbeigeführt werden, der mit der erfolgreichsten Bewirtschaftung der Erde und der uns zugänglichen Naturkräfte vereinbar ist. Intranational wie international, im Gegenseitigkeitsverhältnis der Angehörigen der einzelnen Nationen, Staaten oder sonstigen Volkseinheiten, sowie im Verhältnis dieser Gemeinwesen selbst zu einander, will der Sozialismus durch Schaffung entsprechender Einrichtungen aller ausbeuterischen Vergewaltigung und knechtenden Ausbeutung den Boden entziehen.
Wenn es bei der Verschiedenartigkeit des Kulturstandes der Völker der Erde und der vielen Interessengegensätze nicht wahrscheinlich ist, dass sich in einer nahen Zukunft aller Verkehr wird auf den freien Vertrag begründen lassen, die Menschheit vielmehr noch auf lange hinaus ihre Zuflucht zu Gesetzen wird nehmen müssen, das Gesetz aber stets ein Stück Gewalt in sich trägt, so müssen wir den Fortschritt des vom Sozialismus erstrebten Rechtszustandes darin erblicken, dass das Gesetz in ihm die Bekämpfung von Sonderprivilegien und Ausbeutungsquellen zum leitenden Grundsatz hat. Hierin, in der gegen Sonderrecht und Ausbeutung gekehrten Spitze, haben wir das unterscheidende Merkmal sozialistischer Gesetzgebung und hierin zugleich dasjenige Element derselben vor uns, das uns berechtigt, sie als den Ausdruck eines höheren Rechtsgedankens zu bezeichnen.
Denn wenn wir die Menschheitsgeschichte verfolgen, werden wir finden, dass die großen Kulturfortschritte in rechtlicher Hinsicht zusammenfallen mit Einschränkungen von Ausbeutungssphären und Ausbeutungsgraden, sowie Ausdehnungen der Rechtsgleichheitsgebiete. Diese beiden Momente sind für unsere heutige Betrachtung untrennbar verbunden. In ihnen beziehungsweise ihrer Kombination haben wir auch das Merkmal für die rechtliche Beurteilung moderner Kolonisationsunternehmungen. [1]
Es gibt eine Art von Kolonialgründung, gegen die sich im Prinzip kein Sozialist wenden wird: die sogenannte innere Kolonisation, die planmäßige Besiedlung und Urbarmachung von bisher unbebauten oder in Verfall geratenen Land im Bereich des von der kolonisierenden Nation selbst bewohnten Gebiets. Über die Art und Weise dieser Kolonisierung sind weitgehende Meinungsverschiedenheiten möglich, und der Sozialist wird, wo sie heute vorgenommen wird, sehr aufzupassen haben, dass mit ihr nicht die Verschleuderung wichtiger Eigentumsrechte der Nation verbunden oder sie dazu gemissbraucht wird, neue Hörigkeitsverhältnisse zu schaffen. Aber grundsätzlich wird sich dagegen, dass im Innern kolonisiert wird, sehr selten etwas Vernünftiges einwenden lassen. Vielmehr besteht die Aufgabe der Sozialdemokratie darin, für diese Kolonisation eine Form zu finden, beziehungsweise für sie Grundsätze aufzustellen, bei deren Einhaltung sie vom genossenschaftlichen Verbindungen von Landarbeitern mit Aussicht auf Erfolg übernommen werden kann, und ihre Zustimmung zu Plänen innerer Kolonisierung von der Berücksichtigung dieser Grundsätze abhängig zu machen.
Dies festgestellt, können wir für die folgende Untersuchung die Frage der inneren Kolonisation ganz beiseite lassen und uns ausschließlich mit der nach außen gerichteten oder extensiver Kolonisation, der Frage der auswärtigen Kolonien, befassen. Sie ist es, welche heute in erster Reihe die Sozialdemokratie als „Kolonialfrage“ beschäftigt.
Hier müssen wir nun zunächst einige allgemeine Bemerkungen über die Rolle der extensiven Kolonisation in der Entwicklung der Völker und der Kultur folgen lassen, die uns für die Gewinnung eines rationellen Standpunktes in der Frage unerlässlich erscheinen.
Von Kolonisation kann in der Geschichte der Menschheit erst von dem Moment an die Rede sein, wo Menschen überhaupt dauernd sesshaft geworden sind und angefangen haben, den Boden zu bearbeiten. Die Kolonisation begreift drei wesentliche Momente in sich:
Wo nur eines oder zwei dieser Momente vertreten sind, ist entweder erst Ansatz zu Kolonisation, eine Vorform derselben, vorhanden, oder, wenn z. B. ein Nomadenstamm ein Gebiet besetzt, von dem er einen auf gleicher Kulturhöhe stehenden Stamm verdrängt hat, bloßer Besitzwechsel; oder schließlich bloße Einwanderung und Überfall, wie z. B. die Niederlassung der Barbaren in Griechenland und Rom. [2]
So lange die Menschen von Jagd und Einsammlung leben, kolonisieren sie so wenig, wie die Tiere. Von Kolonisation kann erst die Rede sein, wo mit der Niederlassung eine Steigerung der Bevölkerungsfähigkeit des besetzten Gebiets verbunden ist. Das heißt, wo infolge der Niederlassung mehr Menschen auf gleichem Gebiet mit mindestens den gleichen Lebensansprüchen zu existieren im Stande sind, wie vordem. Das ist der geschichtliche Rechtstitel aller Kolonisation von vorher schon besetzten Gebieten. Ohne diese Bedingung ist alle Kolonisation genannte Einnahme schon bewohnter Gebiete nackte Eroberung, brutaler Raub.
Unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaft kennzeichnet sich die höhere Kultur vor der niederen dadurch, dass sie auf gleichem Gebiet einer größeren Anzahl von Menschen zu leben ermöglicht, wie diese: durch die größere Bevölkerungsfähigkeit, die sie dem Boden – generell der Erde – verleiht. Es geschieht dies teils durch technische Hebung der Ergiebigkeit menschlicher Arbeit, teils durch bessere Beschützung der Arbeit vermittels erhöhten Rechtsschutzes, Steigerung der Sicherheit in der Arbeit und durch bessere Organisation der Wirtschaft.
An diesem Maßstab gemessen, hat, unter sonst gleichen Umständen, die höhere Kultur gegenüber der niederen stets das größere Recht auf ihrer Seite, hat sie gegebenenfalls das geschichtliche Recht, ja, die Pflicht, sich jene zu unterwerfen.
Keinem Stamm, keinem Volk, keiner Rasse kann ein unbedingtes Recht auf irgendein Stück der bewohnbaren Erde zugesprochen werden. Die Erde gehört keinem Sterblichen, sie ist Eigentum und Erbe der gesamten Menschheit. Ursprünglich entscheiden erste Okkupation und Eroberung, Zufall und brutale Gewalt über ihre Verteilung, später treten zu ihnen Schenkung und Kauf, erschlichene und erworbene Rechte hinzu. Wollen wir nicht in die Epoche des Zufalls und der rohen Gewalt zurückfallen und uns zu Sklaven formaler Rechtstitel, der Rückwirkungen des einmal Gewesenen machen, nicht die Zukunft der Menschheit ihrer Vergangenheit opfern, so müssen wir, sofern wir nicht die Willkür zum höchsten Gesetz proklamieren, sondern nach einem Rechtsprinzip handeln wollen, das diese ausschließt, für die Beurteilung von Konflikten zwischen altem Recht und neuem Bedürfnis auf das im Vorstehenden charakterisierte Kulturrecht zurückgreifen. Es ist das einzige, das uns in zweifelhaften Fällen einen festen Anhaltspunkt dafür gewährt, wo wir, zwar nicht den einzigen, wohl aber den höchsten, den in letzter Instanz entscheidenden Rechtsgrundsatz für die Beurteilung solcher Konflikte zu suchen haben. Für den Kampf zwischen den Rechtsanschauungen und Rechtsansprüchen neuer, aufstrebender und alter, im Besitz befindlicher Klassen ein und desselben Volkes oder Kulturkreises, wird jeder Sozialdemokrat dies ohne weiteres zugeben. Es gilt aber mit derselben Kraft für Konflikte zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturkreisen selbst.
Wenn wir nicht auf der einen Seite das brutale Recht des Starken über den Schwachen oder den ihm zu Grunde liegenden wohlberechtigten Gedanken es gibt auch ein ethisches Recht des Stärkeren in seiner brutalsten Form proklamieren oder auf der anderen Seite irgendwelchen romantischen, sentimentalen Schwärmereien für das Schwache, Untüchtige, Unentwickelte, Stehengebliebene zum Opfer fallen wollen, können wir gar nicht umhin, ein solches Recht der Kultur zu formulieren. Aus ihm heraus gelangen wir zu einer zugleich humanitären und vernünftigen Auffassung vom Kampf ums Dasein zwischen Völkern und Rassen.
Wenn keinem Volk und keiner Rasse ein unbedingtes Recht auf irgendein Stück der bewohnbaren Erde zugesprochen werden kann, so heißt dies nicht die schwächeren, weniger ausgerüsteten Völker für vogelfrei erklären und jeden an ihnen begangenen Landraub legitimieren. Innerhalb bestimmter Grenzen ist vielmehr auch ihr Recht zu respektieren. Ein Recht begrenzen, heißt noch nicht es aufheben.
Unterstellen wir eine Insel, auf der zwei Völkerschaften wohnen, die eine der Viehzucht mit einigem Ackerbau, die andere der Jagd ergeben. Beide seien gleich stark an Kopfzahl, aber, da die Jagd auf gleichem Flächenraum weniger Menschen ernährt, als die Viehzucht, nehme das Jägervolk drei Viertel, das Hirtenvolk ein Viertel des Bodens der Insel ein. Nun vermehren sich beide Völker, und beiden wird ihr Gebiet zu eng, sie geraten um die Ausdehnung ihrer Anteile in Konflikt. Wo wird unsere Sympathie sein müssen? Sicherlich bei den Hirten. Ihr Sieg würde bedeuten, dass eine wachsende Zahl von Menschen auf der Insel leben könnte, der der Jäger, dass die Bevölkerung zurückzugehen, d. h. teilweise auszusterben hätte.
Das ist aber, mit den nötigen Modifikationen, das Bild des Kampfes der Kulturen auf der Erde. So interessant die Vertreter niederer, ursprünglicher Kulturen für den Ethnologen sein mögen, so wird der Soziologe sich keinen Augenblick besinnen, ihr Zurückweichen von den Vertretern höherer Kulturen für notwendig und weltgeschichtlich gerecht zu erklären. Übrigens ist das Zurückweichen von Kultur vor Kultur keineswegs notwendig mit dem Verschwinden der minder entwickelten Rassen und Nationalitäten verbunden. Sofern sie überhaupt entwicklungsfähig sind, können sie dabei ganz gut fahren.
Jede kräftige Rasse und jede kräftige Wirtschaft mit der auf ihre beruhende Kultur streben nach Ausbreitung, nach Expansion. Dieser Drang ist zu allen Zeiten ein mächtiger Faktor fortschrittlicher Entwicklung gewesen. Es wäre daher nichts widersinniger, als wenn Vertreter einer Bewegung, die den gesellschaftlichen Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben hat, systematische Expansionsbestrebungen als etwas an sich Schlechtes verwerfen wollten. Solche Bestrebungen können mit verwerflichen Mitteln und Methoden betrieben werden, und sie können unter Umständen betrieben werden und zu Zuständen führen, wo sie das Gegenteil von Fortschritt bewirken und deshalb verwerflich sind. Aber das trifft nur bestimmte Fälle und nicht das Prinzip selbst.
So war die Ausbreitung der griechischen Kultur durch die Kolonialgründungen der Griechen unzweifelhaft ein Faktor großen Fortschritts, und auch dem Römerreich gebührt das Zeugnis, dass seine weltgeschichtliche Bilanz eine positive gewesen ist, so sehr in einzelnen Fällen die Römer kulturzerstörend aufgetreten sind. Dagegen war die Ausbreitung des Reiches der Osmanen, einzelne Fälle ausgenommen, ein rückschrittlicher Faktor der durch militärische Übermacht erlangte Sieg von Angehörigen einer ziemlich tiefstehenden Kultur über Völker, die schon eine höhere Kulturstufe erreicht hatten und durch ihn teils in ihrer Weiterentwicklung aufgehalten und teils sogar weit zurückgeworfen wurden.
Es kann nun die Frage aufgeworfen werden: selbst zugegeben, dass im bestimmten Falle das expansierende Volk oder Reich irgend einem anderen Volk gegenüber die höhere Kultur vertritt, kann ihm daraus ein Recht abgeleitet werden, dem andern seine Kultur aufzuzwingen? Oder muss nicht vielmehr jedem Volk das Recht zugestanden werden, sich nach seiner Eigenart zu entwickeln?
Die Antwort wird für unsere Zeit dahin lauten müssen, dass allerdings dies Recht der Entwickelung auf eigene Art möglichst geschont zu werden verdient. Aber gegen seine unbedingte Anerkennung würde unter Umständen die Rücksicht auf Ernährungsmöglichkeiten der Menschen sprechen und spricht u. a. die Rücksicht auf die Interessen des Verkehrs. Da es weder möglich noch wünschenswert ist, chinesische Mauern zwischen Land und Land oder Kulturkreis und Kulturkreis zu errichten, muss der höheren Kultur gegenüber der niederen das Recht zustehen, sie zur Schaffung von Einrichtungen anzuhalten, welche die Sicherheit des Verkehrs verbürgen. Ob es gerechtfertigt ist, ein Land zur Öffnung seiner Grenzen für den Verkehr zu zwingen, ist in hohem Grad eine Frage des Bedürfnisses. Wo kein dringendes Bedürfnis vorliegt, mag jeder derartige Zwang verworfen werden; wo es jedoch besteht, wäre es sinnloser Romantizismus, der Unkultur das Recht einzuräumen, sich als hemmender Wall dem Verkehr der Kulturwelt in den Weg zu legen.
Alles Eigentum findet seine Rechtfertigung zuletzt durch den von ihm gemachten Gebrauch. Die Gesetzgebung vorgeschrittener Länder bestätigt dies u. a. dadurch, dass sie Personen, die von ihrem Eigentum einen sinnlosen Gebrauch machen, gegebenenfalls der freien Verfügung über dasselbe verlustig erklärt, sie unter Vormundschaft zu stellen vorschreibt. Niemand erkennt das den betreffenden Bestimmungen zu Grunde liegende Prinzip williger an, als die Sozialdemokratie; laufen doch ihre Bestrebungen zu einem großen Teil darauf hinaus, seine Anwendung zu erweitern. Was aber von den Individuen gilt, gilt im gegebenen Fall auch von den Völkern. Wenn es sich herausstellt, dass ein von wilden oder halbwilden Stämmen besetztes Gebiet Mineralien birgt, die nirgends anderswo gefunden werden, aber für die Technik in der Kulturwelt von außerordentlichem Nutzen sind, so würde man den betreffenden Stämmen nicht erlauben, die Förderung dieses Materials, von dem sie selbst keinen Gebrauch zu machen verstehen, anderen in Ewigkeit zu verwehren. Genauso, wie man zwischen Kulturvölkern angefangen hat, Vereinbarungen über internationalen Vogelschutz, Fischereiregulierungen etc. zu treffen, und im Notfall berechtigt wäre, die Einhaltung solcher Vereinbarungen gegen eine widersätzliche Nation mit Gewalt zu erzwingen.
Es ist allerdings nicht leicht, im konkreten Fall festzustellen, ob ein so großes Bedürfnis vorliegt, um die Ausübung eines Zwanges zu rechtfertigen; und wo der Egoismus, das Interesse mitspricht, sind missbräuchliche Anrufungen des Bedürfnisses stets zu gewärtigen. Indes, der Missbrauch eines Prinzips beweist nicht, dass es falsch oder seine Aufstellung überflüssig ist.
Gewalt und Zwang hat es immer in der Welt gegeben. Die goldene Zeit des Urkommunismus war die goldene Zeit des manchesterlich interpretierten Darwinismus: uneingeschränkte, brutale Herrschaft des Stärkeren. Der Gang der Kultur besteht darin, dieses Recht des Stärkeren zu entbrutalisieren, seine Geltendmachung an Bedingungen zu knüpfen. Es ist ein beständiges Ringen neuer regulierender Grundsätze mit dem Stück Brutalität, das auch heute noch im Hintergrunde jenes Rechtes lauert. Zeitweise wird die Brutalität immer wieder Siege erringen, auf die Dauer aber sehen wir sie doch mehr und mehr an Boden verlieren. Die flache Auffassung, die aus den temporären Siegen der rohen Gewalt und des Egoismus die Wertlosigkeit ethischer Errungenschaften deduzierte, hat elend Bankrott gemacht. Die Ethik ist nur da impotent, wo sie im Widerspruch steht mit den übrigen Grundlagen sozialen Lebens, sich zu weit von ihnen sublimiert.
In ihrem, an sich sehr zu billigenden Bestreben, dem wüsten Rachegeschrei wider die Chinesen entgegenzuwirken, haben einige sozialistische Blätter kürzlich u. a. darauf verwiesen, dass die Morallehre der Chinesen sehr viel erhabener sei, als die des Christentums. Das mag richtig sein. Aber, worauf es heute ankommt, ist nicht die Morallehre, sondern die Moralpraxis der Chinesen, ihr Rechtswesen, ihre Verwaltungsmethoden, ihre sittlichen Gewohnheiten. Die Religion der Chinesen ist ursprünglich viel rationalistischer – man kann auch sagen: materialistischer – als die des Christentums. Aber doch besteht heute in China ein weit größerer und wüsterer Aberglaube, wie in den meisten Ländern, in denen offiziell das Christentum herrscht. Man kann der Chinahetze entgegentreten, auch wenn man anerkennt, dass die chinesische Kultur, so alt sie sein mag, und trotz mancher uns durch den Kontrast anmutenden Einzelheiten im Ganzen doch der europäischen Kultur gegenüber minderwertig ist. Sie ist zwar nicht absolut stationär es werden auch in China Fortschritte gemacht aber sie entwickelt sich unendlich langsamer, als die europäische Kultur, ist, an dieser gemessen, passiv, wie ja auch die wirtschaftlichen und politischen Erfolge der Chinesen in der Neuzeit auf wesentliche passiven Eigenschaften beruhen: Gefügigkeit, List, Nachahmung, Beharrlichkeit vermöge der Macht der Zahl.
Die chinesische Rasse dringt heute nicht durch das Mittel kühner Unternehmungen vor, sondern nur noch durch geschmeidiges Wahrnehmen sich darbietender Gelegenheiten. Sie breitet sich nicht durch planmäßiges friedliches Kolonisieren aus, sondern durch beharrliches Ersitzen von Positionen, in die ihre Angehörigen allmählich und sporadisch eingedrungen sind. Sie ist stark in den Tugenden der Hinfälligen und beschlagen in der Weisheit der Schwachen.
Es gibt eine ganze Reihe von Erklärungen für diese – um den Ausdruck zu wiederholen – passive Disposition einer Volksgemeinschaft, deren Angehörige der Intelligenz und physischen Kraft durchaus nicht ermangeln. Fast alle epochemachenden Erfindungen der Chinesen liegen Jahrhunderte weit in der Geschichte zurück, in den letzten Jahrhunderten haben sie in Bezug auf die Entwickelung der Technik außerordentlich wenig geleistet. Die – relative – Unfruchtbarkeit der chinesischen Kultur fällt fast chronologisch genau mit der vollendeten Durchführung des Regierungssystems der Mandschu zusammen, unter dessen Einfluß der Druck eines weitverzweigten parasitären Beamtentums dafür sorgte, dem chinesischen Volk die Lust zu Neuerungen immer wieder auszutreiben. Im Interesse der Erhaltung der Dynastie und ihres Systems wurde dem wirtschaftlichen Fortschritt systematisch der Boden entzogen, ihm das Wirkungsfeld geflissentlich verengert. Das ausgebildete Parzellensystem in der Landwirtschaft – die intensive Kultur von Zwergbauern – und ein zur äußersten Bedürfnislosigkeit heruntergebrachtes Lohnproletariat sind die angemessenen Begleiterscheinungen und wirksamsten Stützen dieses nicht expansiven oder sogar expansionsfeindlichen Imperialismus. Wäre die menschliche Arbeitskraft in China nicht so unmenschlich billig, so würde der technische Fortschritt wahrscheinlich doch die ihm durch die politische Gewalt und religiöse Einflüsse [3] gezogenen Schranken mit der Zeit durchbrochen haben. Aber es fehlte der Industrie in China mit der nötigen Bewegungsfreiheit nach oben und nach außen zugleich ein kräftiger Antrieb von unten.
Und hier kommen wir auf den Punkt, der uns zu unserem eigentlichen Thema, der modernen Kolonialpolitik, zurückführt.
Die Kolonisation ist, sofern sie erfolgreich ist, Ausdehnung eines Kultur- und Wirtschaftskreises. Hat die Sozialdemokratie, beziehungsweise die Arbeiterklasse derjenigen Länder, die man heute generell als Kulturländer bezeichnet, solche Ausdehnung zu wünschen?
Halten wir das Bild der Landwirtschaft fest, so hat die Erfahrung gezeigt, dass Parzellenbauern oder Landarbeiter, denen ein Fetzen Land überlassen wurde, diesem durch intensives Beackern Erträge entlockt haben, wie sie in gleicher Proportion zur Bodenfläche kein Großlandwirt erzielt, der mit den vorgeschrittensten Mitteln moderner Technik produziert. Und doch würde jene intensive Kleinkultur, die als Korrektiv und Ergänzung der Großwirtschaft von hohem Wert ist, wenn sie allgemein vorherrschte, die Gesamtentwicklung der Wirtschaft schwer benachteiligen, zu schweren Verlusten an Zeit und Arbeitskraft führen. Viele arbeitssparende Erfindungen würden nicht gemacht oder nicht angewendet werden, weil es an Antrieb und Spielraum für sie fehlte. Der Erfindergeist würde auf Kleinigkeiten beschränkt bleiben, zu kühnen Plänen der Spannkraft ermangeln. Ähnliches gilt aber auch in Industrie und Handel. Das chinesische Kunsthandwerk erzeugt Produkte, die durch die Feinheit der Ausführung selbst den blasiertesten Europäer Bewunderung ablocken. Aber diese Monumente unermüdlich peinlich-genauer Arbeit sind zugleich Monumente eines im Kleinlichen sich erschöpfenden, das Kleinliche vergötternden Geistes. Wie erbärmlich nimmt sich z. B., wenn man der Sache tiefer auf den Grund geht, trotz ihrer oft erstaunlich kunstfertigen Verschlingungen so eine chinesische Schnitzarbeit neben dem Getriebe eines modernen Walzwerkes aus.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Machen wir das geschichtliche Recht eines Volkes auf Expansion seiner Wirtschaft von ihrer unbedingten Notwendigkeit für seine materielle Existenz abhängig, so wird es in der Praxis stets zweifelhaft sein. Denn wann wäre es möglich, den zwingenden Beweis zu liefern, dass eine Wirtschaft nicht noch intensiver betrieben werden könnte? Das Maximum von intensiver Wirtschaft ist bisher noch niemals erreicht worden und wird auch hoffentlich nicht so bald erreicht werden. Es würde also immer möglich sein, durch Vervollkommnung von Organisation und Technik die Produktion einer gegebenen Wirtschaft zu steigern. Die Frage ist nur, ob nicht die wirtschaftliche Energie, wenn sie ausschließlich nach innen gerichtet ist, schließlich versimpeln und diese Versimpelung auch das übrige soziale Leben erfassen würde, wie wir dies in China vor uns sehen.
Ganz so arg kann es zum Glück in den Ländern europäischer Kultur nicht mehr werden, dazu ist ihr Wirtschafts- und Verkehrsleben schon viel zu international. Aber wo Tendenzen jener Art Geltung erhalten, wie sie seit Jahrhunderten in China vorherrschen, werden sich trotzdem ähnliche Wirkungen wie dort einstellen. Ein Beispiel dafür sind gewisse Erscheinungen in der sozialen Entwicklung Frankreichs, gegen welche die vorgeschrittenen Elemente dieses Landes mit so großer Energie ankämpfen. Frankreich bietet auf der anderen Seite das Beispiel der relativen Unfruchtbarkeit einer politischen Expansion, welche die wirtschaftliche Expansionskraft der Nation weit überschreitet.
Soll die politische Expansion wohltätig auf die eigene Nation zurückwirken, so muss sie zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit derselben im vernünftigen Verhältnis stehen. Auf eine erschlaffende handelspolitische Protektionswirtschaft lässt sich keine weitausgreifende Kolonialpolitik mit der Wirkung aufpfropfen, dass ein gesundes Gebilde daraus hervorgeht. Sicherlich sind Kolonien keine Geschäftsunternehmungen gewöhnlicher Art, und nichts ist daher lächerlicher, als den Wert von Kolonien für ein bestimmtes Land lediglich nach ihrer direkten Rentabilität für dessen Fiskus bemessen zu wollen. Ein gesundes Gemeinwesen muss und wird auch in der Lage sein, für weitschichtige Unternehmungen etwas à fonds perdu [4] auszugeben. Tut dies doch auch der moderne kapitalistische Unternehmer in seiner Art häufig genug, und was für ihn giltig, gilt sicher in weit höherem Masse für den Staat oder die Nation als Wirtschaftseinheiten. Die Frage der direkten fiskalischen Rentabilität ist hier durchaus nebensächlich. Aber auch die wichtigere Frage nach der handelspolitischen Rentabilität kolonialer Unternehmungen, nämlich nach der Größe ihres Handelsverkehrs mit dem Mutterlande, wird zuweilen sehr irrationell gestellt, indem man schon für eine verhältnismäßig frühe Zeit Große Erfolge in dieser Hinsicht verlangt und von ihrem Ausbleiben auf den Unwert der Kolonien für das Mutterland schließt. Das ist aber eine sehr kleinliche, man ist versucht zu sagen: chinesische Rechnungsweise. Kolonien, die nicht selbst schon eine relativ hochentwickelte Wirtschaft haben, zahlen sich stets nur erst nach langen Fristen. Die Frage ist vielmehr so zu stellen, ob ein zu ihren Kosten im Verhältnis stehender Nutzen der Kolonie für das Mutterland überhaupt vernünftigerweise zu erwarten ist, wobei man sich hüten muss, den Begriff des Nutzens zu engherzig auf den Überschuss an Geld- oder Geldeswert zu beschränken. Eine Kolonie kann von Wert für das Mutterland sein, auch wenn sie zur Expansion von dessen Wirtschaft direkt nur wenig beiträgt. Bedingung ist, dass sie die wirtschaftliche Energie der Nation nicht durch Ablenkung eines erheblichen Teils ihrer Kräfte ernsthaft beeinträchtigt.
Letzteres aber gerade ist es, was die gewaltigen Kolonialgründungen der Portugiesen, Spanier, Holländer in den ersten Jahrhunderten der kapitalistischen Ära taten. Sie gingen im Lauf verhältnismäßig kurzer Zeit weit über das Maß dessen hinaus, was der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der betreffenden Nationen entsprach. In einer Epoche, wo die Produktion sich noch sehr langsam entwickelte, mussten die Ansprüche, welche die Entwickelung und Erhaltung der riesenhaften Kolonialreiche an die kolonisierende Nation stellten, sehr bald die eigene wirtschaftliche Entwickelung dieser stören, mussten die Kolonien, statt, wie jedes Mal im Anfang, befruchtend, schließlich zerrüttend auf die letztere wirken.
Auf je höherer wirtschaftlicher Stufe aber das kolonisierende Land angelangt ist, umso mehr Kolonialbesitz kann es – wie der Vergleich zwischen dem industriell ziemlich unentwickelten Spanien des XVI. und dem manufakturreichen Holland des XVII. Jahrhunderts zeigt im Verhältnis zur eigenen Volkszahl vertragen und umso länger selbst ein Übermaß von solchem aushalten. Die lähmende Rückwirkung des letzteren tritt dann etwas später ein.
Aber sie bleibt dem mit Kolonien überlasteten Lande nicht erspart. England, das in der Reihe der großen Kolonialreiche zuletzt kam, konnte gerade deshalb auch ungleich mehr Kolonien verdauen, wie seine Vorgänger. In der Technik auf den Schultern dieser, insbesondere der Holländer, stehend, entwickelte es, unter der Rückwirkung seiner erweiterten Märkte, die Manufaktur zur großen Industrie, und, gestützt auf die damit verbundene enorme Ausdehnungsfähigkeit seines Wirtschaftsgebiets die Möglichkeit, Menschen und Kapital in großen Mengen zu exportieren, ohne die heimische Wirtschaft zu entkräften baute es das größte Kolonialreich auf, das die Welt noch gesehen hat, und blieb doch zugleich das erste Industrieland der Welt.
Wenigstens für eine lange Zeit. Es liegen aber eine ganze Reihe Anzeichen dafür vor, dass auch England am eigenen Leibe zu spüren haben wird und teilweise auch schon spürt, dass man nicht ungestraft über eine gewisse Grenze hinaus Kolonien besetzen kann. Hätte es nicht, durch seine Erfahrungen in den jetzigen Vereinigten Staaten gewitzigt, durch kluge Zugeständnisse denjenigen seiner Kolonien, die von einer starken weißen Bevölkerung bewohnt sind, den Antrieb zur Losreißung genommen, so würde sich die schädigende Rückwirkung seines übermäßigen Kolonialbesitzes schon früher gezeigt haben. Aber mit Kanada und Australien als sich selbstregierenden Kolonien, auf denen es nichts mehr niederzuhalten hat die Kapkolonie kommt, zur Zeit wenigstens, in eine andere Reihe kann es selbstverständlich mehr Kolonialbesitz bewältigen, als wenn es jene Riesengebiete auch noch zu verwalten hätte. Indes nimmt der Kolonialbesitz doch mehr von der Intelligenz und Tatkraft des Landes in Anspruch, als für seine wirtschaftliche Entwicklung vorteilhaft ist, so dass der ihm aus den Kolonien zuströmende Reichtum daheim nicht so befruchtend wirkt, als es der Fall wäre, wenn England weniger Kolonien zu schützen, zu verwalten und in Schach zu halten hätte. So wesentlich der Stand der Technik für die Volkswirtschaft ist, so bleibt doch deren wichtigstes Element stets der Mensch selbst.
Volkreicher, als Holland und Spanien, auf höherer wirtschaftlicher Entwicklung, als diese, stehend, konnte England einen ungleich stärkeren Abzug von menschlichen Arbeitskräften aller Art aushalten, als diese. Schließlich ist aber die Anspannung so stark geworden, dass seine internationale Führerschaft in der industriellen Entwicklung darüber in die Brüche zu gehen droht, ja zum Teil schon in die Brüche gegangen ist. Ist es nun auch weder nötig noch wünschenswert, dass ein bestimmtes Land in allen wichtigen Industrien die übrigen Länder überragt, so ist doch für ein so ungemein großes Kolonialreich das Zurückweichen von dieser Stelle geradezu ein Verhängnis. In dem Masse, als es in der technischen Leistungsfähigkeit hinter anderen Ländern zurücktritt, wird die Aufgabe, seinen Kolonialbesitz zu halten, immer schwerer, beginnt derselbe, ernsthaft als eine drückende Last empfunden zu werden und auf die Entwickelung des Heimatlandes hemmend einzuwirken. Das seiner Zeit mehr als eine Geistreichelei hingeworfene, wie ernsthaft gemeinte Wort Disraelis von den Kolonien als „Mühlsteinen um den Hals der Entwicklung des Mutterlandes“ wird dann zur furchtbaren Wahrheit. [5]
England ist politisch und sozial zu vorgeschritten, als dass sich die Rückwirkung des Drucks seiner Kolonialaufgaben in Form direkter Reaktion äußern könnte. Selbst in diesen Tagen imperialistischer Hochflut hat die Demokratisierung seiner Institutionen weitere Fortschritte zu verzeichnen. Aber wer genauer zusieht, wird bald entdecken, dass das Tempo seiner Reformbewegung sich mindestens relativ – im Verhältnis zu der anderen Ländern – verlangsamt, und solches Verlangsamen ist in seiner Wirkung ebenfalls Reaktion. Dabei ist noch zu bemerken, dass diese mittelbare oder relative Reaktion keineswegs Einrichtungen betrifft, welche in erster Reihe die Arbeiterklasse angehen. Nein, das Charakteristische ist vielmehr, dass auch vieles unterbleibt oder halb getan bleibt, woran die industrielle und kommerzielle Unternehmerschaft vor allem interessiert ist. Man denke nur an das Verkehrswesen, dessen wichtigster heimischer Zweig, die Eisenbahnen, in England noch immer Objekt der privaten Ausbeutung ist. Ferner das schwerfällige und kostspielige Rechtswesen, das geradezu nach Reform schreit. Sodann die Bodengesetzgebung, und noch vieles andere mehr. Der übergroße Kolonialbesitz bewirkt in den bürgerlichen Klassen eine Zersplitterung und Ablenkung der Interessen, die es zu keiner so starken Bewegung in diesen Fragen kommen lässt, dass sie dem Widerstand der jedes Mal in Betracht kommenden Sonderinteressen gewachsen wäre. Besonders kräftige und zentralisierte Industrien helfen sich gelegentlich auf ihre Weise selbst – siehe den Kanal von Manchester zum Meer, der die englische Baumwollindustrie in Stand setzt, sich gegen den Druck hoher Eisenbahntarife zu wehren. Aber andere leiden umso mehr unter dem Zurückbleiben nötiger Reformen in Gesetzgebung und Verwaltung.
Kurz, man kann heute auch von Englands Kolonialbesitz sagen: weniger wäre mehr. Aber es hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, den offenkundigsten Tatsachen ins Gesicht schlagen, wollte man unter Hinweis auf Einzelerscheinungen bestreiten, dass Englands Wirtschaft und damit auch seine ganze soziale Entwicklung aus seiner kolonialen Ausbreitung lange Zeit große Förderung erfahren, unter ihrer Rückwirkung den großen Zug erhalten haben, der sie zum Pionier auf dem Gebiete der bedeutsamsten technischen Umwälzungen und sozialpolitischen Neuerungen der letzten Jahrhunderte gemacht hat.
Es ist selbstverständlich, dass der wirtschaftliche Vorteil, den ein Land seinen Kolonialbesitz zieht, in erster Reihe denjenigen Klassen zugutekommt, die nach der sozialen Verfassung dieses Landes die Macht haben, die Mehrerträge seiner Wirtschaft an sich zu ziehen. Dies ist einer der Gründe, weshalb der wachsende Reichtum von Kolonialländern lange Zeit auf die handeltreibende Bourgeoisie und eine dünne Schicht von Beamten, Gewerbetreibenden und Arbeitern beschränkt bleiben, für andere Klassen aber mindestens relative, in gewissen Fällen sogar positive Verschlechterung ihrer Lage bedeuten konnte. Aus diesen Fällen aber zu folgern, dass das immer stattfinden müsse, heißt die großen Unterschiede ignorieren, die sich mittlerweile im Organismus der betreffenden Länder vollzogen haben. Bei ständischer Organisation der Gesellschaft, wie sie im XVI. und XVII. Jahrhundert fast überall in Europa vorherrschte, im XVIII. überwog und in der ersten Hälfte des XIX. noch stark nachwirkte, musste die Rückwirkung jeder Art von Kolonie auf das Mutterland eine andere sein, wie nach Aufhebung der Stände und seit der Erstarkung des Einflusses der arbeitenden Classen.
Welch großer Unterschied zwischen Kolonie und Kolonie besteht, je nachdem es sich um zur Ansiedlung von produzierenden Klassen des Mutterlandes geeignete Kolonien, um nur Plantagenwirtschaft gestattende und um reine Handels- und Verwaltungskolonien handelt, ist bekannt. Wenn ihr Nutzen indes ein sehr verschiedenartiger ist, so kann doch von keiner dieser Arten von Kolonien gesagt werden, dass sie notwendig für die Entwicklung des kolonisierenden Landes von Übel sein müssen. Das kommt stets auf die besonderen Umstände an.
Das Gleiche gilt von der Frage, wie die Kolonisierung beziehungsweise koloniale Besetzung von Landgebieten auf die schon vorhandene Bevölkerung dieser zurückwirkt. Die Geschichte der Kolonien ist so überreich an Gräueln gegenüber den Eingeborenen, die Europäer haben so lange auf den Kolonien Raubwirtschaft in jedem Sinne des Wortes getrieben, dass das Vorurteil, mit dem viele Sozialisten an die Kolonialfrage herantreten, durchaus verständlich ist. Aber dies Vorurteil, die Erinnerung an die Schandtaten, die im Namen der Zivilisation und Religion an Wilden, Halbwilden und Völkern verübt wurden, die schon eine ziemlich hohe Stufe der Zivilisation erreicht hatten, darf nicht blind dagegen machen, dass es auch eine andere Seite der Frage gibt. Wenn im Gebiet der Vereinigten Staaten, Kanadas, Südamerikas, gewisser Theile Australiens etc. heute mehr Millionen Menschen ihre Existenz finden, als ehedem Hunderttausende, so ist dies dem kolonisatorischen Vordringen der europäischen Zivilisation geschuldet. Wenn heute in England und anderwärts viele nahrhafte und würzige Erzeugnisse der Tropen in den Kreis der Genussmittel des Volkes eingegangen sind, wenn die Weidegründe Amerikas und Australiens das Fleisch, die weiten Felder dieser Erdteile das Brot von Millionen und Abermillionen europäischer Arbeiter verbilligen helfen, so verdanken wir dies kolonialen Unternehmungen. Ohne koloniales Vordringen unserer Wirtschaft würde das Elend, das wir heute in Europa noch vor uns sehen und auszurotten bestrebt sind, unendlich viel größer, die Aussicht auf seine Ausrottung bedeutend geringer sein, als dies jetzt der Fall ist. Selbst gegen das Schuldkonto der Kolonialgräuel gehalten, fällt der Vorteil, den die Kolonien gebracht haben, immer noch sehr tief in die Waagschale.
Damit sind jene Greuel keineswegs nachträglich gerechtfertigt. Denn die Vorteile der Kolonisierung konnten ohne sie erzielt werden. Ob ohne jeden Kampf, das ist freilich sehr zweifelhaft. Aber Kampf herrschte auch in den betreffenden Ländereien, ehe die Europäer ihren Fuß hinsetzten, und zwar oft ein sehr blutiger, grausamer, bis zur Vernichtung getriebener Kampf. Nicht, dass sie kämpften, sondern, wie sie kämpften, dass sie durch Vertragsbruch und übermäßig provozierendes Verfahren unnötige Kämpfe herbeiführten und als Sieger mit unnötiger Härte und empörender Rohheit verfuhren, ist der Vorwurf, den bis in die neueste Zeit hinein zahllose Kolonisierer auf sich geladen haben. Es ist kaum übertrieben, zu behaupten, dass bei einigermaßen taktvollen, ehrlichem, auf die Denkweise der Eingeborenen Rücksicht nehmendem Vorgehen neun Zehntel des Blutes, das in den Kolonien vergossen wurde, hätte erspart werden können. Es bleibt ein unverlöschbares Brandmal der Geschichte europäischer Kolonisation, dass sie in neun von zehn Fällen mit den Mitteln der Zivilisation und den Methoden ärgster Barbarei eingeleitet wurde. Die Nichtswürdigkeiten der räuberischen Kolonialeroberer mit dem späteren Nutzen der Kolonien entschuldigen, heißt das Andenken jener Kolonisatoren beleidigen, die, wie William Penn, mit anständigen Mitteln gleiche Fortschritte möglich gemacht haben.
Es ist nicht wahr, dass Kolonisieren notgedrungen Beraubung und Niedermetzelung von Eingeborenen heißt und unvermeidlich den moralischen und physischen Ruin der Naturvölker nach sich zieht. Wo in der Behandlung dieser humanen Grundsätze sich Bahn gebrochen haben, wie jetzt in Nordamerika, Neuseeland, Südafrika, ist auch dem Rückgang der eingeborenen Bevölkerung Einhalt geboten und sind in der Lage dieser erheblichen Verbesserungen erzielt worden. Die Grundsätze solcher vernünftigen und humanen Politik gegenüber den Eingeborenen systematisch zu entwickeln und überall mit Energie auf ihre Beobachtung zu dringen, das ist eine der vornehmsten Aufgaben der Sozialdemokratie mit Bezug auf die Kolonialfrage. Sich der Kolonialpolitik rein negierend entgegenstellen, heißt sich gegen eine Entwickelung stemmen, die heute tatsächlich unvermeidlich ist; die absolute Negation mit der Erklärung begründen, dass die Kolonialpolitik notgedrungen Raub und Mord bedeute, liefe, da die Kulturvölker viele Tropenprodukte gar nicht mehr entbehren können, praktisch auf Sanktionierung von Missbräuchen hinaus, die sehr wohl vermieden und verhindert werden können. Es wäre prinzipiell nichts anderes, als wollte man erklären, dass die moderne Großindustrie unvermeidlich mit all jenen Gräueln verbunden sei, mit denen sie seiner Zeit ins Leben trat, und dass daher die Arbeiterklasse, sofern sie nicht in der Lage sei, die vorhandenen Maschinen kurzerhand zu zertrümmern, ihre Mission darin zu erblicken habe, der Einführung neuer Maschinen jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen und im Übrigen sich auf den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorzubereiten.
Wie die Sozialdemokratie Auffassungen dieser Art weder in Theorie noch Praxis Folge gegeben hat, so geziemt es ihr auch, hinsichtlich der Kolonialpolitik allen romantisch-reaktionären Schrullen den Rücken zu kehren und die Probleme, die sie darbietet, im Geiste jener realistischen Kritik zu prüfen, auf Grund deren sie für die sozialistische Lehre das Beiwort wissenschaftlich reklamiert. Sache wissenschaftlicher Erkenntnis ist es, dass wirklich durch den Zusammenhang der Dinge unvermeidlich Gewordene von dem vermeidlichen zu trennen, und erst wenn diese wissenschaftliche Trennung vorgenommen ist, dann, aber mit umso größerer Kraft, tritt die Ethik in ihr Recht. Dann können und sollen wir auch den Wilden und Halbwilden gegenüber nach den Grundsätzen der Moral verfahren, wie sie Kant in unübertroffener Klarheit und Genauigkeit entwickelt hat, und deren für unsern Gegenstand wichtigstes sein drittes und höchstes Grundgesetz der Moral, ist: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. [6]
Im Übrigen ist die bewohnte und die bewohnbare Erde schon so weit unter die Kulturnationen teils als Kolonialbesitz, teils als Schutz- und Interessengebiet verteilt, dass für die Erwerbung neuer Kolonien so gut wie nichts übriggeblieben ist. Es kann sich da eigentlich nur noch um Übertragung der Herrschafts- oder Schutzherrschaftstitel von Kulturnation auf Kulturnation handeln. Soweit solche Übertragung auf friedlichem Wege erfolgt, wird die, Sozialdemokratie prinzipiell nichts gegen sie einzuwenden haben, sondern sich in jedem Lande nur das Recht der Prüfung des Übertragungsobjekts und der Übertragungsbedingungen vorbehalten. Aber es ist auch hier die Ära der gewaltsamen Eroberungen noch nicht vorüber. Die fieberhaften Rüstungen zur See, in denen sich die zivilisierten Nationen heute überbieten, haben mit der Kolonialpolitik dadurch Zusammenhang, dass sie der Ausdruck der Rivalität dieser Nationen hinsichtlich bestimmter Kolonien sind. Indes auch nur so weit. Für die Kolonien selbst bedarf es dieser enormen Verschleuderungen von Material und Arbeit durchaus nicht. Man kann deshalb den Marinechauvinismus sehr energisch bekämpfen, ohne darum notwendigerweise kolonialpolitischen Nihilismus treiben zu müssen.
Es ist dies umso eher möglich, als wir heute auf einem Punkt der Entwicklung angelangt sind, wo die Ausbildung und Aufrechterhaltung guter Handelsbeziehungen zwischen den vorgeschrittenen Nationen von unendlich größerem Wert für ihr wirtschaftliches Gedeihen, die Ausdehnung ihres Wirtschaftskreises ist, als der Erwerb der zwischen ihnen noch strittigen Kolonien oder Kolonisationsfähigen Gebiete, namentlich, wenn solcher Erwerb Krieg und Abbruch der Handelsverbindungen bedeutet. Im Handel mit den übrigen vorgeschrittenen Nationen liegt, wie die Handelsstatistik zeigt, für jede einzelne von ihnen das Hauptferment des extensiven Wachstums ihrer Wirtschaft. Der Handel mit den nicht schon völlig entwickelten und dem Streit der Nationen entrückten Kolonien fällt ihm gegenüber kaum ins Gewicht. Gerade von den heute noch umstrittenen Kolonien kann man sagen, dass ihr wirtschaftlicher Wert größtenteils Zukunftsmusik, und zwar meist Musik für eine noch ziemlich weit hinausliegende Zukunft ist. Deshalb ist es auch so überaus kindisch, zu meinen, es sei von den neueren Kolonialgründungen eine Verzögerung des sonst in Kürze bevorstehenden Zusammenbruchs des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu gewärtigen. Ein Blick auf die Produktionsziffern der großen Industrieländer und die Ein- und Ausfuhr jener Kolonien, auf den Bevölkerungszuwachs der ersteren und die Einwanderungsziffern der letzteren, zeigt das Absurde dieser Furcht, ganz abgesehen davon, dass der Sozialismus die Frucht sein wird nicht von Stillstand oder Rückgang, sondern von weiteren Fortschritten im Wirtschaftsleben der Völker.
Die Sozialdemokratie ist in der Lage, die neueren Kolonialprojekte ganz unbefangen auf ihren sachlichen Wert prüfen zu können. In Ländern, die nicht schon kolonial überlastet sind, gebietet ihr keine wirtschaftliche Rücksicht, solchen Kolonialvorschlägen Widerstand entgegenzusetzen, die sich wirklich als erfolgversprechend erweisen. Bedingung ist dabei, dass den Eingeborenen derjenige Schutz gesichert wird, auf den sie nach Maßgabe ihrer kulturellen Entwickelung und Bedürfnisse Anspruch haben. Es ist selbstverständlich, dass die Sozialdemokratie der natürliche Anwalt der Eingeborenen ist, die unter die Oberherrschaft oder Schutzherrschaft ihres Landes geraten. Ebenso selbstverständlich ist, dass die Zustimmung zu kolonialen Unternehmungen jedes Mal ein Akt des Vertrauens in die überwachende Oberinstanz (Regierung, Volksvertretung etc.) und davon abhängig zu machen ist, dass mit der Unternehmung keine Zwecke verbunden sind, die den Grundsätzen der Sozialdemokratie widersprechen.
Es hieße die Augen dem Lichte des Tages verschließen, wollten wir uns verheimlichen, dass heute hinter dem Kolonialeifer der Chauvinisten verschiedener Länder sich vielfach derartige Zwecke verbergen, dass es nicht Gründung, sondern Eroberung von Kolonien ist, was ihnen vorschwebt, und zwar Eroberung von Kolonien, die heute im Besitz anderer Nationen sind. Diesem Kolonialchauvinismus steht die Sozialdemokratie unbedingt feindselig gegenüber. Sein Ideal ist der Kolonialkrieg zwischen vorgeschrittenen Nationen, den um jeden Preis zu verhindern Pflicht und Selbstinteresse der Sozialdemokratie ist. Ich stimme daher prinzipiell durchaus denen bei, die den Kreuzzug wider den Kolonialchauvinismus predigen. Aber ich bin der Ansicht, dass dieser Kreuzzug zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, so lange dabei nicht zwischen solchen Bestrebungen nach kolonialer Ausdehnung des Wirtschaftskreises der eigenen Nation unterschieden wird, welche diese in keinen notwendigen Konflikt mit anderen Kulturvölkern bringen, und derjenigen Kolonialpolitik, die ihre Spitze gegen irgendeine der vorgeschrittenen Nationen der Kulturwelt richtet. Nur die letzteren erheischen grundsätzliche Bekämpfung. Denn wenn auch zugegeben werden kann, dass die Ungleichheiten in der Verteilung der Kolonien und der Kontrolle der Seewege heute in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem Wachstum der verschiedenen Nationen stehen, so ist doch mit umso größerer Schärfe zu betonen, dass, soweit diese Ungleichheiten wirkliche oder mögliche Benachteiligung der weniger günstig situierten Nationen bedeuten, sie durch konsequente Weiterentwicklung des internationalen Seerechts und internationaler Handels- etc. Verträge gehoben werden können, dass die angeblichen Nachteile aber zum Teil heute nur fiktiv sind. Was heute, wo keine Nation zur See oder sonst stark genug ist, der übrigen Kulturwelt ihren Willen aufzuzwingen, keine Aussicht hat, auf dem Wege friedlicher Verständigung erreicht zu werden, ist der Opfer nicht wert, die Kriege und diplomatische Ränke im Gefolge haben würden.
1. Es wäre hier am Orte, auf die Bedeutung des in unserer Literatur so viel gebrauchten, aber nirgends auch nur einigermaßen genau definierten Begriffs Ausbeutung etwas näher einzugehen. Die Rücksicht auf die Ökonomie des Artikels zwingt mich jedoch, diese Erörterung auf eine spätere Gelegenheit zu verschieben.
2. Wir sehen hier natürlich von Fällen ab, wo das Wort Kolonie im übertragenen Sinne gebraucht wird.
3. Der hochgradige Ahnenkult der Chinesen wirkt unzweifelhaft auch in der Wirtschaft als konservativer Faktor, wobei es ununtersucht bleiben mag, ob er nicht selbst wieder zu einem großen Teil seine Lebenskraft aus der wirtschaftlichen Stagnation des Landes zieht. Im Zusammenhang einer Entwicklungskette gibt es keine „reinen Ursachen“.
4. [„À fonds perdu“ ist ein französischer Ausdruck, der wörtlich „als verlorenes Kapital“ bedeutet und im Deutschen oft mit „als Zuschuss ohne Rückzahlungsverpflichtung“ oder „als Verlustbeitrag“ übersetzt wird. Im Kontext von Subventionen oder Förderungen bedeutet es, dass ein Beitrag ohne die Verpflichtung zur Rückzahlung gewährt wird.]
5. Der neueste Beweis dafür ist der Krieg mit den Transvaalboeren, der nur dann vermieden werden konnte, wenn sich die leitenden englischen Staatsmänner dazu entschlossen, den Besitz der Kapkolonie im Prinzip aufzugeben. Das Aufkommen einer neuen, wesentlich holländischen Macht in Südafrika trieb, bei dem Überwiegen des holländischen Elements in der Kapkolonie und den bekannten Aspirationen der Transvaalrepublik, mit unerbittlicher Konsequenz zu dieser Alternative. Welche Wunden aber dieser Krieg dem Sieger England geschlagen hat, lässt sich noch gar nicht absehen. Nur so viel ist sicher, dass sie die enormen direkten Kosten des Krieges bedeutend überschreiten.
6. [Der kategorische Imperativ ist für Immanuel Kant das grundlegende Prinzip moralischen Handelns: Um zu entscheiden, ob eine Handlung moralisch sei, soll geprüft werden, ob sie einer Maxime folgt, deren Gültigkeit für alle, jederzeit und ohne Ausnahme akzeptabel wäre, und ob alle betroffenen Personen nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt werden, sondern auch als Zweck an sich. Der kategorische Imperativ wird als Bestimmung des guten Willens von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgestellt und in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich entwickelt. Er lautet in einer seiner Grundformen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“]
Zuletzt aktualisiert am 12. Juli 2025