Rosa Luxemburg


Ermattung oder Kampf?


I

Ich komme infolge meiner mündlichen Agitation mit erheblicher Verspätung dazu, dem Genossen Kautsky zu antworten. [1] Wenn aber mein Artikel über den Massenstreik [2] und meine Agitation im April [3] auch nichts anderes erreicht bitten, als daß eine eingehende Diskussion über Probleme der Taktik in der Partei Platz gegriffen hat, daß das Verbot der Diskussion über den Massenstreik namentlich auch in unserem theoretischen Organ, der Neuen Zeit, durchbrochen ist, so könnte ich vollauf zufrieden sein. Es handelte sich nämlich in erster Linie darum, dem unbegreiflichen Versuch entgegenzutreten, eine öffentliche Diskussion in der Parteipresse über Fragen zu unterbinden, die das Interesse der weitesten Parteikreise aufs tiefste erregen. War doch mein Artikel über den Massenstreik nicht nur von unserem Zentralorgan Vorwärts, sondern auch von der Neuen Zeit, wo er zuerst akzeptiert und sogar schon gesetzt war, zuletzt aus dem Grunde abgelehnt worden, weil eine Diskussion über den Massenstreik in der Parteipresse nicht erwünscht wäre.

Das Verkehrte dieses Versuchs tritt erst dann im rechten Lichte hervor, wenn man in Betracht zieht, daß es sich durchaus nicht um eine vom Zaune gebrochene Diskussion, nicht um den Einfall einer einzelnen Person handelt, wie es der Genosse Kautsky hinstellt, indem er in seinem ganzen Artikel ausschließlich von mir und meiner Agitation spricht und seinen Artikel mit dem Satze beginnt: „Die Genossin Luxemburg hat durch einen Artikel in unserem Dortmunder Parteiorgan die Frage des Massenstreiks zur Diskussion gestellt.“ [4] Ehe ich noch überhaupt mit meinem Artikel hervorgetreten bin, war die Frage des Massenstreiks bereits in einer ganzen Reihe wichtiger Parteizentren und Parteiblätter auf die Tagesordnung gestellt. Die Genossen in Halle, der Hessen-Nassauische Agitationsbezirk hatten in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. Die Genossen in Königsberg, in Essen, in Breslau, in Bremen hatten beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik zu veranstalten. In Kiel und in Frankfurt a. M. waren ja bereits halbtägige Demonstrationsmassenstreiks [5] mit schönem Erfolg durchgeführt worden. Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband hatte in einer öffentlichen Versammlung in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, daß in den kommenden großen politischen Kämpfen den Bergarbeitern die führende Rolle zufallen würde; selbst unsere Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus hatten bereits mit dem Massenstreik gedroht. [6] Wie sehr die Erörterung des Massenstreiks einfach der Stimmung und dem Bedürfnis der großen Masse der Parteigenossen entsprach, beweist der Umstand, daß mein Artikel so ziemlich von der gesamten preußischen Parteipresse und noch von einigen Blättern außerhalb Preußens nachgedruckt worden ist, beweist ferner der Umstand, daß in den sechzehn großen Versammlungen, die ich im April in Schlesien, in Kiel, in Bremen, in Frankfurt a.M., im rheinisch-westfälischen Industriebezirk und am 1. Mai in Köln abgehalten habe, die Losung des Massenstreiks überall ohne Ausnahme die stürmischste Zustimmung fand. Nur noch eine Losung ruft jetzt in den Parteimassen in Deutschland – wie ich feststellen konnte – eine gleich stürmische Zustimmung hervor: es ist dies die scharfe Betonung unseres republikanischen Standpunktes, einer Losung, mit der man leider gleichfalls weder im Vorwärts noch in der Neuen Zeit an die Öffentlichkeit treten kann, während ein Teil unserer Provinzpresse – von der Dortmunder Arbeiterzeitung bis zur Breslauer Volkswacht – auch in dieser Beziehung ihre Schuldigkeit tut.

So besteht also in den breitesten Massen der Partei eine so starke Kampfstimmung, ein so entschlossener Wille, nötigenfalls durch Massendruck auf der Straße den begonnenen Wahlrechtskampf zum Siege zu führen, und ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland. Von dieser Stimmung im Lande ist nur ein Parteiblatt bis jetzt gänzlich unberührt geblieben – unser Zentralorgan, der Vorwärts, der bis auf den heutigen Tag nicht mit einer Silbe von der ganzen Massenstreikdebatte in der Parteipresse Notiz genommen hat, und eine Parteimitgliedschaft ist darüber in gänzlicher Unwissenheit – die Berliner Genossen, die ja durch den Vorwärts von der Stimmung und dem Geistesleben der Partei im Lande informiert werden sollen. Ja, das Zentralorgan geht in seiner strikten Befolgung der erhaltenen Direktive so eifrig zu Werke, daß es selbst aus Berichten über Versammlungen, die in Berlin abgehalten werden, jedes Wörtchen vom Massenstreik streicht; ist doch auch in der Einsendung, die der Vorwärts über die Massenversammlung in Frankfurt a. M. vom 17. April gebracht hatte – derselbe Bericht erschien offenbar „unredigiert“ in anderen Parteiblättern –, bezeichnenderweise der Satz: „Die Referentin löste mit der Propagierung des Massenstreiks stürmische Zustimmung der Versammelten aus“, sorgsam gestrichen worden. Aus dem Vorwärts schöpfte wohl auch der Genosse Kautsky seine Information über die Ansichten der Parteikreise im Lande, da er es für möglich hielt, unter solchen Umständen eine öffentliche Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, daß der Versuch gemacht wird, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks zu verbieten, und schon das jedesmalige Scheitern dieser Versuche bis jetzt hätte meines Erachtens das Zwecklose eines solchen Beginnens genügend dartun sollen. Der Kölner Gewerkschaftskongreß hatte ja im Jahre 1905 [7] die „Propagierung des Massenstreiks“ in Deutschland untersagt. [8] Die Vorkonferenz der deutschen Parteigenossen in Österreich vor dem Salzburger Parteitag im Jahre 1904 [9] hatte gleichfalls beschlossen, daß die Losung des Massenstreiks auf dem Parteitag nicht erörtert und nicht erwähnt werden solle. Beide Beschlüsse sind aber an dem einfachen Umstand gescheitert, daß die Sozialdemokratie keine Sekte ist, die aus einer Handvoll gehorsamer Schüler besteht, sondern eine Massenbewegung. in der Fragen, die sie im Innern erregen, so oder anders an die Öffentlichkeit treten müssen, ob man es will oder nicht.

Nicht der Versuch selbst, die Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden, ist es also, was im gegebenen Falle betrübend erscheint – dergleichen Verbote sind meines Erachtens eher mit heiterer Seelenruhe als mit Entrüstung aufzunehmen –, sondern die allgemeine Auffassung vom Massenstreik, die jenem Versuch zugrunde liegt. Hört man nämlich die Argumente, womit die Schädlichkeit einer öffentlichen Erörterung des Massenstreiks im gegenwärtigen Moment begründet wird, so könnte man glauben, die Lehren der russischen Revolution, der ganze reiche Schatz der Erfahrungen jener Periode, die für die Beurteilung des Massenstreiks und der proletarischen Kampftaktik überhaupt epochemachend war, seien spurlos vorübergegangen, und wir befinden uns noch in den schönen Zeiten der Debatten mit Domela Nieuwenhuis [10] und Cornelissen. [11]

Geschieht das – nämlich die Erörterung des Massenstreiks, sagt Genosse Kautsky – in der Öffentlichkeit, so ist das gleichbedeutend damit, daß man dem Gegner die schwachen Punkte der eigenen Position mitteilt. Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten. [12]

Der Massenstreik wäre demnach ein schlau ersonnener Coup, der vom „Kriegsrat“. der Sozialdemokratie – also etwa vom Parteivorstand und der Generalkommission der Gewerkschaften – im verschlossenen Stübchen geheim ausgeheckt und womit der Feind – hier die bürgerliche Gesellschaft – überrumpelt wird. Gegen diese Auffassung habe ich bereits im Jahre 1906 meine ganze im Auftrag der Hamburger Genossen geschriebene Broschüre über den Massenstreik [13] gerichtet, und ich kann nur wiederholen:

Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des „Propagierens“ das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen, rein anarchistischen Vorstellung aus, daß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen „beschlossen“ oder auch „verboten“ werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche „für alle Fälle“ zusammengeklappt bereithalten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann [14]

Auf die aus dieser Auffassung geborenen Befürchtungen des Genossen Kautsky, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks würde dem Feinde „die schwachen Punkte“ unserer Position verraten, kann ich nicht besser antworten als mit den Worten des Genossen Pannekoek, der die meisten schwachen Punkte der Kautskyschen Position bereits in der „Bremer Bürgerzeitung“ beleuchtet hat:

„Wie irreführend“ – schrieb Pannekoek – „dieser kriegstechnische Vergleich ist, beweist die Tatsache, daß die Partei nie etwas anderes getan hat, als vor der vollen Öffentlichkeit ihre starken und schwachen Punkte zu diskutieren. Das war nicht anders möglich, weil die Sozialdemokratie keine kleine geschlossene Gruppe, sondern eine Massenbewegung ist. Da ist mit geheimen Plänen nichts zu machen. Die Kraft und die Schwäche hängen hier von allgemeinen politischen und sozialen Verhältnissen ab, von denen nichts geheim zu halten ist, die durch Geheimhaltung nicht zu vergrößern oder zu verringern sind. Wie könnten wir da dem Feinde unsere Schwächen verraten? Er kennt sie so gut wie wir. Und wenn er sie nicht kennt, wenn er sich über unsere und seine Kraft einer Täuschung hingibt, so liegt auch dies in notwendigen historisch-sozialen Verhältnissen begründet, woran taktische Geheimhaltung nichts ändern kann.“

Aber Genosse Kautsky deutet noch andere schädliche Wirkungen einer öffentlichen Debatte an. „Ich würde es sehr Bedauern“ – schreibt er –, „wenn der Artikel der Genossin Luxemburg den Erfolg hätte, in der Parteipresse eine Diskussion zu entfachen, in der die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit eines Massenstreiks auseinander setzte. Sie mögen recht oder unrecht Haben, anfeuernd zur Aktion wirkt eine derartige Erörterung auf keinen Fall.“ [15] Dies ist nun ein Standpunkt, der mir vollkommen unbegreiflich ist, und den die Sozialdemokratie bis jetzt noch nie vertreten hat. Wir haben die „Anfeuerung zur Aktion“ noch nie durch Illusionen und durch Vertuschung des wahren Sachverhalts vor den Massen zu erzielen gesucht. Haben die Gegner des Massenstreiks mit ihren Gründen für die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion recht, so ist es durchaus heilsam und notwendig, daß wir ihre Gründe hören und ihnen beipflichten. Haben sie unrecht, so ist es eben heilsam und notwendig, daß ihre Gründe öffentlich als unstichhaltig erkannt werden. Die eingehendste Erörterung kann da nur von Nutzen sein und zur Selbstklärung der Partei beitragen, und auf die Schwächen unserer Bewegung aufmerksam machen, uns die dringendsten praktischen Aufgaben der Agitation oder Organisation vor die Augen führen.

Hatte aber Genosse Kautsky hier gar die Gefahr im Auge, daß durch meine schriftliche und mündliche Agitation die Gewerkschaftsführer auf den Plan gerufen und ihre großen Kanonen gegen die Idee des Massenstreiks auffahren würden, so lag in dieser Befürchtung meines Erachtens eine Überschätzung der Macht der Führer, die wieder nur durch die etwas mechanische Auffassung des Massenstreiks als eines vom „Generalstab“ ausgeheckten und kommandierten Überrumpelungsplans erklärt werden kann. In Wirklichkeit sind die Gewerkschaftsführer gar nicht imstande, eine Massenstreikbewegung zu unterbinden, wenn diese sich aus den Verhältnissen, aus der Zuspitzung des Kampfes, aus der Stimmung der proletarischen Massen ergibt. Treten in solchen Situationen die Gewerkschaftsführer gegen die Bestrebungen der Masse auf, dann ist es nicht um die Stimmung der Masse, sondern um die Autorität der Gewerkschaftsführer geschehen. Tatsächlich herrscht bereits jetzt eine so lebhafte Kampfstimmung in der Arbeiterschaft, daß das öffentliche Auftreten des gewerkschaftlichen Generalstabs im Sinne des Bremsens nichts anderes zur Folge gehabt hätte, als das Erwachen der Kritik und des Protestes in den eigenen Reihen der Gewerkschaftsgenossen. Im Interesse der „Anfeuerung zur Aktion“ konnte also nichts wünschenswerter sein, als daß die Gewerkschaftsführer endlich mit ihren „großen Kanonen“ auf dem Plane erschienen, damit man sich ihre Argumente bei Lichte besehen und damit konstatiert werden konnte, wie sehr die Führer in ihrem Fühlen und Denken hinter den Massen zurückgeblieben sind. Daß Genosse Kautsky den Gewerkschaftsführern diese peinliche Mühe abgenommen hat, indem er selbst sich zuerst gegen die öffentliche Diskussion sträubte und, als dies vergeblich war, öffentlich auftrat, um seinerseits als Theoretiker des Radikalismus die Gedanken und das Interesse vom Massenstreik auf die kommenden Reichstagswahlen [16] abzulenken, das wird sicher die lebhafte Genugtuung der Generalkommission der Gewerkschaften hervorgerufen haben, Ob es aber geeignet war, „anfeuernd auf die Aktion“ zu wirken, erscheint mir zweifelhaft.

Was hat also den Genossen Kautsky eigentlich veranlaßt, seinen Warnungsruf ertönen zu lassen? Welche Gefahren waren es, vor denen es die Partei zu retten galt? Dachte vielleicht irgend jemand daran, von heute auf morgen einen Massenstreik zu kommandieren, oder aber bestand die Gefahr, daß man in der Partei grundlose Illusionen in bezug auf die wundertätige Wirkung des Massenstreiks erweckte und damit die Massen leichtfertig in eine Aktion trieb, von der sie die Lösung aller Fragen mit einem Schlage erhoffen? Mir ist nichts Derartiges in den Versammlungen oder in der Presse bekannt geworden. Meinerseits ließ ich jedenfalls gar keine Zweifel nach dieser Hinsicht zu.

Ein aus der Pistole geschossener, durch einfaches Dekret der Partei eines schönen Morgens „gemachter“ Massenstreik – schrieb ich –, ist bloß kindische Phantasie, anarchistisches Hirngespinst. Ein Massenstreik aber, der sich nach einer monatelangen und an Dimensionen zunehmenden Demonstrationsbewegung gewaltiger Arbeitermassen ergibt, aus einer Situation, in der eine Dreimillionenpartei vor dem Dilemma steht: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen, ein solcher an dem inneren Bedürfnis und der Entschlossenheit der aufgerüttelten Massen und zugleich aus der zugespitzten politischen Situation geborener Massenstreik trägt seine Berechtigung wie die Gewähr seiner Wirksamkeit in sich selbst.

Freilich ist auch der Massenstreik nicht ein wundertätiges Mittel, das unter allen Umständen den Erfolg verbürgt. Namentlich darf der Massenstreik nicht als ein künstliches, sauber nach Vorschrift und nach Kommando anwendbares einmaliges, mechanisches Mittel des politischen Druckes betrachtet werden. Massenstreik ist bloß die äußere Form der Aktion, die ihre innere Entwicklung, ihre Logik, ihre Steigerung, ihre Konsequenzen hat, im engsten Zusammenhang mit der politischen Situation und ihrem weiteren Fortgang. Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber er ist ebenso sicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium. Und wenn der Weitere Verlauf, die Dauer, der unmittelbare Erfolg, ja die Kosten und die Opfer dieser Kampagne sich auch unmöglich mit dem Bleistift auf dem Papier im voraus, wie die Kostenrechnung einer Börsenoperation, aufzeichnen lassen, so gibt es nichtsdestoweniger Situationen, wo es politische Pflicht einer Partei, die Führerin von Millionen ist, mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärts treiben kann. [17]

Und zum Schlusse sagte ich ganz deutlich, worauf es meines Erachtens ankommt:

Dennoch darf keinesfalls erwartet werden, daß eines schönen Tages von der obersten Leitung der Bewegung, vom Parteivorstand und von der Generalkommission der Gewerkschaften, das „Kommando“ zum Massenstreik ergeht. Körperschaften, die eine Verantwortung für Millionen tragen, sind in ihren Entschlüssen, die doch andere ausführen müssen, von Hause aus naturgemäß zurückhaltend. Überdies kann der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse nur von der Masse selbst ausgehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des Kommunistischen Manifestes [18] hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, daß auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muß. Auch der Entschluß, den gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampf gemäß dem Worte des preußischen Parteitags „mit allen Mitteln“, also auch durch das Mittel des Massenstreiks zum Siege zu führen, kann nur durch die breitesten Parteischichten gefaßt werden. Es ist Sache der Partei- und Gewerkschaftsgenossen, in jeder Stadt und jedem Bezirk zu den Fragen der gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen und ihrer Meinung, ihrem Willen in klarer und offener Weise Ausdruck zu geben, damit die Meinung der organisierten Arbeitermasse als Ganzes sich Gehör verschaffen kann. Und ist das geschehen, dann werden auch unsere Führer sicher auf dem Posten sein, wie sie bis jetzt stets gewesen sind. [19]

Die Hauptsache also, worum es sich handelte, war, daß die Massen sich mit der Frage des Massenstreiks befassen und dazu Stellung nehmen. Ob ein Massenstreik möglich, angebracht, notwendig, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben. Das Auftreten des Genossen Kautsky dagegen erscheint nun gerade vom Standpunkt der Marxschen Auffassung merkwürdig. Genosse Kautsky selbst baut seine ganze Theorie von der „Ermattungsstrategie“ darauf, daß wir zwar nicht jetzt, aber nach den Reichstagswahlen im nächsten Jahre in die Zwangslage kommen können, den Massenstreik anzuwenden. Genosse Kautsky gibt ferner selbst zu, daß „irgendein plötzliches Ereignis, sagen wir ein Blutbad nach einer Straßendemonstration“ [20], den Massenstreik ganz spontan notwendig machen kann. Ja, er schreibt selbst zum Schlusse: „Seit dem Bestand des Deutschen Reiches waren die sozialen, politischen internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt – nichts leichter möglich als Überraschungen, die noch vor den nächsten Reichstagswahlen zu gewaltigen Entladungen und Katastrophen führen, in denen das Proletariat zum Aufgebot aller seiner Kräfte und Machtmittel hingerissen wird. Ein Massenstreik unter solchen Umständen könnte sehr wohl imstande sein, das bestehende Regime hinwegzufegen.“ [21]

Ist dem aber so, ist auch nur eine Möglichkeit vorhanden, daß der Massenstreik in nächster Zukunft in Deutschland in Anwendung kommt, dann ergibt es sich von selbst, daß es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor die Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken, damit die Arbeiterschaft nicht überrumpelt wird, damit sie nicht blindlings, nicht unter einem Affekt, sondern mit vollem Bewußtsein, in sicherem Gefühl der eigenen Kraft und in möglichst gewaltigen Massen in die Aktion eintritt. Die Masse selbst soll eben für alle politischen Eventualitäten reif sein und selbst ihre Aktionen bestimmen, nicht aber „im gegebenen Moment“ auf den Taktstock von oben warten, „vertrauend ihrem Magistrat, der fromm und hebend schützt den Staat durch huldreich hochwohlweises Walten“, während es der Parteimasse stets geziemt, „das Maul zu halten“. [22] Die Marxsche Auffassung besteht ja gerade in der Beachtung der Masse und ihres Bewußtseins als des bestimmenden Faktors bei allen politischen Aktionen der Sozialdemokratie. Im Geiste dieser Auffassung ist auch der politische Massenstreik – wie der ganze Kampf uni das Wahlrecht – schließlich doch nur ein Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation der breitesten Schichten des Proletariats. Wie man also an die Ausführung solcher Aktionen möglicherweise in der nächsten Zukunft denken und zugleich der Masse verbieten kann, sich mit diesem Problem zu befassen, als wenn es sich um das Spielen mit dem Feuer handelte, vor dem die Masse bewahrt werden müßte, ist gerade vom Standpunkt der Marxschen Lehre ganz rätselhaft, und alle moderne und antike Kriegsstrategie vermag dieses Rätsel nicht zu erklären.

Anmerkungen

1. Kautsky hatte in seinem Artikel Was nun? in der Neuen Zeit Rosa Luxemburgs Forderungen nach dem politischen Massenstreik und der demokratischen Republik zurückgewiesen

2. Rosa Luxemburg, Was weiter? in der Dortmunder Arbeiterzeitung, 14./15. März 1910, nachgedruckt in Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 289–299.

3. Zwischen dem 3. und 18. April 1910 hielt Rosa Luxemburg in Oberschlesien, Bremen, Kiel, Dortmund, Essen, Düsseldorf, Solingen, Barmen, Frankfurt (Main) und Hanau Vorträge über den politischen Massenstreik.

4. Karl Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 33.

5. Am 23. Februar gab es in Frankfurt einen halbtägigen politischen Streik für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen, an dem etwa 25.000 Arbeiter teilnahmen, in Kiel streikten am 15. März 10.000 Werftarbeiter für das gleiche Ziel.

6. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.

7. In der Quelle: 1906.

8. Auf dem Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln war eine Resolution angenommen worden, in der selbst die Diskussion über den politischen Massenstreik als verwerflich bezeichnet wurde.

9. Der Parteitag der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich fand in Salzburg vom 26. bis 29. September 1904 statt.

10. Unter Führung des holländischen Sozialdemokraten Domela Nieuwenhuis trat in der internationalen Arbeiterbewegung eine halbanarchistische Gruppe mit der Forderung auf, das proletariat solle auf jede Kriegserklärung mit einem Generalstreik antworten und den Wehrdienst verweigern. Auf dem internationalen Arbeiterkongreß in Brüssel im August 1891 waren diese Auffassungen von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten abgelehnt worden.

11. Christian Cornelissen vertrat die Idee vom Generalstreik als einzigen Mittel zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft. Durch den Sieg des Generalstreiks werde mit einem Schlag das Ende der kapitalistischen Ausbeutung herbeigeführt. Cornelissen verkannte die Notwendigkeit, besonders die Arbeiterklasse ideologisch und organisatorisch auf die Revolution vorzubereiten.

12. Karl Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 33.

13. Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 91–170.

14. ebenda, S. 98.

15. Karl Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 33.

16. Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

17. Rosa Luxemburg, Was weiter?, in Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 294/295.

18. „..., daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß“ stammt tatsächlich aus den von Marx verfaßten Provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation (K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 16, S. 14).

19. Rosa Luxemburg, Was weiter?, in Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 299. Hervorhebungen nur hier.

20. Karl Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 40.

21. ebenda, S. 80.

22. Heinrich Heine, Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen, in Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 2, Berlin 1962, S. 241.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012